Einleitung: Herausforderung und Zielsetzung
Wie Uwe in der Einleitung bereits gesagt hat, soll es heute den ganzen Tag über um das Thema „Stärken und Schwächen der charismatischen Bewegung“ gehen.
Ich bin mir bewusst, dass dies ein sehr heikles und auch herausforderndes Thema ist. Deshalb kann ich nur mit dem Bild „Furcht und Zittern“ sprechen, wenn es darum geht. Denn wir alle spüren unseren Mangel im geistlichen Leben sehr deutlich. Es ist sehr schwer, eine andere Gruppe oder Richtung geistlicher Strömung zu beurteilen, wenn man die eigenen Schwächen und Mängel nur zu gut kennt.
Trotzdem sind wir von der Bibel her dazu aufgerufen, dies zu tun – nicht in einem Geist des Verurteilens, aber sehr wohl in einer Haltung des demütigen Beurteilens. Das ist ein großer Unterschied: Ob wir pauschal verurteilen oder ob wir differenzieren und vorsichtig von der Bibel her beurteilen.
Das möchte ich mit der Hilfe des Herrn versuchen. Ich bin selbst felsenfest davon überzeugt, dass das Thema „charismatische Bewegung“ ein Lehrproblem ist. Es geht nicht um Stilfragen einer anderen Frömmigkeit oder einen anderen Frömmigkeitsstil, sondern um ein Lehrproblem.
Wir wollen heute versuchen, mit der Bibel, mit der Heiligen Schrift, an das Thema heranzugehen. Darum möchte ich die Botschaft in dieser Stunde quasi als grundlegenden Vortrag verwenden.
Deshalb wird der Vortrag jetzt nicht unbedingt den Charakter einer Predigt haben, wie man sie an einem Sonntag kennt, sondern eher den eines zweigeteilten Vortrags.
Im ersten Teil möchte ich gerne etwas Lehrmäßiges aus der Bibel entfalten, im zweiten Teil dann vielleicht auch etwas mehr Erbauliches sagen und anwenden.
Praktische Beispiele zur Bibelauslegung
Stellen Sie sich vor, Sie machen gerade Urlaub in England und wohnen bei einer christlichen Familie puritanischer Prägung. Die Puritaner waren eine Heiligungsbewegung vergangener Jahrhunderte, die das christliche Leben sehr ernst nahmen und großen Wert auf Heiligung legten.
Am Sonntagmorgen sitzen Sie dort am Frühstückstisch und bemerken plötzlich, dass an Ihrer Bluse ein Knopf fehlt. Sie haben es beim Ankleiden gar nicht bemerkt. Sie sagen zu Ihrem Gastgeber: „Ich habe gerade gemerkt, da fehlt mir ein Knopf. Ich gehe schnell auf mein Zimmer und nähe ihn wieder an.“
Daraufhin schaut der Hausvater Sie entsetzt an und zitiert aus 2. Mose 31,15: „Sechs Tage soll man seine Arbeit verrichten, aber am siebten Tag ist Sabbat, ein Tag völliger Ruhe, geheiligt dem Herrn. Jeder, der am Tag des Sabbats eine Arbeit verrichtet, muss getötet werden.“
Ein weiteres Beispiel: Sie bekommen am Arbeitsplatz in der Sommerhitze einen Schwächeanfall und müssen sich hinlegen. Ein gläubiger Arbeitskollege, der einer Pfingstgemeinde angehört, kommt zu Ihnen und fragt, ob er unter Handauflegung mit Ihnen um Heilung beten darf. Sie sind unsicher, doch er schlägt seine Bibel auf, die er mitführt, und liest Ihnen Markus 16,17-18 vor: „Die Zeichen aber werden denen folgen, die glauben; in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, sie werden in neuen Sprachen reden, Schlangen aufheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden. Schwachen werden sie die Hände auflegen, und sie werden sich wohl befinden.“
Ein drittes Beispiel: Sie fahren über eine Kreuzung, als es plötzlich kracht. Es entsteht erheblicher Sachschaden, doch glücklicherweise werden keine Menschen verletzt. Später stellt sich heraus, dass der Verursacher des Unfalls ein Mann aus dem Irak ist, ein Iraker aus der Stadt Babylon. Ihnen geht das Bibelwort aus Psalm 137,8-9 durch den Kopf: „Tochter Babel, du Verwüsterin, glücklich der, dem du vergilt dein Tun, das du uns angetan hast; glücklich der, der deine Kinder ergreift und sie am Felsen zerschmettert.“
Die Herausforderung der Bibelauslegung: Verbindlichkeit der Schrift
Ihr merkt, liebe Geschwister, ich habe drei Worte aus der Heiligen Schrift in den Beispielen zitiert. Nun stellt sich die Frage: Ist jeder dieser Verse Gottes Wort? Ja, ohne Zweifel. Jeder Vers in der Bibel, von 1. Mose 1,1 bis Offenbarung 22,21, ist Gottes Wort. Das hat Gott geredet, es ist inspiriert vom Heiligen Geist. Alle Schrift ist von Gott eingegeben, das ist alles Gottes Wort.
Jetzt kommt eine zweite Frage. Bitte genau hinhören: Ist jeder Vers der Bibel für uns Christen, die wir jetzt im Gemeindezeitalter leben, verbindlich? Die Antwort lautet: Nein, das haben die Beispiele eben gezeigt. Jeder Vers der Bibel ist Gottes Wort, aber wir müssen doch schauen und unterscheiden, in welcher Heilszeit dieses Wort gesagt ist und an wen es gerichtet ist – in welchem Zusammenhang, geschichtlich und auch heilsgeschichtlich.
Nun zur dritten Frage: Wie können wir dann erkennen, welche Aussage der Schrift für uns heute verbindlich ist und welche nicht? Wir brauchen quasi Schlüssel zum Bibelverständnis, zum Verständnis der Schrift.
Ich möchte jetzt einmal vier solche Schlüssel nennen. Man nennt sie hermeneutische Schlüssel, das muss sich niemand merken. Hermeneutik ist die Lehre von der Bibelauslegung. Es geht darum, wie ich die Bibel auslege, wie ich die Heilige Schrift verstehe und wie ich sie korrekt auslege. Das nennt man Hermeneutik. Und es gibt vier sogenannte hermeneutische Schlüssel.
Vier hermeneutische Schlüssel zur Bibelauslegung
Die Schrift erklärt sich selbst
Der erste Grundsatz lautet: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus. Das bedeutet, dass ich nicht unbedingt theologische Hilfsmittel für die geistlich korrekte Auslegung der Schrift benötige. Kommentare können hilfreich sein, und wir dürfen sie selbstverständlich verwenden. Doch grundsätzlich brauche ich weder Kommentare noch Auslegungsreihen, Wörterbücher oder Konkordanzen. All diese Dinge können unterstützen, aber der Grundsatz, der schon von den Reformatoren stammt, lautet: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus.
Im Grunde genügt die Schrift. Man kann ein Wort der Schrift mit einem anderen auslegen und vergleichen. Ein Wort der Bibel, das für uns vielleicht dunkler ist, wird von einem anderen, helleren Wort erklärt. Dieses Prinzip steht an erster Stelle: Die Heilige Schrift legt sich selbst aus.
Zweitens: Jesus Christus ist die Mitte der Heiligen Schrift. Wenn ich die Zirkelspitze woanders ansetze, wird alles schief. Wenn ich hier pauschal die Zeugen Jehovas oder die Siebenten-Tags-Adventisten erwähnt habe, dann will ich nicht sagen, dass es dort nicht großartige Menschen gibt, vor denen ich Hochachtung habe für ihre Lebensleistung. Aber wenn wir auf die Grundüberzeugungen ihrer Lehren schauen, muss ich sagen, trifft es leider zu, dass sie die Zirkelspitze anders angesetzt haben.
Die Zeugen Jehovas setzen die Mitte nicht bei Jesus Christus, sondern bei Jehova – wie ihr Name auch sagt. Die Siebenten-Tags-Adventisten, oft zeigt sich das schon im Namen der Gruppe, legen den Schwerpunkt auf den Sabbat, auf das Halten des Sabbats. Die Grundlehren dieser Richtung, auch wenn sie sich heute der evangelikalen Bewegung angenähert hat, besagen immer noch: Wer den Sabbat nicht hält, kann nicht errettet werden. Und wer wie wir an einem Sonntag zusammenkommt, trägt das Zeichen des Antichristen an seiner Stirn. Das wird einem nicht im ersten Gespräch gesagt, aber wenn man tiefer eindringt, wird diese Lehre offenbar.
Darum ist es ganz wichtig, dass wir die Zirkelspitze bei Jesus Christus und seinem vollbrachten Werk ansetzen. Das stand heute Morgen in der ersten Stunde im Mittelpunkt. Dafür haben wir gedankt, dafür haben wir die Zeichen von Brot und Wein, vom Kelch – das ist unsere Mitte.
Drittens: In der Heiligen Schrift finden wir eine fortschreitende Offenbarung. Von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22 – manche nennen das progressive Offenbarung, ein etwas missverständlicher Begriff. Besser sagen wir: fortschreitende Offenbarung. Das bedeutet, Gott hat nicht alle Lehren schon Adam, Noah oder Abraham gegeben. Auch Mose erhielt nicht auf einen Schlag alle Lehren. Gott hätte ja eine fertige Bibel vom Himmel fallen lassen können und sie Adam in die Hand geben können, mit Ehrfurcht gesagt. Aber das hat er nicht getan. Er hat eine fortschreitende Offenbarung geschenkt.
Zum Beispiel erhielt Abraham die Lehre von der Entrückung der Gemeinde noch nicht, sondern erst der Apostel Paulus. Auch Jesus selbst konnte seinen Jüngern vor Kreuzigung und Auferstehung bestimmte Wahrheiten noch nicht offenbaren. Er sagt ja: „Das könnt ihr jetzt noch nicht tragen, ihr könnt es noch nicht verstehen.“ Das war auch nach Kreuz und Auferstehung noch schwer genug. So finden wir eine fortschreitende Offenbarung in der Schrift.
Viertens: Der rote Faden, der sich durch die Bibel zieht, ist die Heilsgeschichte, die sich in verschiedene Heilszeiten untergliedert. Die Heilsgeschichte unterscheidet sich von der Weltgeschichte, die wir in bestimmten Lexika nachlesen können. Die Heilsgeschichte ist die Geschichte, die Gott mit seinen Menschen hat – von Adam angefangen, über all die, die wir bereits erwähnt haben, bis zur Offenbarung des Johannes, bis Gott seine großen Ziele erreicht hat.
In der Heilsgeschichte zieht sich ein roter Faden durch die Schrift, den man bei sorgfältigem Bibelstudium gut erkennen kann. Nicht nur Theologen, die viele Semester studiert haben, sondern jeder, der aufrichtig die Schrift studiert, kann das leicht erkennen.
Kommen wir zu den Heilszeiten der Heilsgeschichte, wie wir sie verstehen. Hierzu brauche ich eine zweite Folie. Über die Zahl dieser Heilszeiten sind sich nicht alle Christen einig. Es gibt sogar Christen, die nicht wahrhaben wollen, dass es überhaupt solche Heilszeiten gibt. Sie meinen, die ganze Bibel stehe von vorne bis hinten auf einer Ebene, und man könne jedes Wort der Bibel in jeder Zeit anwenden. Das habe ich vorhin in den Eingangsbeispielen versucht zu überzeichnen.
Ich bin jedoch überzeugt, dass die Bibel solche Heilszeiten unterscheidet. Mindestens zwei große Heilszeiten gibt es: Das Johannesevangelium spricht davon, dass das Gesetz durch Mose gegeben wurde, die Gnade und die Wahrheit aber durch Jesus Christus kamen. Hier haben wir in einem Vers bei Johannes zwei ganz entscheidende Heilszeiten oder Epochen: die Zeit des Gesetzes oder Israel im Alten Bund und die Zeit der Gnade, in der wir jetzt leben. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel.
Vor dem Gesetz muss mindestens eine weitere Heilszeit existiert haben, denn die Zeit des Gesetzes beginnt erst im zweiten Buch Mose. Davor haben wir das erste Buch Mose – da muss mindestens eine weitere Heilszeit existiert haben. Damit sind wir schon bei drei Heilszeiten.
Der Hebräerbrief spricht wörtlich vom kommenden Zeitalter, also sind wir mindestens bei vier Heilszeiten. John Nelson Darby war wohl der Erste, der von sieben Heilszeiten sprach. Auch im Pietismus, unter Johann Albrecht Bengel im 17. Jahrhundert, tauchten schon schemenhaft einige Heilszeiten auf. Doch John Nelson Darby und später Dr. Scofield sahen sieben Heilszeiten in der Schrift.
Das muss niemand glauben, und davon hängt unsere Seligkeit nicht ab – ob es genau sieben sind oder sechs oder acht. Manche finden vielleicht sogar zehn, wenn man weiter untergliedert. Aber ich glaube, es macht Sinn, sieben Heilszeiten oder Haushaltungen zu unterscheiden.
Zum Beispiel haben wir zuerst die Zeit der Unschuld, wie Erich Sauer sie geprägt hat: die Zeit von der Schöpfung Adams bis zum Sündenfall. Bevor der Fall in die Sünde geschah, könnte man sagen, war das eine Heilszeit, in der Gott auf eine bestimmte Weise mit dem Menschen umging und kommunizierte – vor dem Fall, bezogen auf Adam und Eva.
Dann nennt Scofield die Zeit des Gewissens: vom Sündenfall bis zum Ende der Flut. Warum Zeit des Gewissens? Weil es hier noch keine schriftliche Offenbarung gab, keine Gebote. Die Menschen hatten keine Gebote von Gott, aber sie hatten ein Gewissen. Von Anfang an hat jeder Mensch ein Gewissen, ein Mitwissen mit Gottes ewigen Moralgesetz, wie manche es nennen – mit dem, was gut und böse ist. Das hat jeder Mensch von Geburt an in sich, von Gott gegeben.
Dann die Zeit unter der Verwaltung durch den Menschen: Nach der Sintflut, ab Noah, ändert sich etwas. Wir sehen den Unterschied zum Beispiel darin, dass Gott zuvor, als Kain seinen Bruder Abel erschlug, ein Zeichen an Kains Stirn setzte, damit er nicht getötet würde (1. Mose 4,15). Nach der Flut jedoch führte Gott selbst die Todesstrafe ein und sagte: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden“ (1. Mose 9,6). Hier ändert sich etwas, Gott geht anders mit den Menschen um. Er führt neue Grundsätze ein im Laufe der fortschreitenden Offenbarung.
Viertens: die Zeit der Patriarchen, von Abraham und seiner Berufung bis zur Gesetzgebung am Sinai. Wir haben jetzt keine Zeit, darauf einzeln einzugehen, aber wenn wir diese Zeit genau anschauen, sehen wir, dass es im Grunde eine eigene Haushaltung ist, in der Gott auf besondere Weise mit den Vätern Abraham, Isaak und Jakob umging.
Fünftens: die Zeit des Gesetzes, von der Gesetzgebung am Sinai bis Pfingsten, dem damaligen Pfingsten in Jerusalem. Eine Heilszeit, in der das Volk Israel im besonderen Mittelpunkt des Handelns Gottes stand – sein erwähltes Volk des Alten Bundes.
Sechstens: die Zeit der Gnade beziehungsweise der Gemeinde, in der wir jetzt leben, seit Pfingsten. Seit der Geburtsstunde der Gemeinde Jesu Christi, des Leibes Christi hier auf der Erde, von Pfingsten bis zur Entrückung der Gemeinde, bis zur Hinwegnahme seines Leibes und zur Vereinigung mit ihm, dem Haupt. Das ist die Zeit der Gnade oder der Gemeinde, die sich vielleicht langsam dem Ende zuneigt. Wir gehen sicherlich auf die Entrückung der Gemeinde zu. Wann genau, weiß niemand, und wir sollten vorsichtig sein, wenn andere es berechnen.
Die Bibel sagt, dass eine weitere Zeit noch kommen wird, die heute noch in der Zukunft liegt: wenn sich Gott nach der Hinwegnahme der Gemeinde noch einmal seinem Volk Israel zuwenden wird. Das ist die Zeit des Königreichs oder des tausendjährigen Reichs, die Zeit der Herrschaft Christi hier auf der Erde, die nach Offenbarung 20 tausend Jahre dauern wird. So sehen es Scofield und viele andere, die es so in der Bibel erkennen.
Ich sage noch einmal: Wir müssen uns nicht verkämpfen, ob es genau sieben Heilszeiten sind. Es hängt davon ab, wie weit man einzelne Abschnitte untergliedert. Entscheidend ist, dass sich Gottes Wesen während all dieser Zeitabschnitte nie verändert hat. Gott ist und bleibt derselbe, das sagt uns die Bibel an vielen Stellen.
Gottes Wesen verändert sich nicht, aber seine Handlungsweise im Umgang mit den Menschen verändert sich im Lauf der verschiedenen Heilszeiten. Jede dieser Heilszeiten hat bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien, nach denen Gott dort handelt. Das kann ich jetzt nicht weiter ausführen.
Gottes Handeln innerhalb einer Haushaltung kann man vielleicht mit einem wirklichen Haushalt vergleichen. Stellen wir uns zum Beispiel Uwe und Sibylle vor. Sie sind im Moment noch zu zweit. Da ist schon etwas Drittes am Wachsen – nicht am Werden, es existiert schon –, aber sie sind noch zu zweit und haben einen bestimmten Umgang miteinander, eben als Ehepaar.
Kommt bald das erste Kind oder später noch weitere Kinder, dann verändert sich die Verhaltensweise der beiden im Umgang miteinander. Das soll nicht heißen, dass es sich negativ verändert, aber sie sind nicht mehr alleine im Haushalt. Die Kinder müssen mit einbezogen werden.
Reifen die Kinder heran, werden die Familienangelegenheiten erneut anders gehandhabt. Und wenn die Kinder eines Tages vielleicht aus dem Haus gehen, wird es wieder anders, wenn ein Ehepaar alleine zu Hause ist und die Kinder nicht mehr da sind.
Das ist ein schwaches Bild, ein schwacher Vergleich, aber so ähnlich möchte ich sagen ist es in den Haushaltungen Gottes mit der Menschheit. Sie verändern sich, sie sind dynamisch, nicht statisch.
Das Ganze, was wir jetzt theoretisch durchgenommen haben, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Dann wird es praktischer und auf unser Leben angewendet werden können.
Ich möchte zeigen, wie sich Gottes Handeln im Laufe der Heilsgeschichte verändert hat – am Beispiel des biblischen Segensbegriffs. Ein zentraler Begriff der biblischen Sprache ist das Wort „Segen“. Für uns alle ist es ein sehr gebräuchliches Wort. Ich habe nicht gezählt, wie oft es heute Morgen schon in der ersten Stunde gefallen ist, auch in den Gebeten. Es ist ein ganz zentraler Begriff in unserem Christenleben.
Aber das Verständnis dieses Begriffs „Segen“ hat sich im Lauf der Heilsgeschichte durch diese sieben Zeitalter hindurch verändert. Das hoffe ich gleich anschaulich zeigen zu können.
Wenn wir zum Beispiel zurückgehen in die erste Haushaltung und ganz am Anfang die Bibel aufschlagen bei 1. Mose 1,28, steht dort der uns allen bekannte Vers: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch und füllt die Erde.“ Es sollen Vermehrung und Fruchtbarkeit geschehen – das ist eng mit Segen verknüpft.
Nun möchte ich bitten, dass wir in 5. Mose Kapitel 7 gehen. Hier ist ein ganz wichtiger Abschnitt, aus dem wir lernen können, was alttestamentlicher Segen war. Schon an der ersten Stelle, wo das Wort Segen vorkommt (1. Mose 1,28), ist es eng mit Fruchtbarkeit verbunden.
In 5. Mose 7,11 heißt es: „So sollst du das Gebot und die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen halten, die ich dir heute befehle. Wenn ihr diese Rechtsbestimmungen gehorcht, bewahrt und tut, wird der Herr, dein Gott, dir den Bund und die Güte bewahren, die er deinen Vätern geschworen hat.“
Jetzt kommt das Wesentliche: „Er wird dich lieben, dich segnen und dich zahlreich werden lassen. Er wird die Frucht deines Leibes segnen – Fruchtbarkeit – und die Frucht deines Landes, dein Getreide, dein Most, dein Öl – Fruchtbarkeit. Den Wurf deiner Rinder und den Zuwachs deiner Schafe in dem Land, das er deinen Vätern geschworen hat, dir zu geben.“
Dann ein zweiter Punkt: „Gesegnet wirst du sein vor allen Völkern. Kein Unfruchtbarer und keine Unfruchtbare wird bei dir sein, noch bei deinem Vieh.“
Und der Herr wird jede Krankheit von dir abwenden – Gesundheit. Keine der bösen Seuchen Ägyptens, die du kennst, wird er auf dich legen, sondern er wird sie auf alle deine Hasser bringen.
Drittens: „Du wirst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott, dir preisgibt“ – Sieg über die Feinde.
Das ist alttestamentlicher Segen: Fruchtbarkeit, Gesundheit, Sieg über die Feinde. Es ist wichtig, dass wir das vom Alten Testament her erkennen. So war es bei Abraham, so war es im Volk Israel, so war es auch zur Zeit Hiobs.
Im Alten Testament war der Segen Gottes sichtbar und greifbar im Leben eines Menschen. Kurz gesagt: Fruchtbarkeit, viel Land, viele Kinder, Gesundheit und Sieg über die Feinde.
Nun wollen wir sehen, wie sich der Segensbegriff im Laufe der Bibel und dieser Haushaltungen verändert hat.
Zuerst bei Hiob: Hiob war nach alttestamentlichem Verständnis reich gesegnet. Er war vielleicht damals der reichste Mann im Nahen Osten, hatte viel Land, Vieh und zehn Kinder. Er war gesund und besaß keine Feinde.
Eines Tages verliert er alles. Die sogenannten Hiobsbotschafter kommen, und er verliert alles: Zuerst wird sein Land geraubt, sein Vieh und auch seine Kinder sterben an einem Tag.
Dann sitzt Hiob mit einer Scherbe in der Asche und schabt sich. Er hat den ganzen alttestamentlichen Segen verloren: Fruchtbarkeit ist weg, Gesundheit ist weg. Er wird von oben bis unten mit Geschwüren geschlagen. Seine Frau verliert er fast auch noch, die zu ihm sagt, er solle Gott verfluchen und sterben.
Er hat nur noch sein Leben und seine Beziehung zu Gott. Mehr nicht.
Aber in seinem schweren Verlust findet Hiob innerlich den Heil, der alles andere aufwiegt. In Kapitel 19, trotz der vielen Klagen und der Depression, durch die Hiob lange Zeit ging, dringt doch das helle Licht durch: „Ich weiß, mein Erlöser lebt.“
Hier taucht schon der neutestamentliche Segen auf, wenn ich es so sagen darf: sein Erlöserleben, Christus.
Hiob hat den alttestamentlichen Segen verloren, aber er findet im Bild gesprochen den neutestamentlichen Segen: Er weiß, dass sein Erlöser lebt, und er wird ihn schauen.
Später, am Ende seines Lebens, als er durch alle Lektionen gegangen ist, die Gott mit ihm gegangen ist, bekommt er alles von Gott zurückerstattet. Das ist für mich auch ein eindeutiger Hinweis auf das Volk Israel, das zuerst reich von Gott gesegnet war, dann alles verlor, jahrhundertelang wie Hiob in der Asche saß, von seinen Feinden verspottet wurde und am Ende doch wieder vollkommen hergestellt sein wird – Gottes Segensvolk im Reich der Tausend Jahre.
So sehen wir bei Hiob andeutungsweise den Wandel des Segensbegriffs.
Noch ein Beispiel aus dem Alten Testament: Im Psalm 73, den viele von uns kennen, haben wir Asaf, der in bestimmte Nöte gekommen ist. Vielleicht hat er rasende Schmerzen, Nierenkoliken – wenn man es wörtlich versteht, wie manche Ausleger sagen.
Nach alttestamentlichem Verständnis ist er ungesegnet, er ist krank. Aber dann betet er: „Dennoch bleibe ich stets an dir, wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet. So bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Am Ende von Psalm 73 hat dieses Bekenntnis viele Menschen getröstet.
Nach alttestamentlichem Verständnis war er ungesegnet, krank, aber innerlich reich gesegnet, weil er sich durchgerungen hat und weiß: Wenn ich alles verliere, den äußeren Segen, der sichtbar und greifbar ist, wird mir eines nicht genommen – meine Beziehung zu Gott.
Er ist und bleibt meines Herzens Trost und mein Teil, mein Eigentum.
Kommen wir jetzt zur Hauptwende im Blick auf den biblischen Segensbegriff, die am Kreuz von Golgatha geschah.
Als Jesus Christus angenagelt zwischen Himmel und Erde hing, war er nach alttestamentlichem Verständnis völlig ungesegnet. Warum? Er besaß weder Land noch Vieh noch Kinder – keine Fruchtbarkeit. Er war krank, alle unsere Krankheiten lagen auf ihm. Unter dem Kreuz standen seine Feinde und verhöhnten ihn.
Das ist genau das Gegenteil vom alttestamentlichen Segen aus 5. Mose 7: keine Fruchtbarkeit, keine Gesundheit, sondern Feinde.
Er war ungesegnet. Das Gegenteil von Segen ist Fluch.
Der Galaterbrief sagt uns, dass er der Verfluchte wurde dort am Kreuz. Er trug nicht zufällig eine Dornenkrone – Dornen sind in der Bibel das Symbol des Fluchs. Er wurde der Verfluchte.
Paulus schreibt: Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist (Galater 3,13). Er war völlig ungesegnet.
Aber gerade dort am Kreuz brachte der Herr Jesus den größten Segen, den es je gab: die Erlösung für alle Menschen auf dieser fluchbeladenen Erde.
Dort am Kreuz wandelt sich der Segensbegriff: Er, der Verfluchte, bringt den Segen, die Erlösung, auch wenn er dort hängt – völlig ungesegnet, ohne Land, ohne Vieh, ohne Kinder, geschlagen mit Krankheit und von Feinden verspottet.
Ich möchte noch einen letzten Schritt gehen in dieser Kette der Wandlung des Segensbegriffs.
Nach dem Tod unseres Herrn und seiner Auferstehung begann an Pfingsten eine neue Heilszeit: die Zeit der Gemeinde.
In dieser Haushaltung gilt jetzt nicht mehr dasselbe Segensverständnis wie zuvor in der Zeit des Gesetzes, wie wir es eben aus 5. Mose 7 gelesen haben – Fruchtbarkeit, Gesundheit und Sieg über die Feinde.
Der Apostel Paulus befindet sich in Gefangenschaft in Rom, äußerlich eine elende Situation. Doch er schreibt voller Freude an die Epheser: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus.“
Hier schreibt Paulus von einem ganz neuen Segen: geistliche Segnung in Christus.
Paulus ist gefangen gehalten in Rom, äußerlich ungesegnet nach alttestamentlichem Verständnis: Er hat weder Land noch Vieh noch Kinder. Er ist nicht mehr der Gesündeste, hat ein Augenleiden und viele Leiden durch Verfolgung. Er hat Feinde, die ihm nach dem Leben trachten. Deshalb ist er gefangen.
Er ist also alttestamentlich ungesegnet, aber geistlich „reich gesegnet in Christus“.
Im Epheserbrief entfaltet Paulus dann, was er unter geistlichem Segen versteht: erwählt, vor Grundlegung der Welt, begnadet in dem Geliebten, versiegelt mit dem Heiligen Geist und so weiter.
Indem wir langsam zum Schluss kommen, möchte ich an einer letzten Folie zeigen, dass es ganz entscheidend ist, den Unterschied zwischen der Haushaltung des Alten Testaments und der Haushaltung des Neuen Bundes zu sehen – in dem wir jetzt leben, im Zeitalter der Gemeinde, der Gnade.
Das sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel im Blick auf sichtbare und unsichtbare Bezüge.
Ich kann das nicht anders ausdrücken, aber ich werde es erklären.
Das Volk Israel stand als Ganzes unter sichtbaren Bezügen. In Israel waren fast alle Dinge sichtbar und greifbar, wie wir eben beim Segen gesehen haben.
Deshalb gab es viele Engelserscheinungen, und immer wieder Visionen im Zusammenhang mit Israel – sichtbare Bezüge.
Die Gemeinde Jesu Christi hat das Wort Gottes. Paulus schreibt: „Lasst das Wort Christi reichlich in euch wohnen.“
Wir werden nicht aufgefordert, nach Engelserscheinungen und Visionen zu trachten, sondern die Schrift mahnt uns in den Lehrbriefen, uns immer wieder am Wort zu orientieren und festzuhalten.
Das Volk Israel hatte eine sichtbare Heimat, das Land Israel, auf das ihr Herz gerichtet war. Ob sie in Ägypten waren oder in der babylonischen Gefangenschaft – das Land Israel war ihre sichtbare Heimat.
Wir haben eine unsichtbare Heimat. Paulus schreibt: „Unsere Heimat, wörtlich unser Bürgerrecht, ist im Himmel.“ Eigentlich würden wir es heute richtig übersetzen mit: „Unser erster Wohnsitz ist im Himmel.“ Ist das auch so? Können wir das wirklich sagen? Ja, unser erster Wohnsitz ist im Himmel. Darauf sind wir ausgerichtet, auch wenn wir in dieser Welt noch einen zweiten Wohnsitz haben, zum Beispiel in Karlsruhe.
Dann hatte das Volk Israel ein sichtbares Bundeszeichen: die Beschneidung. Das hatte Gott eingesetzt als sichtbares Zeichen, dass man zum Volk Gottes gehörte.
Wir haben ein unsichtbares Bundeszeichen: die Versiegelung durch den Heiligen Geist. Das kann man einem Menschen nicht ansehen.
Manche im Mittelalter meinten, sie müssten die Leute mit Heiligenschein malen. Aber wenn ich mich hier umschaue, sehe ich niemanden mit Heiligenschein – und das ist auch gut so.
Also: unsichtbares Bundeszeichen ist die Versiegelung mit dem Heiligen Geist in dem Augenblick, in dem wir gläubig werden. Der Heilige Geist nimmt Wohnung in uns, wir sind versiegelt.
Im Alten Testament gab es ein sichtbares Zentrum: den Tempel.
Heute haben wir einen unsichtbaren Tempel, und wir gehören dazu. Wir selbst sind ein solcher Tempel, aber natürlich nicht mit Augen erkennbar für andere Menschen, auch nicht für Nichtchristen.
Wir sind als Gemeinde ein unsichtbarer Tempel.
Der sichtbare Tempel in Jerusalem hatte sichtbare Mittler: die Hohenpriester und Priester. Aber vor allem den Hohenpriester.
Wir haben einen unsichtbaren Mittler: Christus.
Ihr seht also immer wieder sichtbare Bezüge in Israel und unsichtbare Bezüge heute in der Gemeinde.
Auch die Sündenvergebung war im Alten Testament sichtbar, zumindest teilweise. Der Betreffende musste seine Hände auf das Opfertier legen, und die Sünde wurde auf das unschuldige Tier übertragen, das dann getötet wurde – sichtbare Sündenvergebung.
Wir haben unsichtbare Reinigung durch das Blut Jesu Christi. Das kann man nicht sehen. Dabei ist keine sichtbare Handlung zu vollziehen. Das kann jemand anders für uns auf sakramentalem Weg vollziehen. Das ist unsichtbar.
Das Volk Israel hatte sichtbare Feinde: die Philister, Ägypter, Amalekiter – Länder, die um Israel herum lebten.
So ist es heute: Israel lebt auf einer Landfläche so groß wie der Schwarzwald, umgeben von einer fünfzigfachen Übermacht arabischer Menschen.
Sie haben sichtbare Feinde.
Wir als Christen sollten keine sichtbaren Feinde haben – weder die Russen, noch die Franzosen, noch die Engländer, noch den Nachbarn nebenan. So viel liegt an uns.
Unsichtbare Feinde haben wir aber, wie Paulus schreibt, nämlich böse Geister unter dem Himmel. Unsichtbare Bezüge gibt es bei der Gemeinde.
Und zuletzt: sichtbarer Segen – viel Land, viel Vieh, viele Kinder, also Fruchtbarkeit, Gesundheit und all diese Dinge – geistlicher Segen aber für uns in Christus nach Epheser 1,3.
Damit mich niemand missversteht, möchte ich noch einige Schlussfolgerungen sagen.
Zunächst erkennen wir daran: Am äußeren Wohlergehen kann ich heute nicht ablesen, ob jemand Christ ist oder nicht.
Es gibt Christen, die sind kerngesund, haben Erfolg im Beruf, keine Feinde, sind angesehen und geliebt.
Es gibt aber auch Nichtchristen, von denen man dasselbe sagen könnte.
Das kann man nicht mehr äußerlich ablesen, ob jemand Christ ist oder nicht.
Vor allem darf man nicht den gegenteiligen Schluss ziehen: Wenn jemand keinen Erfolg hat im Beruf, krank ist oder Probleme mit Menschen hat, ist er kein Christ oder nicht unter dem vollen Segen Gottes. Das wäre ein fataler Rückschluss, der nicht zulässig ist.
Jemand kann also reich, gesund und erfolgreich sein und dennoch unter Gottes Fluch stehen. Sein irdisches Glück steht auf tönernen Füßen, und wenn Gott ihn wegnimmt, geht er ewig verloren.
Mit unseren menschlichen Augen gesehen erfolgreich, gesund, fruchtbar – aber mit Gottes Augen unter dem Fluch.
Umgekehrt kann jemand hier sein, der mit Schmerzen, Gebrechen, Trauer und vielen inneren und äußeren Nöten kommt – und doch gesegnet sein, unter dem ganzen Segen Gottes in Christus.
Das ist das Tröstliche an dieser Botschaft.
Man kann Probleme haben, in der Führerscheinprüfung durchfallen, im Krankenhaus liegen, einen lieben Menschen verloren haben und doch gesegnet sein in Jesus Christus.
Weil der Friede Gottes im Herzen regiert.
Weil ich weiß: Mein Erlöser lebt. Er lebt in mir, hat Wohnung genommen in meinem Herzen. Ich gehöre ihm, bin mit ewiger Liebe geliebt. Er wird mich nie mehr loslassen. Er hat mich ohne Vor- und Gegenleistung angenommen und trägt mich durch.
Dieses Wissen, wenn es der tragende Grund im Leben eines Menschen ist, der Cantus firmus, in der Musiksprache gesprochen, bedeutet geistlichen Segen in Christus.
Wenn uns der Herr zusätzlich Gesundheit, Wohlergehen, vielleicht sogar beruflichen Erfolg und Ansehen bei Nichtchristen schenkt, dann ist das im Bild gesprochen die Sahne auf dem Kuchen.
Aber der Kuchen ist, dass ich gesegnet bin in Christus.
Gott kann eines Tages die Sahne wegnehmen, aber dann ist wichtig, dass der Kuchen noch da ist.
Der Kuchen lebt nicht von der Sahne. Man kann auch auf die Sahne verzichten.
Entscheidend ist, dass wir dieses felsenfeste Wissen im Herzen haben – möglichst jeder von uns, der hier ist.
Ich sage es noch einmal zum Schluss: Christus hat mich mit ewiger Liebe geliebt, hat mich angenommen und wird mich nie mehr loslassen.
Dieses Wissen trägt – damit kann man leben, damit kann man auch in Krisensituationen gehen und sie bewältigen.
So wollen wir unseren Weg weitergehen, an diesem geistlichen Segen in Christus festhalten und ihn vermehren, indem wir ihn weitergeben, einzeln und als Gemeinde.
Heilsgeschichte als roter Faden
Und den vierten hermeneutischen Schlüssel zur Bibelauslegung möchte ich nennen: Punkt D.
Der rote Faden, der sich durch die Bibel zieht, ist die Heilsgeschichte. Diese ist in verschiedene Heilszeiten untergliedert.
Wir unterscheiden zwischen Weltgeschichte, die man in bestimmten Lexika nachlesen kann, also der Welt- oder Profangeschichte, und der Heilsgeschichte. Letztere ist die Geschichte, die Gott mit seinen Menschen hat. Sie beginnt mit Adam und erstreckt sich über all jene, die wir bereits erwähnt haben, bis hin zur Offenbarung des Johannes, wo Gott seine großen Ziele erreicht.
In der Heilsgeschichte zieht sich ein roter Faden durch die Schrift, den man bei sorgsamem Bibelstudium gut erkennen kann. Das gelingt nicht nur Theologen, die viele Semester Theologie studiert haben, sondern jedem, der die Schrift aufrichtig studiert. So ist dieser rote Faden leicht zu erkennen.
Die Heilszeiten der Heilsgeschichte
Kommen wir also zu den Heilszeiten der Heilsgeschichte, wie wir sie verstehen. Dafür brauche ich eine zweite Folie.
Über die Zahl dieser Heilszeiten sind sich nicht alle Christen einig. Es gibt sogar Christen, die nicht einmal wahrhaben wollen, dass es überhaupt solche Heilszeiten gibt. Sie haben den Eindruck, die ganze Bibel stehe von vorne bis hinten auf einer Ebene. Man könne jedes Wort der Bibel nehmen und in jeder Zeit anwenden, so wie ich es vorhin in den Eingangsbeispielen versucht habe, ein wenig zu überzeichnen.
Ich bin jedoch überzeugt, dass die Bibel solche Heilszeiten unterscheidet. Wir haben mindestens zwei große Heilszeiten. Das Johannesevangelium spricht davon, dass das Gesetz durch Mose gegeben wurde, die Gnade und die Wahrheit aber durch Jesus Christus gekommen sind. Hier haben wir in einem Vers bei Johannes zwei ganz entscheidende Heilszeiten, Heilsabschnitte oder Epochen: die Zeit des Gesetzes oder Israels im Alten Testament, im Alten Bund, und die Zeit der Gnade, in der wir jetzt leben. Das sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel.
Vor dem Gesetz muss aber mindestens eine weitere Heilszeit existiert haben, denn die Zeit des Gesetzes beginnt erst im zweiten Buch Mose. Davor haben wir das erste Buch Mose, also muss mindestens eine weitere Heilszeit existiert haben. Damit sind wir schon bei drei Heilszeiten.
Dann spricht der Hebräerbrief wörtlich von dem kommenden Zeitalter. Also sind wir schon mindestens bei vier Heilszeiten.
John Nelson Darby war wohl der Erste, der von sieben Heilszeiten sprach. Auch im Pietismus unter Johann Albrecht Bengel im siebzehnten Jahrhundert tauchten schon schemenhaft einige Heilszeiten auf. Doch John Nelson Darby und später Doktor Scofield sahen sieben Heilszeiten in der Schrift.
Davon muss jetzt keiner überzeugt sein. Unsere Seligkeit hängt nicht davon ab, ob es genau sieben sind oder ob es sechs oder acht wären. Manche finden vielleicht sogar zehn, wenn man es weiter untergliedert. Aber ich glaube, es macht Sinn, sieben Heilszeiten oder Haushaltungen zu unterscheiden.
Die sieben Heilszeiten im Überblick
Da haben wir zum Beispiel zuerst die Zeit der Unschuld, wie wir das nennen. Erich Sauer hat diesen Begriff geprägt: die Zeit der Unschuld von der Schöpfung Adams bis zum Sündenfall.
Bevor der Fall in die Sünde geschah, könnten wir sagen, dass das eine Heilszeit war, in der Gott auf eine bestimmte Weise mit dem Menschen umging und kommunizierte. Diese Zeit bezog sich nur auf Adam und Eva – eben die Zeit der Unschuld.
Dann nennt Scofield die Zeit des Gewissens. Diese reicht vom Sündenfall bis zum Ende der Flut. Warum Zeit des Gewissens? Weil es damals noch keine schriftliche Offenbarung gab. Es gab keine Gebote in dieser Zeit. Die Menschen hatten noch keine Gebote von Gott, aber sie hatten ein Gewissen.
Von Anfang an hat jeder Mensch ein Gewissen, ein Mitwissen mit Gottes ewigem Moralgesetz, wie manche es nennen. Jeder Mensch trägt von Geburt an das Wissen um Gut und Böse in sich – von Gott gegeben.
Dann folgt die Zeit unter der Verwaltung durch den Menschen, nach der Sintflut, also ab Noah. Hier ändert sich etwas. Wir sehen den Unterschied zum Beispiel daran, dass Gott vorher, als Kain seinen Bruder Abel erschlug, ein Zeichen an Kains Stirn setzte, damit er nicht getötet würde. Kain bekam also ein Schutzzeichen. (1. Mose 4,15)
Nach der Flut jedoch führte Gott selbst die Todesstrafe ein. Er sagte: Wer Menschenblut vergießt, so wie Kain, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden. (1. Mose 9,6) Hier ändert sich also etwas. Gott geht anders mit den Menschen um und führt neue Grundsätze ein im Laufe der fortschreitenden Offenbarung.
Dann viertens die Zeit der Patriarchen, von Abraham und seiner Berufung bis zur Gesetzgebung am Sinai. Wir haben jetzt keine Zeit, hier einzeln darauf einzugehen, aber wenn wir diese Zeit genau betrachten, sehen wir, dass es im Grunde eine eigene Haushaltung ist. Gott ging auf bestimmte Weise mit den Vätern, mit den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, in besonderer Weise um.
Fünftens haben wir die Zeit des Gesetzes, von der Gesetzgebung am Sinai bis Pfingsten, dem damaligen Pfingsten in Jerusalem. Das ist eine Heilszeit, in der das Volk Israel im besonderen Mittelpunkt des Handelns Gottes stand – sein erwähltes Volk des alten Bundes. Von der Gesetzgebung am Sinai bis Pfingsten ist das also die Zeit des Gesetzes.
Dann kommen wir sechstens zur Zeit der Gnade beziehungsweise der Gemeinde, in der wir jetzt leben. Diese Zeit begann mit Pfingsten, der Geburtsstunde der Gemeinde Jesu Christi, des Leibes Christi hier auf der Erde. Sie dauert vom Pfingsten bis zur Entrückung der Gemeinde, also bis zur Hinwegnahme seines Leibes und zur Vereinigung mit ihm, dem Haupt.
Das ist die Zeit der Gnade oder die Zeit der Gemeinde, die sich vielleicht langsam dem Ende zuneigt. Wir gehen sicherlich auf die Entrückung der Gemeinde zu. Keiner weiß wann, und wir sollten nicht versuchen, das genau zu berechnen. Vorsicht ist geboten, wenn andere dies tun. Aber es ist die Zeit der Gnade und der Gemeinde, in der wir jetzt leben.
Die Bibel sagt, und ich erwähnte es bereits, dass noch eine weitere Zeit kommen wird, die heute noch in der Zukunft liegt. Nach der Hinwegnahme der Gemeinde wird sich Gott noch einmal seinem Volk Israel zuwenden. Das ist die Zeit des Königreichs oder des tausendjährigen Reichs, die Zeit der Herrschaft Christi hier auf der Erde. Nach Offenbarung 20 wird diese Zeit tausend Jahre dauern.
Das ist die Sicht von Scofield und vielen anderen, die das so übernommen haben und die es auch so in der Bibel sehen. Aber ich sage noch einmal: Wir müssen uns jetzt nicht darüber streiten, ob es genau sieben Heilszeiten sind. Es hängt davon ab, wie weit man einzelne Abschnitte noch untergliedert.
Was ich sagen möchte, ist, dass sich Gottes Wesen während all dieser Zeitabschnitte nie verändert hat. Gott ist und bleibt derselbe, das sagt uns die Bibel an vielen Stellen. Gottes Wesen verändert sich nicht, aber seine Handlungsweise im Umgang mit den Menschen verändert sich im Lauf der verschiedenen Heilszeiten.
Jede dieser Heilszeiten hat bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien, nach denen Gott dort handelt. Das kann ich jetzt nicht weiter ausführen.
Vergleich mit einem realen Haushalt als Bild für Gottes Haushaltungen
Gottes Handeln innerhalb einer Haushaltung kann vielleicht mit einem echten Haushalt verglichen werden.
Stellen wir uns Uwe und Sibylle vor. Im Moment sind sie noch zu zweit. Es ist jedoch schon etwas Drittes im Entstehen – nicht erst am Werden, sondern am Wachsen. Dieses Dritte existiert bereits, doch sie sind noch zu zweit und haben derzeit einen bestimmten Umgang miteinander, eben als Ehepaar.
Wenn bald das erste Kind oder später weitere Kinder kommen, verändert sich das Verhalten der beiden im Umgang miteinander. Das soll nicht heißen, dass sich alles negativ verändert, aber es verändert sich. Die beiden sind nicht mehr allein im Haushalt; es sind Kinder da, die mit einbezogen werden müssen.
Wenn die Kinder heranwachsen, werden die Familienangelegenheiten erneut anders gehandhabt. Und wenn die Kinder eines Tages vielleicht aus dem Haus gehen, ändert sich die Situation wieder. Dann ist das Ehepaar wieder allein zu Hause, ohne die Kinder.
Das ist ein schwaches Bild, ein schwacher Vergleich. Aber so ähnlich möchte ich sagen, ist es in den Haushaltungen Gottes mit der Menschheit. Sie verändern sich, sind dynamisch und nicht statisch.
Der Wandel des Segensbegriffs in der Heilsgeschichte
Und das Ganze, was wir jetzt wirklich in der Theorie durchgenommen haben, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Dann wird es praktischer und kann auf unser Leben angewendet werden.
Ich möchte zeigen, wie sich Gottes Handeln im Laufe der Heilsgeschichte verändert hat, am Beispiel des biblischen Segensbegriffs. Ein zentraler Begriff der biblischen Sprache ist das Wort „Segen“. Für uns alle ist es ein sehr häufig gebrauchtes Wort. Ich habe nicht gezählt, wie oft es heute Morgen schon gefallen ist – in der ersten Stunde und auch in den Gebeten. Das Wort „Segen“ ist ein ganz zentraler Begriff in unserem Christenleben.
Das Verständnis dieses Begriffes „Segen“ hat sich im Lauf der Heilsgeschichte durch die sieben Zeitalter hindurch verändert, wie ich hoffentlich gleich anschaulich zeigen kann. Wenn wir zum Beispiel zurückgehen in die erste Haushaltung und ganz am Anfang die Bibel aufschlagen, finden wir in 1. Mose 1,28 den uns allen bekannten Vers: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch und füllt die Erde.“ Es werden nicht immer 650 Prozent in fünfzig Jahren sein, aber es soll auf jeden Fall Vermehrung und Fruchtbarkeit geschehen. Ja, das kann auch so verstanden werden.
Dann möchte ich bitten, dass wir in 5. Mose Kapitel 7 gehen. Hier ist ein ganz wichtiger Abschnitt, in dem wir lernen können, was alttestamentlicher Segen war. Und das hat ganz entscheidend mit Fruchtbarkeit zu tun. Schon dort, wo das Wort „Segen“ zum ersten Mal vorkommt, also in 1. Mose 1,28, ist es eng mit Fruchtbarkeit verknüpft.
Jetzt lesen wir in 5. Mose 7,11: „So sollst du das Gebot und die Ordnungen und die Rechtsbestimmungen halten, die ich dir heute befehle. Und es wird geschehen, dass der Herr, dein Gott, dir den Bund und die Güte bewahren wird, die er deinen Vätern geschworen hat, wenn ihr diesen Rechtsbestimmungen gehorcht, sie bewahrt und tut.“
Jetzt kommt es, worauf es mir ankommt: „Und er wird dich lieben und dich segnen und dich zahlreich werden lassen. Er wird die Frucht deines Leibes segnen – Fruchtbarkeit – und die Frucht deines Landes, dein Getreide, deinen Most, dein Öl – Fruchtbarkeit. Den Wurf deiner Rinder und den Zuwachs deiner Schafe in dem Land, das er deinen Vätern geschworen hat, dir zu geben – Fruchtbarkeit.“
Jetzt kommt ein zweites: „Gesegnet wirst du sein vor allen Völkern. Kein Unfruchtbarer und keine Unfruchtbare wird bei dir sein, noch bei deinem Vieh.“
Und der Herr wird jede Krankheit von dir abwenden – Gesundheit. Das ist das Zweite des alttestamentlichen Segens: Fruchtbarkeit und Gesundheit.
„Und keine der bösen Seuchen Ägyptens, die du kennst, wird er auf dich legen, sondern er wird sie auf alle deine Hasser bringen.“
Und ein Drittes: „Und du wirst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott, dir preisgibt.“ Das bedeutet Sieg über die Feinde.
Das ist alttestamentlicher Segen: Fruchtbarkeit, Gesundheit und Sieg über die Feinde. Es ist ganz wichtig, dass wir das vom Alten Testament her erkennen. So war es bei Abraham, so war es beim Volk Israel, so war es auch zur Zeit Hiobs.
Im Alten Testament war der Segen Gottes sichtbar und in einem Menschenleben richtig greifbar. Auf eine Formel gebracht bedeutet das: Fruchtbarkeit, viel Land, viele Kinder, Gesundheit und Sieg über die Feinde.
Wandel des Segensbegriffs am Beispiel Hiob und Psalm 73
Nun wollen wir betrachten, wie sich der Segensbegriff im Verlauf der Bibel, im Laufe der verschiedenen Haushaltungen und Heilszeiten, allmählich verändert.
Zuerst sehen wir das bei Hiob. Hiob war nach alttestamentlichem Verständnis zunächst reich gesegnet. Er war vielleicht der reichste Mann im Nahen Osten seiner Zeit. Er besaß viel Land, viele Tiere und zehn Kinder – also Fruchtbarkeit. Außerdem war er gesund und hatte keine Feinde.
Eines Tages verliert Hiob jedoch alles. Die sogenannten Botschafter des Unglücks kommen, und er verliert zunächst sein Land, dann sein Vieh. Auch seine zehn Kinder sterben an einem einzigen Tag im Haus. Danach sitzt Hiob mit einer Scherbe in der Asche und schabt sich. Er hat den gesamten alttestamentlichen Segen verloren: seine Fruchtbarkeit ist weg, seine Gesundheit ist dahin. Er wird von Geschwüren von Kopf bis Fuß geplagt. Seine Frau verliert er ebenfalls, denn sie fordert ihn auf, Gott zu verfluchen und zu sterben.
Hiob hat alles verloren. Er besitzt nur noch sein Leben und seine Beziehung zu Gott. Mehr bleibt ihm nicht. Doch in diesem schweren Verlust findet Hiob innerlich langsam einen Heil, das alles andere übertrifft.
In Kapitel 19 durchdringt durch das Dunkel, durch die vielen Klagen und die lange Zeit der Depression ein helles Licht. Hiob sagt: „Ich weiß, mein Erlöser lebt.“ Hier erscheint bereits der neutestamentliche Segen, wenn man es so ausdrücken möchte – das Bewusstsein seines Erlösers, seines Christus. Hiob hat den alttestamentlichen Segen verloren, doch er findet im Bild gesprochen den neutestamentlichen Segen. Er weiß um seinen lebendigen Erlöser und dass er ihn sehen wird.
Später, am Ende seines Lebens, nachdem er alle Lektionen durchlaufen hat, die Gott mit ihm gegangen ist, bekommt Hiob alles von Gott zurückerstattet. Für mich ist das auch ein eindeutiger Hinweis auf das Volk Israel: Zuerst reich von Gott gesegnet, verliert es alles, sitzt jahrhundertelang wie Hiob in der Asche, wird von seinen Feinden verspottet, doch am Ende wird es vollkommen wiederhergestellt und Gottes Segensvolk im Reich der Tausend Jahre sein.
So sehen wir bei Hiob andeutungsweise den Wandel des Segensbegriffs.
Ein weiteres Beispiel aus dem Alten Testament ist Psalm 73, den viele von uns kennen, schätzen und lieben. Dort begegnet uns Asaf, der in große Nöte geraten ist. Vielleicht leidet er unter starken Schmerzen, möglicherweise Nierenkoliken, wie manche Ausleger vermuten. Nach alttestamentlichem Verständnis gilt er als ungesegnet, da er krank ist.
Doch er betet: Nach der Lutherübersetzung heißt es dort: „Dennoch bleibe ich stets an dir, wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch Gott allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“
Dieses Bekenntnis des Asaf hat unzählige Menschen getröstet. Nach alttestamentlichem Verständnis war er äußerlich ungesegnet und krank, doch innerlich war er reich gesegnet. Er hat sich durchgerungen und erkannt: Wenn ich alles verliere – wenn der äußere, sichtbare und greifbare alttestamentliche Segen mir genommen wird –, bleibt mir doch eines: meine Beziehung zu Gott, meinem Herrn. Er ist und bleibt meines Herzens Trost und mein Teil, mein Eigentum.
Die Hauptwende des Segensbegriffs am Kreuz
Kommen wir nun zur entscheidenden Wende im Verständnis des biblischen Segensbegriffs. Diese Wende geschah am Kreuz von Golgatha.
Als Jesus Christus angenagelt zwischen Himmel und Erde hing, war er nach alttestamentlichem Verständnis völlig ungesegnet. Warum? Er besaß weder Land noch Vieh noch Kinder. Es gab keine Fruchtbarkeit. Er war krank – alle unsere Krankheiten lagen auf ihm. Unter dem Kreuz standen seine Feinde und verhöhnten ihn.
Das ist genau das Gegenteil vom alttestamentlichen Segen, wie er in 5. Mose 7 beschrieben wird. Keine Fruchtbarkeit, keine Gesundheit, sondern Feinde. Er war ungesegnet. Das Gegenteil von Segen ist Fluch.
Der Galaterbrief sagt uns, dass Jesus der Verfluchte wurde, dort am Kreuz. Er trug nicht zufällig eine Dornenkrone. Dornen sind in der Bibel das Symbol des Fluches. Er wurde der Verfluchte. Paulus schreibt: Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, den wir nicht erfüllen konnten, indem er für uns ein Fluch geworden ist (Galater 3,13). Er war völlig ungesegnet.
Doch gerade dort, am Kreuz, brachte der Herr Jesus den größten Segen, den es überhaupt je gab: die Erlösung für alle Menschen auf dieser fluchbeladenen Erde.
Dort am Kreuz wandelt sich der Segensbegriff. Er, der Verfluchte, bringt den Segen, bringt die Erlösung – auch wenn er dort hängt, völlig ungesegnet, ohne Land, ohne Vieh, ohne Kinder, geschlagen mit Krankheit und von Feinden verspottet.
Neuer Segen in der Zeit der Gemeinde
Ich möchte noch einen letzten Schritt in der Entwicklung des Segensbegriffs gehen. Nach dem Tod unseres Herrn und seiner Auferstehung begann an Pfingsten eine neue Heilszeit, nämlich die Zeit der Gemeinde.
In dieser neuen Haushaltung gilt nun nicht mehr dasselbe Segensverständnis wie zuvor, in der Zeit des Gesetzes. Dort, wie wir eben aus 5. Mose 7 gelesen haben, bedeutete Segen vor allem Fruchtbarkeit, Gesundheit und Sieg über die Feinde.
Der Apostel Paulus befindet sich in Gefangenschaft in Rom – äußerlich betrachtet eine elende Situation. Dennoch schreibt er voller Freude an die Epheser: "Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus." Hier spricht Paulus von einem ganz neuen Segen, nämlich der geistlichen Segnung in Christus.
Paulus ist in Rom gefangen gehalten. Nach alttestamentlichem Verständnis ist er, als Jude, ungesegnet. Er besitzt weder Land noch Vieh oder Kinder. Außerdem ist er nicht mehr der gesündeste Mensch. Er leidet mindestens an einem Augenleiden und trägt viele Spuren der Verfolgung. Zudem hat er zahlreiche Feinde, die ihm wegen des Evangeliums nach dem Leben trachten und ihn deshalb gefangen halten.
Alttestamentlich betrachtet ist Paulus also ungesegnet. Doch geistlich ist er „reich gesegnet in Christus“. Dies führt er im Epheserbrief weiter aus. Er erklärt, was es bedeutet, geistlich gesegnet zu sein in Christus: erwählt, vor Grundlegung der Welt, begnadet im Geliebten, versiegelt mit dem Heiligen Geist und so weiter.
Der Epheserbrief entfaltet somit den geistlichen Segen in Christus.
Sichtbare und unsichtbare Bezüge im Alten und Neuen Bund
Und indem wir langsam zum Schluss kommen, möchte ich an einer letzten Folie zeigen, dass es ganz entscheidend ist, den Unterschied zwischen der Haushaltung des Alten Testaments und der Haushaltung des neuen Bundes zu erkennen. Wir leben jetzt im Zeitalter der Gemeinde, der Gnade. Diese beiden Haushaltungen sind im Hinblick auf sichtbare und unsichtbare Bezüge zwei ganz verschiedene Paar Stiefel. Ich kann das nicht anders ausdrücken, aber ich werde es gleich erklären.
Das Volk Israel stand als Ganzes unter sichtbaren Bezügen. In Israel waren fast alle Dinge sichtbar und greifbar, wie wir es eben beim Segen gesehen haben. Deshalb gab es in Israel viele Engelserscheinungen, und immer wieder kommen Visionen im Zusammenhang mit Israel vor – also sichtbare Bezüge. Die Gemeinde Jesu Christi hingegen hat das Wort, das Wort Gottes. Paulus schreibt: „Lasst das Wort Christi reichlich in euch wohnen.“ Wir werden nicht aufgefordert, nach Engelserscheinungen und Visionen zu trachten. Stattdessen mahnt uns die Schrift in den Lehrbriefen, die wir haben, uns immer wieder am Wort zu orientieren und daran festzuhalten.
Dann hatte das Volk Israel eine sichtbare Heimat: das Land Israel. Darauf war ihr Herz gerichtet. Als sie in Ägypten waren oder in der Gefangenschaft in Babylon, war das Land Israel ihre sichtbare Heimat. Wir hingegen haben eine unsichtbare Heimat. Der Apostel Paulus schreibt: „Unsere Heimat“, wörtlich „unser Bürgerrecht“ (politäumer). Eigentlich würden wir es heute richtig übersetzen mit „Unser erster Wohnsitz ist im Himmel.“ Ist das auch so? Können wir wirklich sagen: Unser erster Wohnsitz ist im Himmel? Darauf sind wir ausgerichtet, auch wenn wir in dieser Welt noch einen zweiten Wohnsitz haben, zum Beispiel in Karlsruhe, und wissen, woher wir kommen. Aber der erste ist im Himmel.
Das Volk Israel hatte ein sichtbares Bundeszeichen, nämlich die Beschneidung. Dieses Zeichen hatte Gott eingesetzt, um sichtbar zu machen, dass man zum Volk Gottes gehörte. Wir haben ein unsichtbares Bundeszeichen: die Versiegelung durch den Heiligen Geist. Das kann man einem Menschen nicht ansehen. Manche meinten im Mittelalter, sie müssten die Leute mit Heiligenschein auf Bildern malen. Ja, dann kann man es sehen oder soll es sehen. Aber wenn ich mich genau hier umsehe, sehe ich niemanden mit Heiligenschein. Das ist auch gut so. Also haben wir ein unsichtbares Bundeszeichen: die Versiegelung mit dem Heiligen Geist in dem Augenblick, in dem wir gläubig wurden. Der Heilige Geist hat Wohnung in uns genommen, und wir sind versiegelt.
Im Alten Testament gab es ein sichtbares Zentrum: den Tempel. Heute haben wir einen unsichtbaren Tempel, und zu diesem Tempel gehören wir. Wir selbst sind ein solcher Tempel, aber natürlich nicht mit Augen erkennbar für andere Menschen, erst recht nicht für Nichtchristen. Dennoch sind wir als Gemeinde ein unsichtbarer Tempel. Der sichtbare Tempel in Jerusalem hatte sichtbare Mittler: die Hohenpriester, Priester und so weiter, vor allem den Hohenpriester. Wir hingegen haben einen unsichtbaren Mittler: Christus.
Ihr seht also immer wieder sichtbare Bezüge in Israel und unsichtbare Bezüge heute in der Gemeinde. Auch die Sündenvergebung war im Alten Testament zum Teil sichtbar. Der Betreffende, der mit seinem Opfertier kam, musste seine Hände auf das Tier legen, damit seine Sünde auf das unschuldige Tier übertragen wurde. Dieses wurde dann getötet – sichtbare Sündenvergebung.
Wir haben dagegen eine unsichtbare Reinigung durch das Blut Jesu Christi. Das kann man nicht sehen, und es ist keine sichtbare Handlung zu vollziehen. Jemand anders kann das für uns auf sakramentalem Wege vollziehen, aber es bleibt unsichtbar.
Das Volk Israel hatte von Anfang an sichtbare Feinde. Solange es dieses Volk gibt, ist es ein Fremdkörper in dieser Welt. Alle erwähnten Gottesvölker sind Fremdkörper in dieser Welt – schon das Volk Israel, aber auch die Gemeinde Jesu Christi. Israel hatte sichtbare Feinde wie die Philister, Ägypter oder Amalekiter – Länder, die um Israel herum lebten. Und genauso ist es heute: Eine fünfzigfache Übermacht arabischer Menschen lebt rundherum um Israel auf einer Landfläche, die so groß ist wie der Schwarzwald, ein bisschen größer. Dieses kleine Volk ist von einer fünfzigfachen Feindesmacht umgeben.
Wir als Christen sollten jedoch keine sichtbaren Feinde haben – weder die Russen, noch die Franzosen, noch die Engländer, noch den Nachbarn von nebenan. Wir sollten keine sichtbaren Feinde haben, jedenfalls so viel, wie es an uns liegt. Unsichtbare Feinde haben wir aber, wie es der Apostel Paulus schreibt: böse Geister unter dem Himmel. So gibt es unsichtbare Bezüge bei der Gemeinde.
Und zum Schluss noch das, was wir eben entfaltet haben: sichtbarer Segen. Das wissen wir jetzt – viel Land, viel Vieh, viele Kinder, also Fruchtbarkeit, Gesundheit und all diese Dinge. Geistlicher Segen für uns in Christus nach Epheser 1,3.
Schlussfolgerungen zum äußeren Wohlergehen und geistlichem Segen
Damit mich niemand missversteht, möchte ich jetzt noch ein paar Dinge zu meinen Schlussfolgerungen sagen.
Zunächst erkennen wir daran, dass man am äußeren Wohlergehen heute nicht mehr ablesen kann, ob jemand Christ ist oder nicht. Es gibt Christen, die sind kerngesund, haben Erfolg im Beruf, keine Feinde und sind angesehen sowie geliebt. Es gibt aber auch Nichtchristen, von denen man dasselbe sagen könnte. Man kann also nicht mehr äußerlich erkennen, ob jemand Christ ist.
Vor allem darf man nicht den gegenteiligen Schluss ziehen, wenn jemand keinen Erfolg im Beruf hat, krank ist oder Probleme mit anderen Menschen hat. Daraus zu schließen, er sei kein Christ oder stehe nicht unter dem vollen Segen Gottes, wäre ein fataler Fehler, der einfach nicht zulässig ist.
Jemand kann also reich, gesund und erfolgreich sein und dennoch unter Gottes Fluch stehen. Sein irdisches Glück steht auf tönernen Füßen. Wenn Gott ihn wegnimmt, geht er ewig in den Feuersee. Mit unseren menschlichen Augen betrachtet, mag er erfolgreich, gesund und fruchtbar sein, doch mit Gottes Augen gesehen steht er unter dem Fluch.
Umgekehrt kann jemand mit Schmerzen, Gebrechen, Trauer und vielen inneren sowie äußeren Nöten hier sein und dennoch gesegnet sein – und zwar unter dem vollen Segen Gottes in Christus. Das ist das Tröstliche an dieser Botschaft.
Man kann also wirklich Probleme haben: In der Führerscheinprüfung durchgefallen sein, im Krankenhaus liegen oder einen lieben Menschen verloren haben – und bleibt doch gesegnet in Jesus Christus. Denn der Friede Gottes regiert im Herzen.
Ich weiß, mein Erlöser lebt, er lebt in mir, hat Wohnung genommen in meinem Herzen. Ich gehöre ihm, bin mit ewiger Liebe geliebt. Er wird mich nie mehr loslassen, hat mich ohne Vor- und Gegenleistung angenommen und trägt mich durch.
Dieses Wissen, wenn es der tragende Grund im Leben eines Menschen ist – der Cantus firmus, um es in musikalischer Sprache auszudrücken –, bedeutet geistlichen Segen in Christus.
Wenn uns der Herr dann zusätzlich Gesundheit, Wohlergehen, vielleicht sogar beruflichen Erfolg und Ansehen bei Nichtchristen oder Arbeitskollegen schenkt, ist das im Bild gesprochen die Sahne auf dem Kuchen.
Aber der Kuchen ist, dass ich in Christus gesegnet bin. Gott kann eines Tages die Sahne vom Kuchen nehmen, doch dann ist wichtig, dass der Kuchen noch da ist. Der Kuchen lebt nicht von der Sahne; man kann auch auf die Sahne verzichten.
Entscheidend ist, dass wir dieses felsenfeste Wissen im Herzen haben – möglichst jeder von uns, der hier ist.
Ich sage es noch einmal zum Schluss: Christus hat mich mit ewiger Liebe geliebt, er hat mich angenommen und wird mich nie mehr loslassen. Dieses Wissen trägt. Damit kann man leben und auch in Krisensituationen des Lebens gehen und sie bewältigen.
So wollen wir unseren Weg weitergehen, an diesem geistlichen Segen in Christus festhalten und ihn vermehren, indem wir ihn weitergeben – einzeln und auch als Gemeinde.