Nachdem wir uns die meisten schon heute Morgen gesehen haben, sind doch einige neu hinzugekommen, weil wir uns heute früh nicht sahen. Deshalb möchte ich mich in knappen Worten vorstellen.
Ich heiße Benedikt Peters und wohne in der Schweiz am Bodensee, in einem Ort namens Arbon. Ich bin verheiratet, meine Frau heißt Helene, und wir haben vier Kinder. Seit 19 Jahren kommen wir in Erborn zusammen. Wir begannen damals zu viert, doch bald waren wir nur noch zu zweit – meine Frau und ich. Es gab Zeiten, in denen wir nicht wussten, ob wir überhaupt weitermachen sollten. Wir waren sogar kurz davor aufzugeben. Doch etwas hat das verhindert und stattdessen Wachstum geschenkt.
Wir durften erleben, dass die Versammlung gewachsen ist, dass Menschen zum Glauben kamen und durch diese wiederum weitere Menschen zum Glauben fanden. So sind wir heute etwa sechzig erwachsene Geschwister, dazu kommen ungefähr ebenso viele Kinder und Jugendliche, die zusammenkommen.
Seit viereinhalb Jahren übe ich meinen Dienst vollzeitlich aus, obwohl ich das schon seit einigen Jahren vorher nebenbei tat. Ich stehe also in einem vollzeitlichen, übergemeindlichen Lehr- und Verkündigungsdienst. Das bedeutet, ich habe die Gelegenheit, in viele Gemeinden hineinzusehen – in verschiedenen Ländern Europas, manchmal auch außerhalb Europas, aber hauptsächlich in Europa.
Besonders tätig bin ich in Südeuropa, also in Ländern wie Italien, Spanien, Albanien, Kroatien, Bulgarien, Russland und anderen.
Leben und Wachstum als Grundlage der Gemeinde
Nun, das Thema, das wir uns für diese Tage vorgenommen haben, ist die lebendige Gemeinde. Wir wollen uns fragen, was denn das Entscheidende ist. Dabei wollen wir uns natürlich auch fragen, wie es um uns selbst steht.
Leben und Wachstum gehören zusammen. Wachstum ist eine Funktion des Lebens. Deshalb müssen wir uns fragen, ob das, was wir in der Schöpfung wahrnehmen und als selbstverständlich ansehen, auch an uns selbst und als Gemeinde festzustellen ist: Wachstum.
Der Schöpfungsbericht beschreibt, wie alles Lebendige wächst und sich vermehrt – Wachstum und Vermehrung. Wo kein Wachstum und keine Vermehrung da sind, haben wir viel Grund, uns zu fragen, ob überhaupt Leben vorhanden ist. Und wenn Leben da ist, ob es nicht durch Krankheit gehindert wird.
Nun fragen wir uns, worin wir denn wachsen müssen. Ich lese jetzt eine Reihe von Stellen aus dem Neuen Testament, die von Wachstum sprechen, ohne sie näher zu erläutern:
Epheser 2,21: „In welchem der ganze Bau wohl zusammengefügt wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn.“
Epheser 4,15-16: „Sondern die Wahrheit festhaltend in Liebe, lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus welchem der ganze Leib wohl zusammengefügt und verbunden durch jedes Gelenk der Zunahme nach der Wirksamkeit in dem Maße jedes einzelnen Teiles für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe.“
Kolosser 1,10: Ein Gebet des Paulus für die Gemeinde in Kolossä, „um würdig des Herrn zu wandeln, zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk fruchtbringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes.“
Kolosser 2,19: „Festhaltend das Haupt, aus welchem der ganze Leib durch die Gelenke und Bande, Darreichung empfangend und zusammengefügt, das Wachstum Gottes wächst.“
2. Thessalonicher 1,3: „Wir sind schuldig, Brüder, Gott allezeit für euch zu danken, wie es billig ist, weil euer Glaube überaus wächst und die Liebe eines jeden Einzelnen von euch zu allen gegeneinander überströmend ist.“
1. Petrus 2,2: „Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, auf dass ihr dadurch wachset zur Errettung.“
Und eine letzte Stelle: 2. Petrus 3,18: „Wachset aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus.“
Diese Stellen zeigen uns, dass wir in eine bestimmte Richtung wachsen: wenn Leben da ist, wachsen wir zum Herrn hin und auch zueinander. Wir wachsen zusammen und gemeinsam. So kommen wir zur Reife, zum Erwachsensein.
Ein Zeichen der Reifung ist Vermehrung. In der Biologie spricht man von Geschlechtsreife. Dann vermehrt sich das Leben – das ist im Plan des Schöpfers für das Leben vorgesehen.
Das gilt auch für das geistige Leben. Wir stellen fest, wie der Herr in all seinen Belehrungen beständig Vergleiche zum natürlichen Leben herstellt: Saat und Ernte, Säen, Wurzentreiben, Aufgehen, Fruchttreiben, Ernten. Das sind Vergleiche, die der Herr verwendet.
Gott als Ursprung und Wirker des Wachstums
Nun muss uns deutlich werden, dass derjenige, der das Leben gibt, Gott ist. Deshalb ist auch der, der das Wachstum bewirkt, Gott. Vielleicht erscheint uns das banal, doch es ist wichtig, sich dies vor Augen zu halten: Gott gibt das Wachstum.
Ich lese dazu einen Vers aus dem ersten Korintherbrief, 1. Korinther 3, Verse 6 und 7. Hier sagt Paulus: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber hat das Wachstum gegeben.“ Also ist weder der, der pflanzt, noch der, der begießt, entscheidend, sondern Gott, der das Wachstum schenkt.
Gott gibt das Wachstum. Paulus betont, dass weder der Pflanzer noch der Begießer sich selbst etwas zuschreiben können. Keine Ehre gebührt ihnen, sondern allein Gott. Alles Leben kommt von ihm, und alles Wachstum wird durch ihn bewirkt.
Doch daraus zu schließen, wir seien gar nicht beteiligt, wäre falsch. Geschieht das alles an uns, ohne dass wir wissen, wie und was uns geschieht? Sind wir bloße Marionetten oder nur Röhren, durch welche irgendetwas läuft? So ist es nicht.
Paulus sagt: „Ich habe gepflanzt“ – er hat also gearbeitet. Und er sagt: „Apollos hat begossen“ – auch Apollos hat gearbeitet. Aber das Leben und das Wachstum kommen von Gott. Sein Wachstum geschieht an uns und durch uns.
Ich erinnere noch einmal an zwei Verse, die wir bereits gelesen haben: Epheser 4,15-16 und Kolosser 2,19. In beiden Versen steht, dass es unsere Aufgabe ist, die Wahrheit festzuhalten, das Haupt festzuhalten. Das bedeutet, wir müssen darauf achten, dass Gott in uns und an uns dieses Wachstum wirken kann.
Offensichtlich können wir es auch hindern. Wir können das Wachstum nicht selbst bewirken, aber wir können es verhindern. Wir können Gott und seine Absichten im Weg stehen.
Drei Prioritäten für Wachstum in der Gemeinde
Also fragen wir uns, woran es liegt, dass wir Wachstum erleben. Warum wachsen wir als Gemeinde? Warum kann sich das Leben entfalten, ausbreiten und mehren? Warum zeigt es sich lebendig?
Ich kann ganz einfach fragen: Was müssen wir tun, um zu wachsen?
Ich nenne drei Prioritäten, die wir vor Augen haben müssen, wenn es um Wachstum geht.
Es ist uns allen bewusst: Gemeindewachstum ist ein Schlagwort, das es vielleicht schon seit zehn, fünfzehn oder sogar zwanzig Jahren gibt.
Doch wir verbinden mit dem Begriff Gemeindewachstum und der Gemeindewachstumsbewegung nicht immer nur positive Gedanken. Inzwischen ist dieser Begriff auch belastet.
Der Einzelne als Schlüssel zum Wachstum
Woran liegt Wachstum? Ich nenne eine erste Priorität: Der Einzelne ist wichtiger als die Gemeinschaft.
Die Gemeinde besteht aus einzelnen Glaubenden. Sie wird nur so viel wachsen, wie der Einzelne wächst. Das bedeutet, dass die persönliche Hingabe des Einzelnen durch nichts zu ersetzen ist – durch gar nichts.
Wenn wir das Verlangen haben, dass unsere Gemeinde sich als lebendige Gemeinde erweist, wächst, sich mehrt, zum Herrn hin wächst, zur Reife gelangt und sich auch ausweitet und vermehrt, dann müssen wir erkennen, dass wir nicht daran vorbeikommen. Du und ich müssen ein Leben der persönlichen Hingabe leben.
Das ist durch keine Programme zu ersetzen, durch keine Methoden und auch nicht durch ein noch so ausgeklügeltes System der übergeordneten Gemeinschaft, das irgendwie funktioniert oder durch ein Regelwerk von Bestimmungen. Die persönliche Hingabe ist eine unerlässliche Bedingung.
Der Einzelne ist also wichtiger als die Gemeinschaft, wenn es darum geht, dass die Gemeinde wachsen und sich als lebendig erweisen soll. Das zeigt deine und meine Verantwortung.
Wenn es dir wirklich ernst damit ist und du es in deinem Herzen begehrst, dann ist das Erste, was du tun musst – und auch ich –, nicht, dass wir herumschauen und gucken, was in der Gemeinde anders werden muss. Das Allerwichtigste ist, wie meine Beziehung zum Herrn anders werden muss.
Das ist gleichzeitig eine große Ermunterung. Warum? Weil Gott tatsächlich durch den Glauben und die Hingabe Einzelner wirkt. So entsteht Wachstum in der Gemeinde. Es kann sein, dass er hier unter uns in der Versammlung, wo wir zuhause sind, ein Herz sucht, das ungeteilt auf ihn ausgerichtet ist.
Die Geschichte des Volkes Gottes im Alten Testament und auch im Neuen Testament, die Geschichte der christlichen Kirche, liefert unzählige Beispiele dafür, wie Gott immer wieder eine Neubelebung seines Volkes bewirkt hat – durch Einzelne, die sich vom Herrn wirklich ergreifen ließen, die gerufen wurden, zu ihm in seine Gemeinschaft und in seine Gegenwart gezogen wurden und ihr Leben ihm hingaben.
Warum sollten wir das nicht als eine Möglichkeit sehen? Warum solltest du das nicht als eine Möglichkeit sehen, dass der Herr dich verwenden will zum Segen für die Geschwister, um die Gemeinde, das gemeinschaftliche Zeugnis, das Zeugnis nach außen und das Zeugnis vor Gott zu beleben?
Das Innere als Grundlage des Wachstums
Dann die zweite Priorität: Das Innere ist wichtiger als das Äußere. Das Wachstum der Gemeinde geschieht von innen nach außen. Es ist das innere Wachstum, das sich im äußeren Wachstum zeigt und sich darin niederschlägt.
Nun, wir denken, das sei eine Binsenwahrheit. Wir glauben, dass wir genau verstanden haben, dass es Gott auf das Innere ankommt. Ja, wir haben es mit unserem Verstand erfasst, aber unsere Herzen gehen da nicht immer mit. So haben wir eine fatale Anfälligkeit dafür, auf das Äußere zu achten. Wir schauen, wie der Chor ist, wie gut das Programm läuft oder wie die Gottesdienste aussehen. Das Äußere wird sehr leicht und sehr schnell wichtiger als das Innere.
Der Herr hat jedoch einige ziemlich deutliche Worte darüber zu seinen Zeitgenossen gesagt. Ich lese nur eine Stelle in Lukas 11, Verse 39 und 40. Wenn wir die Evangelien lesen und die Urteile Jesu über die Pharisäer hören, fühlen wir uns oft nicht angesprochen. Aber vielleicht sollten wir uns manchmal doch angesprochen fühlen.
Lukas 11,39-40: Der Herr aber sprach zu ihnen: „Jetzt, ihr Pharisäer, reinigt ihr das Äußere des Bechers und der Schüssel, euer Inneres aber ist voller Raub und Bosheit. Toren! Hat nicht der, welcher das Äußere gemacht hat, auch das Innere gemacht?“
Selbst ein so bewährter Knecht des Herrn und ein Mann mit großer Einsicht in die Wege Gottes wie der Prophet Samuel ließ sich täuschen und sah das Äußere für wichtiger an als das Innere. Wir kennen die Geschichte der Berufung des von Gott gesalbten Königs. Samuel sieht den ältesten, hochgewachsenen und prächtigen Eliab und denkt sofort: „Das ist der Gesalbte des Herrn.“ Doch der Herr muss ihm sagen: „Nein, warum schaust du auf das Äußere? Der Herr schaut auf das Herz.“
David musste das lernen. Er lernte es durch demütigende Erfahrungen, dass der Herr an nichts so sehr Freude hat wie an Wahrheit im Innern. Psalm 51,6 sagt: „Siehe, du hast Lust an der Wahrheit im Innern.“ Das sagt David in seinem Bußgebet nach seiner Sünde mit Bathseba und nach seiner Sünde an Uriah. Du hast Lust an Wahrheit im Innern.
Unsere innere Beziehung zum Herrn – oder nennen wir es so, wie man es früher gern nannte, unser verborgener Wandel mit dem Herrn – das ist das Entscheidende. Das ist durch nichts zu ersetzen.
Wir haben uns gerade gestern über das Beispiel von jemandem unterhalten, der einfach die äußeren Formen und auch die Sprache und die Redewendungen des Volkes Gottes sehr gut kannte. Er kannte die Sprache Kanas, wusste, wie man sich in gewissen Kreisen äußerlich verhält, wie man sitzt, wann man aufsteht, wie man ein Lied vorschlägt usw. Damit kam er ziemlich weit.
Man kann sehr weit kommen, wenn man die korrekten Formen und die korrekte Sprache beherrscht. Aber der Herr hat Lust an Wahrheit im Innern. Diese innere Beziehung zum Herrn ist das, was ich als zweitwichtigstes nenne. Sie ist durch nichts zu ersetzen, durch gar nichts.
Wir können uns selbst täuschen, davon spricht die Bibel. Darum sagt sie wiederholt: „Betrügt nicht euch selbst!“ Wir können uns selbst täuschen, wir können auch die Geschwister täuschen. Aber Gott können wir nicht täuschen – das geht nicht.
Darum kommt es wirklich auf unser Herz an. Das ist unser Inneres, unser Herz.
Die Beziehung zum Herrn als Fundament der Gemeinschaft
Dann die dritte Priorität, die ich nenne: die Beziehung zum Herrn. Wenn wir von Gemeinde und Gemeinschaft sprechen, ist die Beziehung zum Herrn wichtiger als die Beziehung zueinander.
Die Beziehung zum Herrn ist entscheidend, denn erst sie begründet die Beziehung zueinander. Warum sind wir heute Abend hier? Warum treffen wir uns am ersten Tag der Woche, und sitzen da verschiedene Menschen – Männer, Frauen, Ältere, Jüngere? Warum?
Ist es, weil wir einander so gern haben? Oder weil wir gemeinsame Interessen, Veranlagungen oder Neigungen entdeckt haben? Sind wir vielleicht einfach alle so lebensfrohe Leute? Ganz sicher nicht.
Was ist es denn, das uns zusammenbringt? Dass wir uns immer wieder in einem Raum gemeinsam treffen und uns auch bei anderen Gelegenheiten in Gruppen begegnen? Was ist es?
Der gleiche Herr hat uns alle gezogen. Es ist also die Beziehung zu ihm, die die Beziehung zueinander begründet.
So sehen wir, dass ich eigentlich jetzt von drei Seiten immer wieder auf dasselbe gekommen bin: Die Beziehung zum Herrn ist das alles Entscheidende, die persönliche Beziehung eines jeden Einzelnen. Daraus wächst dann alles Weitere.
Nun, wir sind auch hier sehr versucht – wir sehen, dass es in der Gemeinschaft nicht immer so funktioniert, wie wir es gerne hätten. Dann meinen wir, wir müssten lernen, wie man Konflikte bewältigt. Man kann Seminare besuchen zur Konfliktbewältigung. Man muss einfach lernen, die richtige Technik im Umgang miteinander anzuwenden, dann kann man miteinander auskommen.
Vielleicht hat das seinen Stellenwert, aber ganz sicher einen untergeordneten. Denn die Gemeinschaft der Heiligen Gottes ist doch noch etwas anderes, als dass es uns einfach gelingt, miteinander auszukommen.
Gemeinschaft ist mehr. Die Beziehung zum Herrn ist es, die die Beziehung zueinander herstellt und wirken lässt.
Die Ordnung der Gemeinde im Alten und Neuen Testament
Das Volk Gottes im Alten Testament wurde aus Ägypten herausgeführt. Danach unterwarf Gott dieses Volk seinem Willen. Er sprach, und sein Reden sorgte dafür, dass alles seinen Platz fand.
In 4. Mose 1 wird von den verschiedenen Stämmen im Volk Israel gesprochen, von den Häuptern dieser Stämme. Anschließend wird jedem Stamm ein Platz zugewiesen. Zum Beispiel hatte Joseph – ich nenne hier nur Beispiele, die nicht genau so stehen – links von sich Simeon und rechts von sich Issachar. Dan hatte links von sich Gad und rechts von sich Asser. Sie waren also in Nachbarschaft zueinander gesetzt.
Doch was bestimmte ihre Position und ihre Beziehung? Wozu? Zum Haus Gottes, das in der Mitte stand. Wenn wir 4. Mose 1 lesen, sehen wir, dass jeder seinen Standort immer in Relation zum Haus Gottes bekam: östlich von der Wohnung, nördlich von der Wohnung, südlich von der Wohnung – so heißt es immer wieder.
Stellen wir uns das einmal sinnlich vor: Das Haus Gottes in der Mitte, und alle in Beziehung zu diesem Haus. Das schuf die Gemeinschaft des Volkes Gottes. Die Beziehung zum Herrn ist das Grundlegendste.
Nachdem ich diese Prioritäten genannt habe, wollen wir uns dem Gegenstand jetzt etwas mehr nähern: der Gemeinde, dem Haus Gottes. Ich sprach vorhin vom Alten Testament. Wir wollen nun einmal das Haus Gottes im Alten und im Neuen Testament miteinander vergleichen.
Das Haus Gottes im Alten Testament ist den meisten von uns wahrscheinlich sehr gut vertraut. Wir haben alle schon Modelle gesehen oder zumindest in illustrierten Büchern Bilder von Modellen des Hauses Gottes im Alten Testament betrachtet. Das Muster der Stiftshütte und auch des Tempels ist sehr detailliert beschrieben.
Alles ist genau reglementiert: die Werkstoffe werden genau genannt, welche Werkstoffe wofür verwendet werden. Es werden genaue Zahlenangaben gemacht: Der Vorhof ist so lang und so breit, mit genau so vielen Säulen, die den Vorhof tragen. Die Wohnung hat genau so viele Decken, ist genau so breit und so lang und besteht aus so vielen Stücken. Die Bretter der Wohnung sind genau gezählt – so viele an der östlichen Wand, so viele an der nördlichen und so viele an der südlichen Wand. Auch der ganze Gottesdienst ist genau festgelegt. Die Gewänder der Priester sind genau beschrieben, ebenso welche Opfer sie wann und auf welche Weise darbrachten.
Nun ist uns bekannt, dass alles, was im Alten Testament geschrieben steht, uns zur Belehrung geschrieben ist. Die alttestamentlichen Geschehnisse und Einrichtungen sind Schattenbilder auf neutestamentliche Wirklichkeiten.
Vergleichen wir nun das neutestamentliche Haus Gottes mit dem alttestamentlichen Haus Gottes, stellen wir fest, dass für das neutestamentliche Haus Gottes derlei Angaben vollständig fehlen.
Wir haben keine Angaben über die zahlenmäßige Idealgröße des neutestamentlichen Hauses Gottes. Ich beziehe mich hier auf die örtliche Versammlung, denn das ist es, was uns interessiert. Wir reden vom Leben der Gemeinde, also von der örtlichen Versammlung.
Eine Mindestzahl ist zwar genannt, danach aber keine Angaben über eine Idealgröße – weder fünfzig noch hundertzwanzig oder Ähnliches.
Wir haben keine Angaben zur Häufigkeit und zum Zeitpunkt der Zusammenkünfte. Die Christen trafen sich zwar in der ersten Zeit täglich, doch wir haben keine Anweisung, wie es im Zusammenhang mit der Stiftshütte der Fall war. Dort wurde ganz genau gesagt, an welchen Tagen in welcher Weise welches Opfer zu bringen war und wie viele Opfer genau reglementiert waren.
Für das Neue Testament gibt es nichts dergleichen.
Wir haben keine Angaben zur Abfolge der verschiedenen Ausübungen der Dienste bei den Zusammenkünften. Es wird nicht gesagt, dass man mit einem Lied beginnen oder mit einem Gebet anfangen muss. Dazu wird nichts gesagt.
Auch keine Angaben über die Länge der Zusammenkünfte: 45 Minuten, eine Stunde oder 15 Minuten. Dort, wo ich zum Glauben kam, in Pakistan und Indien, war es üblich, dass man sich am ersten Tag der Woche um neun Uhr traf und bis ein Uhr mittags zusammenblieb – also vier Stunden. Ist das so lange? Darf man so lange zusammenkommen? Wir haben keine Angaben dazu.
Wir haben auch keine Angaben darüber, wie wir uns zusammensetzen sollen. In Indien zum Beispiel sitzt man auf dem Boden, auf Strohmatten. Meistens knien die meisten, wenn die ganze Versammlung betet, weil das dort einfach normal ist. Müssen wir knien? Oder darf man auch stehend beten? Wir haben keine Reglementierung zu diesen Fragen.
Auch nicht darüber, in welcher Form oder Weise wir technisch die Sammlungen durchführen sollen. Wir lesen von Sammlungen, die stattfanden, aber wie genau das geschah, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob ein Beutel herumgereicht wurde. Wir wissen nicht, ob es so gemacht wurde wie bei Georg Müller in Bristol, der einfach einen Kasten aufstellte, in den jeder Geschwister etwas hineinlegen konnte, wann er wollte.
Muss man es so machen oder anders? Es wird uns nicht gesagt.
Nicht einmal über das, was wir sicher zu Recht als das Zentrum, den Mittelpunkt des Gemeindelebens bezeichnen – das Mahl des Herrn – haben wir genaue Angaben.
Wir haben keine Anweisungen darüber, wie das ablaufen muss.
Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Mal in einer Versammlung hier in Deutschland. Dort versammelten wir uns zum Brotbrechen, und sie hatten ein Glas, aus dem sie tranken – kein Zinnbecher, sondern ein Glas. Ich schaute und dachte: Noch nie gesehen. Wer sagt denn, dass es Rotwein sein muss? Meistens verwenden wir Rotwein wegen der Analogie zur Blutfarbe.
Aber das ist kein Gebot.
Wir merken, zu all diesen Dingen sagt das Neue Testament nichts.
Geistliche Ordnungen als Grundlage der Gemeinde
Nun bin ich der Überzeugung, dass aufgrund der Entsprechung zwischen Altem und Neuem Testament das neutestamentliche Haus Gottes, also die örtliche Versammlung, mindestens ebenso komplex strukturiert ist wie die Stiftshütte – mindestens.
Wir dürfen dies als gegeben voraussetzen, denn das neutestamentliche Haus Gottes ist wohl herrlicher als das alttestamentliche Haus Gottes. Die Ordnungen der neutestamentlichen Gemeinde müssen also genauso komplex sein wie die Ordnungen des alttestamentlichen Gottesdienstes.
Doch nun kommt das Entscheidende: Während die Vorschriften für die Stiftshütte und den Gottesdienst der Stiftshütte oder des Tempels äußerlich waren, sind die Ordnungen der neutestamentlichen Gemeinde geistlich. Es handelt sich also um geistliche Ordnungen.
Kennt ihr Harold St. John? Das ist ein etwas schwieriger Name; ich finde es immer schwer, ihn auszusprechen. Man möchte gerne „Harold Saint John“ sagen, und dann weiß jeder, wen man meint. Aber scheinbar muss man ihn tatsächlich so aussprechen.
Er ist der Vater von Patricia Saint John, die viele Kinderbücher geschrieben hat. Sie verfasste ein Buch über ihren Vater, „Reisender in Sachen Gottes“, ein Buch, das mich beim Lesen sehr berührt hat. Er war ein wahrer Knecht des Herrn.
Ganz am Ende seines Lebens, als er schon so schwach war, dass er bettlägerig war und nicht mehr aufstehen konnte, bat er darum, ihm einen Bleistift und Papier zu bringen. Dann brachte er seine Gedanken zu Papier über das, was er nach 50 oder mehr Jahren Dienst in den Versammlungen gelernt hatte. Er war bekanntlich in den Versammlungen der Brüder aufgewachsen und hatte vor allem auf Kontinenten, aber auch in vielen anderen Kreisen gedient.
Er schrieb auf, was er nach 50 bis 60 Jahren Dienst im Haus Gottes unter den Heiligen Gottes über das Entscheidende der Gemeinde gelernt hatte. Ich lese ein paar Sätze daraus vor, was er unter anderem sagt:
„Da uns das Neue Testament lediglich Beispiele liefert und erzählt, was die Gläubigen des ersten Jahrhunderts taten, indem es dem Leser gewöhnlich zutraut, sich daraus selbst ein geistliches Urteil zu bilden, muss in gegenseitiger Liebe eine große Breite im Anerkennen örtlicher Eigenheiten und Unterschiede gewährt werden.“
Ich meine, auch das ist ein Merkmal des Lebens: Im Leben und in den Lebensäußerungen der Geschöpfe, die Gott in der Natur erschaffen hat, sehen wir Übereinstimmungen, aber immer auch Vielfalt. Gleichschaltung, Einförmigkeit und Uniformität sind kein Zeichen des Lebens.
Er sagt, das sei eigentlich zu erwarten, weil wir im Neuen Testament nur Beispiele finden und erzählt bekommen, wie die Gläubigen damals handelten. Solche Unterschiede können nebeneinander bestehen, ohne dass die Gemeinschaft deshalb aufgekündigt werden muss.
Harold St. John kam bekanntlich aus einer sehr exklusiven Richtung zum Glauben – ich glaube, es waren die sogenannten „Low Brethren“. Doch er wurde vom Herrn geführt und ließ sich auch vom Herrn in einem viel weiteren Kreis der Tätigkeit, Wirksamkeit und gelebten Gemeinschaft mit den Geliebten, den Heiligen Gottes, leiten.
Vor diesem Hintergrund verstehen wir seine Aussage besonders gut: Solche Unterschiede können nebeneinander bestehen, ohne dass die Gemeinschaft deshalb aufgekündigt werden muss.
Es gibt kein festes Muster der Gemeindeordnung im göttlichen Buch, außer – und hier nennt er zwei Dinge – der Führung durch Älteste (vgl. Titus 1,5) und der Führung durch den Heiligen Geist, die in Zeiten geistlicher Freiheit vorherrscht, aber in Zeiten geringerer Geistlichkeit eingeschränkt ist.
Wegen der Beweglichkeit der Gemeindeordnung muss vieles offen bleiben und darf nicht im Gewand von Geboten daherkommen.
Das war zunächst eine Beobachtung. Doch fragen wir uns: Worin bestehen die Ordnung oder die Ordnungen des Neuen Testaments, wenn sie nicht äußerlicher Art sind?
Primär gibt es natürlich ein paar äußere Dinge, die wir miteinander regeln müssen. Aber diese sind nicht als Gebot vorgeschrieben. Wir müssen uns örtlich darüber verständigen, wann wir uns treffen, sonst können wir uns nicht versammeln. Und das muss regelmäßig geschehen, sonst gibt es keine Gemeinschaft, keine Kontinuität in der Gemeinschaft.
Aber die eigentlichen Ordnungen, auf die es wirklich ankommt – das Herz des Gemeindelebens – worin bestehen diese Ordnungen?
Ich nenne zwei Dinge, und das scheint zunächst so simpel, dass man meinen könnte: Wer mag denn da von Komplexität sprechen? Soll das komplex sein, bei so etwas Einfachem?
Zwei Dinge machen die geistliche Ordnung der örtlichen Versammlung aus: Erstens die Gegenwart des Herrn unter den Seinigen, zweitens – eigentlich dasselbe anders ausgedrückt – die rechte Beziehung zum Herrn und die rechte Beziehung zum Bruder. Also die Beziehung zum Herrn und die Beziehung zum Bruder – das ist alles, wirklich alles.
Wie einfach ist das, und gleichzeitig wie tief und komplex!
Ein Vergleich: Es ist nicht schwierig, eine Ehe zu definieren. Ganz einfach: Mann und Frau, die sich für den Rest ihres Lebens verbinden. Ich habe jetzt nicht alle Bedingungen genannt, aber darauf kommt es an – das ist eine Ehe.
Mann und Frau, die bezeugen, vorzeugen, öffentlich bekennen: „Wir wollen von heute an zusammenleben, gehören zusammen – nur wir ausschließlich.“ Das ist sehr einfach definiert.
Aber wie komplex sind all die Beziehungen und die Gemeinschaft einer Ehe!
Ungeheuer komplex!
Im Januar werden es 20 Jahre sein, dass ich verheiratet bin. Und es ist wirklich so, dass die Beziehung, die ich mit meiner Frau habe, bei der man doch denken könnte: „Na ja, da kennt man sich, da gibt es nichts Neues mehr, die Beziehung ist fest, geregelt, einfach eine Sache, die läuft auf Knopfdruck“ – so ist es nicht.
Die Beziehung ist ungeheuer komplex, tief, reich, nicht leicht, manchmal auch kompliziert, sehr komplex.
Es gibt wohl nichts Komplexeres als Beziehungen zwischen Personen.
Nun denken wir uns Folgendes: Die Gemeinde besteht aus der Beziehung all derer, die zum Herrn gehören.
Wenn hier 50, 60 oder 70 Geschwister in der Versammlung sind, die sich an der Reinhold-Frank-Straße treffen, dann sind das 50, 60 oder mehr Personen, die in Beziehung zum Sohn Gottes stehen – zu einer unendlichen Person.
Eine Beziehung von einer Tiefe und Komplexität, die sich nie ganz ausloten lässt.
Wie diese Beziehungen zu unterhalten, zu fördern, zu stärken, zu schützen, zu bewahren und zu verteidigen sind – darum geht es in der Gemeinde. Das ist das Herz des Gemeindelebens.
Dem muss alles dienen, was wir tun.
Wir kommen doch nicht zusammen und beten einfach so, wie wir gebetet haben. Wir kommen zusammen, um mit dem Herrn in Beziehung zu stehen, zu ihm zu reden und dass er zu uns redet.
Wir kommen nicht zusammen und singen einfach Lieder, nur damit sie schön klingen. Wir singen dem Herrn Lieder; es geht immer um unsere Beziehung zu ihm.
Wenn wir bedenken, dass wir alle als Einzelne in Beziehung zum Herrn gesetzt sind, sind wir auch zueinander in Beziehung gesetzt.
Wir haben also ein ganzes Geflecht von Beziehungen.
Und das ist dermaßen komplex, dass es nur Gott überschauen kann.
Wir können ahnen, wie reich das ist, aber wir können es uns nicht ausmalen, wie reich es einmal sein wird und wie wir es in der Herrlichkeit sehen werden.
All die Beziehungen eines jeden Erlösten zum Herrn und zueinander.
Dann werden diese Beziehungen vollkommen sein, durch nichts verhüllt, nicht verbogen und nicht gehindert.
Das muss eine unendliche Fülle und eine unbeschreibliche Schönheit sein.
Das ist Leben.
Leben als Summe von Beziehungen
Wir sprechen hier von Gemeinde und von lebendiger Gemeinde. Darauf kommt es an. Leben kann man definieren – er hatte einmal versucht, Leben zu definieren. Nun, das sind Dinge, die wir zwar eigentlich wissen, aber wenn uns jemand quasi die Pistole auf die Brust setzt und verlangt, Leben zu definieren, sind wir oft sprachlos und wissen nicht, was wir sagen sollen.
Man kann Leben als eine Summe von Beziehungen beschreiben. Wenn wir vom Schöpfungsbericht ausgehen, wird uns das deutlich vor Augen geführt. Adam wird erschaffen, und es heißt von ihm, er wurde eine lebendige Seele. Dann wird von all den Beziehungen berichtet, in die Adam hineingestellt wurde. Die erste und alle weiteren begründende Beziehung war die Beziehung zu seinem Schöpfer, danach die Beziehung zu seiner Frau, dann die Beziehung zu den Tieren und schließlich die Beziehung zum Erdboden.
Beziehungen sind Leben. So besteht auch das Leben der Gemeinde in Verbindungen: Verbindung zum Herrn und dadurch Verbindungen untereinander. Lebendige Gemeinde bedeutet eine Gemeinde, in der die Beziehung jedes Einzelnen zum Herrn offen, frei und nicht blockiert ist. Eine Beziehung, die besteht und intakt ist – ebenso wie die Beziehungen untereinander.
Wir sind an solche Ausdrücke gewöhnt, doch manchmal müssen wir innehalten, still sitzen und uns Gedanken darüber machen, was diese Aussagen wirklich bedeuten und welche Tragweite sie haben.
1. Korinther 3,11: Der Herr ist der Grund der Gemeinde. Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist: Jesus Christus. Er ist der Grund der Gemeinde.
Epheser 2,20: Die Gemeinde ist aufgebaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, wobei Jesus Christus selbst der Eckstein ist.
Der Herr ist das Haupt der Gemeinde, wie wir in Epheser 4,15-16 lesen.
All diese Aussagen beschreiben Beziehungen. Die Gemeinde verhält sich zum Herrn wie das Haus zum Fundament – das ist ein Verhältnis. Die Gemeinde verhält sich zum Herrn wie die Mauern zum Eckstein – ebenfalls ein Verhältnis, das auf diesen einen ausgerichtet ist. Die Gemeinde verhält sich zum Herrn wie der Leib zum Haupt – das ist eine Lebensbeziehung, ein Verhältnis.
Das macht das wirkliche Wesen der Gemeinde aus: die Beziehung der Erlösten zum Herrn selbst. Darum sage ich: Die Gegenwart des Herrn ist das alles Entscheidende an der Gemeinde. Ich werde immer wieder von verschiedenen Seiten darauf zurückkommen.
Matthäus 18,20: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“
Viele hier sind mit der Brüderbewegung vertraut, mit der Brüderversammlung. Diese hatte sicher ihre Stärken und Glanztage, aber auch Schwächen und schwierige Zeiten. Was dieser ganzen Bewegung jedoch ihren Ausweis gibt und wofür ich überzeugt bin, dass es ein Werk Gottes und ein Wirken des Heiligen Geistes war, ist die Grundüberzeugung, die durch Matthäus 18,20 geprägt ist: Wenn zwei oder drei in Jesu Namen versammelt sind, ist er in ihrer Mitte.
Wenn wir das wirklich verstehen, geht es um den Herrn und die Beziehung zu ihm – er ist in der Mitte und wirklich das Entscheidende.
Die Gemeinde verhält sich zum Herrn wie der Körper zum Geist. Ein Körper ohne Geist ist furchtbar – es ist eine Leiche. Für uns gibt es kaum etwas so Abstoßendes wie eine Leiche. Ein lebendiger Körper, in dem ein Geist wohnt, ist etwas ganz anderes.
Oder gibt es etwas Jämmerlicheres oder Traurigeres als ein Haus ohne Fundament? Ein Haus ohne Fundament ist gar kein Haus. Da war niemand drin, und niemand will dort wohnen.
Oder denken wir an Leib und Haupt – das mag makaber klingen, aber es verdeutlicht die Bedeutung der Beziehung zum Herrn. Diese Beziehung ist das alles Entscheidende.
Wenn aber seine Person das alles Entscheidende ist, dann muss ich um jeden Preis darauf achten, in der Erkenntnis zu ihm zu wachsen. Meine Beziehung zu ihm muss immer stärker werden. Um nichts in der Welt darf diese Beziehung gefährdet, kompromittiert, angetastet oder gar unterbrochen werden.
Was ist Tod? Wenn wir von lebendiger Gemeinde sprechen, dann ist das Gegenteil eine tote Gemeinde. Was ist eine tote Gemeinde? Eine tote Gemeinde ist wie ein Körper ohne Geist. Ein Toter sieht äußerlich noch gleich aus, man erkennt ihn, aber es ist nicht mehr der Mann, denn das Entscheidende fehlt.
Tod bedeutet Trennung, Auflösung der Beziehungen.
Im Neuen Testament lesen wir von einer toten Gemeinde, bei der genau das Entscheidende, die Beziehung zum Herrn, gekappt ist: Laodizea. Von dieser Gemeinde sagt der Herr, dass er draußen steht. Äußerlich war alles da: Reichtum, Programm, Betrieb – es lief viel. Doch die Gemeinde war tot. Sie hatte die Beziehung zum Herrn verloren, und der Herr stand draußen. Er sagte: „Ich stehe an der Tür und klopfe an.“
Seine Person ist das alles Entscheidende. Aus dieser persönlichen Gemeinschaft zum Herrn wächst die Gemeinschaft in der Versammlung der Seinigen. So wächst das, was der Herr mit Gemeinde gewollt hat.
Evangelien als Grundlage des Gemeindelebens
Das ist der Grund, warum ich jetzt im Folgenden und auch morgen und übermorgen nicht, wie wir es gewöhnlich tun, wenn wir uns über Gemeindegedanken machen, über örtliche Versammlungen und über Gemeindeleben nachdenken, von der Apostelgeschichte oder den Lehrbriefen ausgehen werde. Ich werde tatsächlich von den Evangelien ausgehen.
Wir sind es gewohnt zu denken, dass in den Evangelien die Gemeinde ja gar nicht vorkommt. Ja, das Geheimnis der Gemeinde ist in den Evangelien nicht offenbart. Aber das Entscheidende, worauf es beim Gemeindeleben ankommt, davon spricht der Herr selbst in den Evangelien.
Eigentlich müssen wir das ja erwarten, wenn es stimmt, dass der Herr der Grund der Gemeinde ist und die Gemeinde auf ihm ruht, dass er das Haupt der Gemeinde ist und die Gemeinde an ihm hängt, dass er der Eckstein der Gemeinde ist. Das bedeutet, dass all sein Tun beständig an ihm ausgerichtet ist. Dann muss es doch so sein, dass wir, je besser wir den Herrn selbst kennen und seine Worte verstehen, umso mehr das Leben führen, das der Herr unter Versammlung verstanden hat.
Wir lesen zwar nicht von den Ratschlüssen Gottes, vom Geheimnis der Versammlung, von der Stellung und der kommenden Herrlichkeit außer in einigen Aussagen in den Evangelien. Aber das, was die Apostel in den Lehrbriefen lehren und das, was sie taten, wo immer sie hinkamen – was haben sie getan? Sie haben genau das getan, was der Herr ihnen aufgetragen hat.
Und was hat der Herr den Jüngern aufgetragen? Den Missionsbefehl. Dann hat er ihnen aufgetragen: „Lehret sie alles zu halten, was ich euch geboten habe.“ Ich meine, das Leben, das Gemeindeleben, das persönliche Leben in der Beziehung zum Herrn hat damit sehr viel zu tun.
Ich hoffe, dass es mir gelingt, das irgendwie deutlich zu machen. Ich will jetzt einige Stellen lesen, die uns das zeigen können. Das, was die Apostel am Herrn gesehen hatten, das haben sie überall gelehrt.
1. Johannes 1,1: „Was von Anfang war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir angeschaut und unsere Hände betastet haben, betreffend das Wort des Lebens, das verkündigen wir euch.“ Johannes redet hier von der Menschwerdung und von allem, was er am Herrn gesehen und von ihm gehört hat. Er deutet das natürlich weiter aus.
Vergleichen wir das mit 2. Petrus 1, das ist ganz sicher ein Brief, der für Christen, für die christliche Gemeinde und damit auch für örtliche Versammlungen geschrieben wurde. Wir lesen diesen Brief und empfangen Unterweisung daraus. Hier sagt 2. Petrus 1,16: „Denn wir haben euch die Macht und die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus nicht kundgetan, indem wir künstlichen Dichtungen oder Fabeln folgten, sondern als die Augenzeugen seiner herrlichen Größe gewesen sind.“ Er spricht von dem, was er am Herrn sah und hörte, zum Beispiel auf dem Berg der Verklärung, etwas, wovon wir in den Evangelien lesen. Das war der Ausgangspunkt seines ganzen Arguments.
Wir merken also, dass die Evangelien uns doch einiges zu sagen haben über unser Leben als Christen in der Gemeinde, auch über das Zusammenleben in der Gemeinde.
Das Fundament und der Bau der Gemeinde
Zwei Stellen aus dem Matthäusevangelium
Eine Stelle aus dem Matthäusevangelium, an die wir meistens sofort denken, wenn von Versammlung die Rede ist und wo der Herr dieses Wort auch gebraucht, ist Matthäus 16, Vers 18:
"Aber ich sage dir, du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen."
Und jetzt erinnere ich an eine andere Stelle, die wir oft auch zitieren, wo es ebenfalls um einen Felsen und um Bauen geht, ebenfalls aus dem Matthäusevangelium, Matthäus 7, Verse 24 bis 27:
"Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, den werde ich einem klugen Mann vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute."
Ich glaube nicht, dass wir sagen können, diese beiden Stellen haben nichts miteinander zu tun. Fels und Bauen – beidemal ist der Herr der Redende. Offensichtlich hat das, was der Herr in der Bergpredigt sagt, sehr viel mit dem zu tun, was der Herr tut. Er baut sein Haus auf dem Felsen, aber wir haben einleitend gehört, dass er durch uns baut. Wir sind seine Mitarbeiter.
Dass das, was er gelehrt hat, auch in der Bergpredigt, etwas zu tun hat mit dem Bauen seines Hauses, also auch der örtlichen Versammlung, ist offensichtlich. Heute Abend kommen wir nicht mehr dazu, aber ich werde das morgen gleich aufgreifen.
Natürlich müssen wir uns fragen, wie das Verhältnis beziehungsweise die Beziehung zwischen dem Reich Gottes und der Versammlung Gottes ist. Die Bergpredigt nennen wir oft und ganz sicher zu Recht die Verfassung des Reiches Gottes. Von daher denken wir manchmal ziemlich schnell, dass das mit uns, mit der Versammlung, nichts zu tun hat.
Darum wollen wir uns Gedanken machen über Reich Gottes und Versammlung Gottes, nicht sehr ausführlich, aber so, dass wir sehen, dass das wirklich Dinge sind, die wir unterscheiden müssen – unterscheiden, aber nicht trennen. Das ist vielleicht ein Fehler, den wir uns angewöhnt haben: Dinge, die unterschieden werden, nämlich Reich Gottes und Versammlung Gottes, getrennt zu sehen und dann in einem nächsten Schritt zu sagen, dass das, was der Herr gelehrt hat in seinen Reden, in den Evangelien, eigentlich mit der Versammlung nichts zu tun hat.
Der Herr sagt hier Dinge, von denen wir wissen, dass sie sehr viel zu tun haben, und wir wenden sie auch an. Wir wenden immer wieder die Aussagen des Herrn aus der Bergpredigt an, ebenso die Aussagen des Herrn aus Matthäus 18 und seine Aussagen aus Matthäus 16. Wir wenden sie an auf uns, auf die Versammlung, und das ist auch richtig so.
Eine weitere Stelle, die ich schon zitiert habe, ist aus dem Matthäusevangelium, Matthäus 28, Verse 18 bis 20, der Missionsbefehl. Dort sagt der Herr zu den Jüngern:
"Lehret sie alles zu bewahren, was ich euch geboten habe."
Und das haben die Jünger getan. Hier kann man natürlich nicht so argumentieren und sagen, das sei der Missionsbefehl im Tausendjährigen Reich, wie das manchmal gemacht wird. Denn die Jünger haben ja nicht im Tausendjährigen Reich gelebt, sondern sie haben es wirklich getan.
Es geht ja gar nicht auf, das nur auf eine zukünftige Bedeutung zu beziehen. Dass das auch eine zukünftige Bedeutung hat, ist nicht ausgeschlossen. Aber wir dürfen nicht sagen, das habe für uns nichts zu sagen. Denn die Jünger waren doch sicher Christen, und sie haben in den christlichen Gemeinden die, die sie zum Herrn führten, gelehrt – und zwar das, was der Herr sie gelehrt hatte.
Und was sagt Paulus? Wir zitieren Paulus aus 1. Korinther 11, Vers 23:
"Ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch überliefert habe."
Das, was nach unserer Überzeugung und auch in unserer Praxis die Mitte des Gemeindelebens ausmacht, das Gedächtnis des Herrn, ist etwas, das Paulus in Korinth lehrte, indem er sich an die Worte des Herrn aus den Evangelien erinnerte.
Wir übernehmen also wirklich das, was der Herr in den Evangelien lehrte, für die Praxis, für das Leben der örtlichen Versammlung.
So werden wir morgen fortfahren. Ich werde zuerst etwas sagen über das Reich Gottes und die Versammlung Gottes. Dann wollen wir sehen, in welcher Weise die Bergpredigt ganz grundlegende Dinge sagt für unser Zusammenleben als Geschwister in der Versammlung.