Der helle Schein
Der Halley kommt! So stand es seit Jahren in den Fachbüchern. Der Halley kommt! So redeten sich die Astronomen die Köpfe heiß. Der Halley kommt! So elektrisierte es Sterngucker aller Rassen und Nationen. Die Kometenbahn wird sich bis auf 31 Millionen Kilometern der Erde nähern. Der Kometenkopf wird sich in einer Helligkeit von m-2,5 präsentieren. Und der Kometenschweif wird sich in einer Prachtslänge von 40 Winkelgraden entfalten. Ein Himmelsspektakel erster Klasse. Sicher kam machen die alte Kometenfurcht an, die immer dann durch die Menschheit ging, wenn sich ein Besenstern ankündigte. Heimlich mag einer sogar dem Papst Calixtus III. nachgebetet haben, der im 15. Jahrhundert rief: "O Herr, mögest Du uns vor dem Türken schützen, dem Teufel und dem Kometen." Aber in den meisten überwog die gespannte Erwartung auf den hellen Schein in der dunklen Nacht. Dass man keiner astrologischen Ente aufgesessen war, bewies die Planetaraufnahme zweier amerikanischer Forscher aus dem Jahre 1982, die ihnen mithilfe des Palomar-Spiegels gelungen war: ein winziges Lichtpünktchen in einer Entfernung von mehr als 1,6 Milliarden Kilometer wurde eindeutig als der Halley'sche Komet identifiziert. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Der Halley kommt. Sein Licht wird immer stärker. Niemand kann diesen herrlichen Stern übersehen. Und dann bewaffneten sie sich mit Feldstecher und Himmelsfernrohren. Und dann zogen sie hinaus. Und dann suchten sie mit unendlicher Akribie den ganzen Sternenraum ab. Wenige Glückliche machten ihn sogar ausfindig, aber von Spektakel keine Spur: so klein wie ein Nadelspitze, so schwach wie eine Glimmleuchte, so bescheiden wie ein Fixsternchen, ja sogar ohne Schweif, der ihm anscheinend im Weltenraum abhandengekommen war. Das Dunkel wurde nicht erhellt. Die Nacht wurde nicht vertrieben. Die Finsternis wurde nicht ausgespielt. Die astronomische Erwartung war ein Flop, sagte mir ein enttäuschter Hobbyastronom, der sein Glas wegsteckte: Der Halley hat’s nicht gebracht.
Liebe Freunde, Gott sei Dank war die theologische Erwartung kein Flop. Wir müssen nichts enttäuscht wegstecken. Weihnachten hat’s gebracht. Der Herr kommt! So stand es seit Jahrhunderten in den Prophetenbüchern. Der Herr kommt! So redeten sich Gottesgelehrte die Köpfe heiß. Der Herr kommt! So elektrisiert es die Gläubigen aller Rassen und Nationen. Der Messias wird sich bis auf Tuchfühlung den Menschen nähern. Der Messias wird sich in einer unvorstellbaren Helligkeit präsentieren. Der Messias wird sich in einer einmaligen Pracht entfalten: ein Himmelswunder erster Klasse. Sicher kam manchen die alte Messiasfurcht an, die immer dann in die Menschen fuhr, wenn sich der Advent ankündigte. Heimlich mag einer das Büchlein Joel nachbuchstabiert haben: "O wehe des Tages, der Tag des Herrn ist ein finsterer Tag, ein wolkiger Tag, ein nebliger Tag." Aber in den meisten überwog die gespannte Erwartung auf den hellen Schein in der dunklen Nacht. Dass man keiner theologischen Ente aufgesessen war, bewiesen Menschen wie Simeon und Hanna, die täglich im Tempel auf den Trost Israels warteten. Es gab gar keinen Zweifel mehr: Der Herr kommt. Sein Licht wird immer stärker. Niemand kann diesen herrlichen Herrn übersehen. Und dann zogen die Hirten los. Und dann ritten die Weisen durch die Wüste. Und dann hängten es die Apostel per Post an die große Glocke: Das Licht brennt. Das Licht leuchtet. Das Licht scheint in die Finsternis. Der Gott, der schon einmal den Kosmos mit Sonne, Mond und Sternen illuminiert hat, der hat jetzt mit Jesus einen hellen Schein gegeben. Das Dunkel des Zweifels wurde erhellt. Die Nacht der Angst wurde vertrieben. Die Finsternis der Sünde wurde ausgespielt. Seit Weihnachten liegt die Welt im Morgenglanz der Ewigkeit und der Herrlichkeit Gottes. Nur, das ist die Frage, wo ist das Licht zu sehen? Nur, das ist das Problem, wo ist der helle Schein zu entdecken? Nur, das ist die Not, wo ist die Herrlichkeit Gottes auszumachen? Schauen wir zuerst mit unserem Auge, also
Der Mensch Paulus bietet sich als Beispiel an. Er ist ja alles andere als ein glänzender Typ. In Korinth steht er keineswegs als der blendende Strahlemann im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Von Saulus Paulus Superstar kann gar keine Rede sein. Ich bin bedrängt, wenn ich an meine Gesundheit denke, sagt er, seit Jahren laufe ich mit Schmerzen herum. Niemand kann mir diese Qualen abnehmen. Der Dienst als hinkender Bote wird immer schwerer. Ich bin bedrückt, wenn ich an meinen Beruf denke. Die Wege werden immer wieder durchkreuzt. Aus den Synagogen fliege ich im hohen Bogen hinaus. Paulus du spinnst! sagen sie mir ins Gesicht. Ich bin verfolgt, wenn ich an meine Feinde denke. Mit Haftbefehlen sind sie schnell bei der Hand. Viel Zellen habe ich von innen gesehen. An allen Vieren ziehen sie mich in den Stock. Ich bin am Boden, wenn ich an mein Leben denke. Ausgelaugt haben sie mich, niedergeschrien, zusammengeboxt. Nein, ein Schmuckkästchen bin ich wahrlich nicht, auch keine Goldvitrine oder Siegervase, sondern nur ein irdenes Gefäß, ein Tonkrug mit Macken und Sprüngen, eine Lehmschüssel.
Liebe Gemeinde, das Licht ist hinter unserer Gebrechlichkeit versteckt. Der helle Schein ist mit unserer Armseligkeit verpackt. Die Herrlichkeit ist unter unserer Sterblichkeit verborgen: Wir haben diesen Schatz in irdenem Gefäß. Paulus bürstet mit diesem Satz gegen den Strich. Wir würden als Christen gerne etwas sein, so wie Meißner Porzellan auf der Tafel der Welt. Wir würden als Christen gerne etwas gelten, so wie böhmisches Kristall in den Schränken der Höfe. Wir würden als Christen gerne funkeln, so wie ein Rubin am Finger des Reichen. Aber so wenig ein Paulus und Petrus, Johannes und Jakobus, Matthäus und Andreas, ja Jesus selbst geglänzt und gefunkelt hat, so wenig wird es bei uns mit dieser falschen Sehnsucht etwas werden. Über einen irdenen Leib kommen wir nicht hinaus. Mit unseren Macken und Sprüngen haben wir zu leben. Mehr als ein Billiggeschirr sind wir nicht. Es ist nämlich unseres Gottes Eigenart, sich im Schwachen und Niedrigen, Unangesehenen und Unansehnlichen zu offenbaren. Deshalb wundern Sie sich nicht, wenn Sie auch bedrängt sind und gesundheitlich an der ganz kurzen Leine laufen müssen; schon so viel Ärzte haben ihre Kunst versucht, aber keinen Durchbruch geschafft; die Schmerzen bohren Tag und Nacht. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie auch bedrückt sind, beruflich keinen klaren Weg sehen; schon so viel Anläufe wurden gemacht, aber kein Erfolg erzielt; die Sorgen gehen einem nicht aus dem Sinn. Wunden Sie sich nicht, wenn Sie auch am Boden sind und am Leben verzweifeln wollen; schon so viel Schritte wurden unternommen, aber alles führte zu keinem Ziel; die Fragen treiben einen ständig um. Wundern Sie sich nicht. Sehen Sie vielmehr in Bedrängnis und Bedrückung die Risse am irdenen Gefäß. Sehen Sie vielmehr in Verfolgung und Verzweiflung die Macken am irdenen Leib. Sehen Sie vielmehr mit dem Auge unsere ganze Erbärmlichkeit als den Behälter seiner Herrlichkeit. Um dies aber wirklich erkennen zu können, müssen wir mit unserem Herzen schauen.
Der Apostel Paulus bietet sich wieder als Beispiel an. Er schreibt diese Verse unter dem nachhaltigen Eindruck eines biographischen Datums. Vor Damaskus wurde er vom hohen Ross heruntergeholt. Er meinte bis dahin fest in Sattel der Rechtgläubigkeit zu sitzen. Aber dann schlug er hart auf dem Boden der Tatsachen auf. Paulus war wie weggetreten. Um ihn herum wurde es stockfinster. Mit seinem Auge sah er keinen Schimmer mehr, aber Gott hat einen hellen Schein in sein Herz gegeben. Nun sah er das, was er vorher nicht sehen konnte, nämlich die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu. Im buchstäblichen Sinn ging ihm ein Licht auf und er erkannte, dass es gar keine Nacht gibt, die nicht durch dieses Licht erhellt werden könnte. Ich bin bedrängt, wenn ich an meine Gesundheit denke, sagt er, aber ich ängstige mich nicht. Es gibt keine Krankheit, die er nicht kennt. Ich bin bedrückt, wenn ich an meinen Beruf denke, aber ich verzage nicht. Es gibt keinen Weg, den er nicht mitgeht. Ich bin verfolgt, wenn ich an meine Feinde denke, aber ich bin nicht verlassen. Es gibt keine Zelle, die er nicht aufschließt. Ich bin am Boden, wenn ich an mein Leben denke, aber ich komme nicht um. Es gibt keine Tiefe, die er nicht erreicht.
Liebe Gemeinde, wer glaubt, sieht anders. Wer Jesus sieht, sieht mehr. Wem dieser helle Schein ins Herz fällt, sieht alles in einem andern Licht. Dieses viermalige, gewaltige, sieghafte "Aber" ist dann unübersehbar. Gewiss sind wir bedrängt und von allen Seiten stürmt es auf uns ein, aber der Lebensraum ist doch noch nie zu eng geworden. Paul Gerhardt, dem wahrlich der Wind ins Gesicht blies, sang "Nichts nichts kann mich verdammen, nichts nimmt mir meinen Mut, die Höll und ihre Flammen löscht meines Heilands Blut." Gewiss sind wir bedrückt und oft machen uns die Ausweglosigkeit zu schaffen, aber tatsächlich hat sich doch immer ein Ausweg gefunden. Hedwig von Redern, die mit den baltischen Märtyrern von Riga litt, sagte: "Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl, das macht meine Herze still und friedevoll." Gewiss sind wir verfolgt und von gemeinen Schurken in die Zange genommen, aber in der Patsche stecken lassen hat uns der Herr noch nie. Friedrich Räder, dessen wirtschaftliche Existenzgrundlage zusammenbrach, drückte es so aus: "Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht, größer als der Helfer ist die Not ja nicht." Gewiss sind wir am Boden und immer wieder aufs Kreuz gelegt, aber den Garaus haben sie uns nicht machen können. Johann Daniel Herrnschmidt, der im spanischen Erbfolgekrieg schwere Drangsale durchlitt, dichtete: "Gottes Hände sind ohn Ende, sein Vermögen hat kein Ziel.” In einem Büchlein fand ich den Vierzeiler aus der Feder von Annette von Droste-Hülshoff, jener feinsinnigen Dichterin von der Meersburg am Bodensee: "Verlassen, aber einsam nicht, erschüttert, aber nicht zerdrückt. Solange noch das heilige Licht, auf mich mit Liebesaugen blickt." Das ist die Herrlichkeit, mit dem Herzen geschaut.
Und Paulus fügt noch den Satz an: Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde! Das ist das Dritte:
Der Auferstehungszeuge Paulus bietet sich noch einmal als Beispiel an. Er raste und schäumte gegen den Christus wie ein toller Hund. Die Behauptung einer Auferstehung hielt er für eine blanke Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes. Gegen solche flagrante Gotteslästerung musste doch die ganze Schärfe des Gesetzes eingesetzt werden. Und dann erlebte er Ostern. Und dann stand er vor dem Auferstandenen. Der lebendige Herr hat ihn gestellt. "Am Letzten nach allen ist er auch von mir gesehen worden." schreibt er: "Der gekreuzigte und auferstandene Herr ist mir erschienen und hat mir gezeigt, dass ich nun in sein Sterben und Auferstehen mit hineingenommen bin. Meine Risse sind Zeichen des Todes, aber auch Anzeichen des neuen Lebens, das er geben will. Meine Macken sind Zeichen des Sterbens, aber auch Anzeichen des Auferstehens, das er schenken will. Meine Sprünge sind Zeichen der Vergänglichkeit, aber auch Anzeichen der Herrlichkeit, die er ausbreiten will. Paulus singt nicht das Lied des Morbiden. So verschroben ist dieser Mann nicht. Man darf sich auch als Christ getrost der Gesundheit und Spannkraft erfreuen. Aber unser unentrinnbares Umklammertsein vom Tode wird uns nicht mehr fassungslos machen. Weil Jesus auferstanden ist und uns in sein neues Leben hineinziehen will, ist aller Zerfall und aller Abbau nur die negative Kehrseite der Tatsache, dass uns Jesu Leben gehört und für die Zukunft erst recht zugedacht ist. So wie wir im eisigen Wintersturm schon den nahen Frühling erahnen, so erahnen wir schon im stechenden Schmerz, im wucherndem Geschwür, in der dunklen Verzweiflung das nahe Leben. Der Glaube schaut in klaren Todeszeichen leuchtende Lebenszeichen und singt deshalb: "Das wird allein Herrlichkeit sein, wenn frei von Weh ich sein Angesicht seh".
Liebe Freunde, wo ist also das Licht zu sehen? Wo ist der helle Schein zu entdecken? Wo ist die Herrlichkeit Gottes auszumachen? So haben wir gefragt. Nun, wer das Licht des Halley sehen will, der muss im Zeichen des Wassermanns suchen. Wer aber das Licht des Herrn sehen will, der muss im Zeichen des Leidensmannes suchen, im Zeichen des Gekreuzigten und Auferstandenen, im Zeichen unseres Herrn Jesu Christi. Dort leuchtet es auf, herrlich.
Amen