Herzlich willkommen zu einer neuen Idee, die ich versuche umzusetzen. Ich bin unterwegs, vielleicht hören Sie die Grillen. Ich habe einen wunderbaren Ausblick in Gottes Natur. Dabei ging es mir durch den Kopf beziehungsweise durch das Herz, durch meine Schaltstelle, dass es wohl sinnvoll wäre, eine Art Reise durch biblische Bücher zu machen. Das wollte ich schon lange: mich durch biblische Bücher blättern.
Ich beginne meine Reise mit einem Propheten. Was ist ein Prophet? Ein Prophet erinnert an den Bund Gottes mit dem Menschen beziehungsweise dem Volk Israel. Er ist gegangen und hält ihnen ihre Bundesuntreue vor. Gleichzeitig ruft er sie zurück zur Bundestreue.
Heute geht es um den Propheten Hesekiel, einen großen Propheten. Mein Jüngster fragt immer, wie lange es dauert, so ein Buch zu lesen. Er ist gerade dabei, den Propheten Hesekiel zu lesen, und ich sage ihm, dass es ein langer Prophet ist – neben Jesaja und Jeremia einer der längeren mit 48 Kapiteln.
Hesekiel ist, wie wir schon im ersten Kapitel erfahren, ein Priester, ein junger Priester. Er befindet sich nicht mehr in seinem Heimatort, sondern – wie wir ebenfalls am Anfang des Buches sehen – im babylonischen Exil. Dort ist er durch eine Wegführung hingelangt. Wir befinden uns ungefähr 600 Jahre vor Christus, also sechs Jahrhunderte vor Christi Geburt.
Der Prophet Hesekiel beginnt mit einer wunderbaren Vision. Vision bedeutet eine Sicht, eine Einsicht, die wir nicht auf natürliche Weise haben können, sondern eine besondere Einstrichtsicht in Gottes Dinge, in die Herrlichkeit Gottes. So heißt es auch: „So war das Aussehen der Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn“ (Hesekiel 1,28).
Es ist eine apokalyptische, eine gewaltige Vision von vier Wesen auf vier Rädern mit Flügeln, die voller Augen sind. Diese Wesen bringen die Weisheit zum Ausdruck, die im Gericht Gottes liegt, sowie die Einsicht darin. Die vier Räder, die in alle vier Himmelsrichtungen gehen, symbolisieren das Universale, die umfassende Herrlichkeit Gottes im Gericht.
Über diesen vier Wesen sehen wir einen Thron. Jedes dieser vier Wesen bewegt sich geradeaus und verfolgt konsequent seinen Kurs.
Nach dieser wunderbaren Vision wird Hesekiel beauftragt. Es folgt eine sogenannte Prophetenberufung, in der vom Geist die Rede ist, der zu ihm kommt. Dieser Geist macht ihm eine Ankündigung, die für einen Propheten zwar nicht unüblich, aus unserem Verständnis jedoch seltsam erscheint. Er sagt nämlich: „Ich schicke dich zu einer unlösbaren Mission.“
Hesekiel soll Prophet sein und die Bundesuntreue des Volkes bezeugen. Es handelt sich um ein Volk, das gar nicht hören will – ganz ähnlich wie bei Jeremia. Im zweiten Kapitel steht vielleicht zehnmal: „Ich sende dich zu einem widerspenstigen Haus.“
Doch der Geist macht ihm auch Mut. Er verspricht, Hesekiel für dieses Mandat auszurüsten. In Vers 8 von Kapitel 3 heißt es, dass Hesekiel sein Angesicht so hart machen soll wie einen Diamanten, ja härter als Felsen seine Stirn. Gleichzeitig fordert er ihn auf, nicht selbst widerspenstig zu werden gegenüber seinem Auftrag.
Hesekiel ist erschüttert. Neben der Tatsache, dass er eine Rolle essen muss – es sind immer wieder sichtbare Zeichenhandlungen, die der Prophet tun muss – ist er später erbittert in der Glut seines Geistes (Kapitel 3, Vers 14). Er setzt sich zu seinen Weggefährten, also zu den anderen Exilanten in Babylon, und ist sieben Tage lang in Entsetzen versunken (Kapitel 3, Vers 15).
Es geht erneut um die Herrlichkeit des Herrn. Die Herrlichkeit ist ein Schlüsselbegriff des Propheten, den wir später noch einmal genauer betrachten werden. In 3,23 wird die Herrlichkeit des Herrn erwähnt, und sie wird mit der Anfangserscheinung verglichen.
Der Prophet muss verschiedene Zeichenhandlungen vollziehen. Zum einen zeichnet er auf einem Ziegelstein Jerusalem ein und simuliert eine Belagerung, sozusagen im Sandkasten. Außerdem legt er sich eine Zeit lang nur auf die linke, dann nur auf die rechte Seite zum Schlafen.
Darüber hinaus muss er über zunächst Menschenkot kochen. Der Prophet ist darüber sehr entsetzt, weil er die Reinigungsgebote eingehalten hat. Er bittet daher um Erleichterung. Gott gewährt ihm diese und lässt ihn den Weizenfladen stattdessen auf Kuhmist zubereiten.
Weiterhin muss er ein scharfes Messer nehmen, sich das Haupt und den Bart scheren und je ein Drittel davon verbrennen und umherwerfen. Diese Handlung symbolisiert das kommende Gericht.
In Kapitel 5,6 und 7 wird eindrücklich beschrieben, wie Gott dem Volk Israel Rechtsbruch, Treubruch und Bundesbruch vorwirft. Dabei ist die Schuld so groß, dass sie schlimmer sind als alle Heidenvölker um sie herum (5,7). Sie haben nach den Bestimmungen der Heidenvölker gehandelt und ihren Mutwillen durch Götzendienst mit Scheusalen und Gräueln getrieben. Es werden viele wichtige und markante Ausdrücke für den Götzendienst verwendet, die diese Verfehlungen verdeutlichen.
Und so kommt es, was auch ein Schlüsselbegriff für das Buch Ezechiel ist, zum Gotteszorn, der vollstreckt wird (5,13). Das Ziel dieses Zorns ist, dass die Menschen durch diesen Eifer und den Grimm, den Gott an ihnen vollstreckt, erkennen sollen, dass er der Herr ist.
Der Refrain des Buches lautet, dass Gott der Herr ist. Gott kündigt an, dass er einen Überrest in seiner Gnade bestehen lassen würde. Wenn er ihr hurerisches Herz gebrochen hat, wird dieser Überrest Abscheu über sich selbst empfinden wegen seiner Bosheit. Er wird erkennen, dass Gott der Herr ist.
Es kommt dazu, dass ein kleiner Teil durch Gottes Gnade zur Umkehr gelangt – und nur, weil Gott sie übrig lässt. Im Propheten fällt immer wieder auf, dass Gott aktiv im Gericht handelt: Er vollstreckt den Grimm, er verderbt, er streckt die Hand aus, er bricht und er richtet.
So heißt es in 7,5: Es kommt ein einzigartiges Unheil über sein Volk. Er gießt seinen Grimm und seinen Zorn aus, er richtet sie. In 7,9 wird deutlich, dass er die Schläge austeilt – ein ausgesprochen aktiv handelnder Gott im Gericht, das ist unübersehbar.
Es soll klar werden (7,19), dass ihr Silber und ihr Gold, ihre eigenen Ressourcen, sie nicht retten können am Tag dieses grimmigen Zornes. Denn Gott wendet 7,22 sein Angesicht von ihnen ab. Prophet, Priester und Ältester können nicht mehr helfen, der König trauert. Alle Verantwortlichen sind ratlos angesichts dieses Gerichts Gottes.
Dann folgt erneut ein Abschnitt, in dem Gott über seine Herrlichkeit spricht und zeigt, wie sie sich schrittweise vom Tempel entfernt.
Das ist eine sehr markante, ja fast bildhafte Darstellung. Der Geist kommt über Hesekiel, und er sieht, wie dieser Geist, wie die Herrlichkeit Gottes, die Schechina, diese Wolke, die die Gegenwart Gottes symbolisiert, sich langsam und schrittweise aus dem Tempel zurückzieht.
Übrigens kehrt sie am Ende des Buches zurück. Kapitel 40 bis 48 bilden einen wunderbaren Kulminationspunkt, an dem die Herrlichkeit Gottes wieder bei den Menschen ist. Vorerst aber geht sie weg, und Hesekiel ist ganz entsetzt, weil selbst im Heiligtum Israel Gräuel und Götzendienst ausgeübt werden.
Schon in Kapitel 8, Vers 6 sagt Gott zu ihm: „Du wirst noch größere Gräuel sehen.“ Auch in Kapitel 8, Vers 15 wiederholt er dies.
Es ist immer wieder interessant, dass beides gezeigt wird: Einerseits das Gericht und die Unbußfertigkeit der Mehrheit, andererseits die Treue einer Minderheit, die durch Gottes Gnade Buße tut und umkehrt.
So wie auch in Kapitel 9, Vers 4, wird ein Zeichen auf die Stirn von einigen Leuten gemacht, die seufzen und jammern über all die Gräuel, die in ihrer Mitte verübt werden. Es war nicht so, dass restlos alle diesem Schrecken zugestimmt hätten.
Auch der Prophet reagiert immer wieder. In Kapitel 9, Vers 8 fällt er auf sein Angesicht, er schreit und fragt: „Gott, ach Herr, Herr, willst du in deinem Zorn, den du über Jerusalem ausgießt, den ganzen Überrest von Israel umbringen?“
Die Herrlichkeit Gottes verlässt den Tempel. Es ist unaufhaltbar, wie diese Herrlichkeit, diese Schreckensweise, aus dem Heiligtum an den Eingang, an die Schwelle des Hauses und dann zum Tor weg von Jerusalem zieht. Für einen damals frommen Israeliten, einen frommen Juden, wäre es undenkbar gewesen, dass sich die Herrlichkeit vom Tempel wegbewegt.
Eine sehr eindrückliche Vision erstreckt sich von Kapitel 8 bis Kapitel 11. Ganz wunderbar ist am Ende von Kapitel 11 die Verheißung der Rückkehr Israels. Worauf wird diese Rückkehr gegründet? Auf einem freien Akt der Gnade Gottes.
Er spricht: So wie er sie zerstreut hat, so wie er sie gerichtet hat, will er sie wieder sammeln (Kapitel 11, Vers 17). Ganz wichtig ist auch Kapitel 11, Vers 19, eine zentrale Verheißung: Er wird ihnen ein einiges Herz geben, einen neuen Geist – die Wiedergeburt, die neue Geburt.
Das fleischene, steinerne Herz werde aus ihrem Leib genommen und ihnen ein fleischendes Herz gegeben, damit sie wieder in seinen Rechtsordnungen leben, sie bewahren und tun.
Dann folgt die wunderbare Bundesformel: „Sie sollen mein Volk sein“ (Vers 20) und „Ich will ihr Gott sein“. So wird immer wieder die Ankündigung der Wiederherstellung durch die Bundestreue Gottes, durch seine Gnade, betont.
Wir wissen aus dem Verlauf der gesamten Schrift, dass dies durch den Mann geschehen wird, der in die Bresche springen würde – den Gottmenschen Jesus Christus.
Hesekiel kündigt die Wegführung des Volkes an, dieses widerspenstige Volk. Er muss weitere Zeichenhandlungen vollziehen. In Kapitel 12, Vers 5, heißt es, dass er vor ihren Augen die Wand seines Hauses durchbrechen und daraus weggehen muss, um ein Wahrzeichen zu werden.
Es geht immer wieder darum, dass das Volk erkennt, dass der Herr es ist, der die Zerstreuten wieder sammelt. Dies ist der beständige Refrain dieses Buches.
Gott richtet auch die falschen Propheten, wie in Kapitel 13, so wie er es auch in anderen Propheten tut. Er spricht ein Wehe aus, eine programmatische Ansage: „Wehe den törichten Propheten, die ihrem eigenen Geist folgen und dem, was sie nicht gesehen haben“ (Kapitel 13, Vers 3).
Ihr seid nicht in die Risse getreten und habt keine Mauer um das Haus Israels gebaut. Sie haben das Volk schutzlos preisgegeben durch falsche, eigengeleitete und selbstsüchtige Ansagen, die nicht auf die Bundesuntreue des Volkes hingewiesen haben. Darum kommt der Zorn Gottes über sie.
Kapitel 14 ist ein weiteres sehr wichtiges Kapitel. Dort wird die innere Dimension des Götzendienstes dieses Volkes beschrieben. Dabei geht es nicht nur um das Volk allgemein, sondern besonders um die Verantwortlichen.
Gott fordert sein Volk auf, in 14,6 umzukehren und sich von den Götzen abzuwenden. Diese Götzen, die sie sich gemacht haben, sollen sie ausrotten und stattdessen den Herrn selbst suchen. Leider tun sie dies nicht. Die Götzen ihres Herzens bleiben bestehen – ein unglaublich interessanter Ausdruck. Hier wird deutlich, dass der Götzendienst bereits eine Herzenseinstellung ist und das Innere betrifft.
Deshalb muss ein unerbittliches Gericht ausbrechen. Wie Gott es schon zuvor angekündigt hat, wird eine Hungersnot gesandt sowie das Schwert. Dieses Gericht ist so schlimm, dass in Kapitel 14,14 selbst drei gerechte Männer – Noah, Daniel und Hiob – nur ihre eigene Seele retten können. Sie sind nicht mehr in der Lage, das Volk zu retten.
Jerusalem Kapitel 15 gleicht einem unnützen Rebholz, das Gott dort hingeben muss. Kapitel 16 ist ein langes Kapitel mit fast 63 Versen. Es vergleicht Jerusalem mit einer untreuen Ehefrau und zeichnet die liebevolle Behandlung Gottes nach. Gott holt sie sehr berührend zum Leben zurück.
Ab Vers 4 nach ihrer Geburt geht Gott vorüber, sieht sie in Blut zappeln und beobachtet, wie sie groß und stark wird. Er gibt ihr seine Liebe und viele bunte Zusagen. Doch sie verlässt sich auf ihre Schönheit, als sie erwachsen ist (16,15). Sie treibt Hurerei mit anderen, lässt sich auf sie ein und opfert sich ihnen dar (16,25): „Du spreitest deine Beine gegen alle, die vorübergehen, und hast schlimmer Hurerei getrieben.“
Zuerst wird die Untreue Jerusalems dargestellt, dann die Untreue Israels und schließlich Judas. Auch hier endet es damit, dass Gott in seinem Eifer und Zorn über die Bundesuntreue Gericht halten und sie wegnehmen muss. Die Untreue Jerusalems wird sogar mit Sodom und Gomorra verglichen – eigentlich das schlimmste Beispiel, mit dem Gott sogar sein eigenes Volk vergleicht.
Doch in Vers 53 heißt es, Gott wird ihr Geschick wenden. In Vers 54 bewirkt er, dass sich einige für das schämen, was sie getan haben, und umkehren werden.
Es folgen eindrückliche Bilder von einem großen Adler und einem Weinstock, die auch ein Zeichen für einen der letzten Könige Judas, Zedekiah, sind – für seine Untreue. Im Kapitel 17 verheißt Gott eine Wiederherstellung: Er wird vom Zipfel des hohen Zedernbaumes nehmen und ihn wieder einsetzen. Schösslinge werden wieder aufbrechen, und ein prächtiger Zedernbaum wird entstehen.
Dieses wunderbare Bild entsteht nicht durch die Treue des Volkes, sondern durch die Treue Gottes.
Gott richtet jeden nach seinem Werk – so steht es eindrücklich als Überschrift über dem achtzehnten Kapitel. Auch hier nimmt er Bezug auf ein Sprichwort des Volkes und sagt, dass jeder eigentlich für seine eigene Ungerechtigkeit verantwortlich ist. Gott wünscht, dass der Gottlose umkehrt und nicht in seinen Sünden stirbt. Dieses Thema wird auch sehr oft zitiert.
Es folgt eine Klage über die Fürsten Israels. Immer wieder sehen wir in den Propheten, dass die Verantwortlichen des Volkes zur Rechenschaft gezogen werden. Ihre Unfähigkeit und auch ihr Unwille, nach dem Gesetz Gottes zu leben und das Volk zu einem gehorsamen Leben zu führen, werden deutlich. Deshalb weise ich programmatisch immer wieder auf den Zorn Gottes über sein Volk hin.
Auch im zwanzigsten Kapitel schicken einige der Ältesten, die für die Wegführung verantwortlich sind, Boten zu Gott, um ihn zu befragen. Gott antwortet darauf: „So war ich lebendig“, spricht Gott der Herr, „ich will mich von euch nicht befragen lassen.“ Warum nicht? Weil sie immer noch im Götzendienst verharren. Sie haben in diesem Götzendienst das Gefühl, weiterhin ein Anrecht darauf zu haben, Gottes Volk zu sein.
In Vers 7, Kapitel 20, heißt es: „Jeder werfe die Gräuel weg, die er vor seinen Augen hat, und verunreinigt euch nicht an den Götzen Ägyptens. Ich bin der Herr, euer Gott!“ Doch sie waren widerspenstig, und zwar durch ihre ganze Geschichte hindurch. Immer wieder wird die Geschichte Gottes mit seinem Volk erzählt – von Ägypten bis ins Land der Wegführung. Gott hat sie immer wieder verschont, war nachsichtig und hat sie an seinen Bund und seine Gebote erinnert. Doch sie wollten nicht gehorchen. Wieder und wieder kommt das Wort „widerspenstig“ vor.
Auch in Kapitel 20 wird erneut die Verheißung der Wiederherstellung Israels gegeben. Gott wird gnädig sein und sein Volk annehmen (Kapitel 20, Vers 40).
Das Kapitel ist durchwoben von Gerichtsankündigungen, die kurze Bezüge zur Zeitgeschichte herstellen – zu den letzten Tagen, zu den letzten Jahren der letzten Könige Judas. Es gibt Warnungen vor anhaltendem Ungehorsam und Abfall sowie vor dem kommenden Gericht und der endgültigen Zerstörung des Tempels. Gott würde den König von Babel nach Jerusalem lenken.
Bis zum Schluss zeigt sich dieses Bild auch in Jeremia und Hesekiel, der bereits in der Verbannung war. Das Volk wollte bis zum Schluss nicht hören. Sie hielten die Prophezeiungen für falsche Wahrsagungen und folgten lieber den Lügen ihres eigenen Herzens. So muss Gott sie zunichte machen, richten und wegführen. Er schüttet seinen Grimm und seinen Zorn über sie aus – ein Wort, das so oft vorkommt.
Er hält ihnen ihre Gräuel vor (Hesekiel 22,2) und sucht unter ihnen, wie es in Vers 30 heißt, einen Mann, der die Mauer zumauert und in den Riss treten könnte, um das Land vor dem Untergang zu bewahren. Doch er findet keinen.
Das ist die große, ungelöste Frage des Alten Testaments: Wer würde in den Riss der Bundesuntreue des Volkes treten? Wie kann Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Gnade und der gnädigen Wiederannahme des untreuen Volkes verbunden werden? Dies ist nur durch den Gottmenschen Jesus Christus möglich, der in diesen Riss treten würde. Bereits Hesekiel 22,30 weist darauf hin.
Kapitel 23 enthält eine lange Erörterung mit einem Gleichnis, das dem sechzehnten Kapitel ähnlich ist. Es geht um Ohola, die Israel darstellt, und Holibard, die zwei Schwestern symbolisieren. Diese werden als zwei Frauen beschrieben, die Hurerei treiben, prächtig gekleidet sind und schlimme Dinge mit den umliegenden Völkern tun.
Interessanterweise spricht Gott in Hesekiel 23,9 davon, dass er sie preisgibt. Das Preisgeben ihrer eigenen Lüste und Begehren des Herzens ist bereits ein Teil des Gerichts. Die jüngere Schwester, Juda, wollte nicht sehen und sich auch nicht am schlechten Beispiel der Älteren umkehren oder Buße tun. Stattdessen trieb sie es noch schlimmer.
Deshalb muss Gott beide Schwestern dem Gericht übergeben und seinen Eifer spüren lassen (Hesekiel 23,25). Beide müssen den Becher des Zorns austrinken. Diese bildhafte und eindrückliche Gerichtssprache verdeutlicht die Situation.
Auch die Bilder der Hurerei und Prostitution sind sehr präsent. Sie stehen sinnbildlich für die große Untreue durch den Götzendienst des Herzens dieses Volkes.
Ja, so kommen dann die letzten Gerichtsworte in Kapitel 24 über Jerusalem, und es folgt eine sehr, sehr eindrückliche Schlussfolgerung. Es ist vergebliche Mühe, am Bild des rostigen Kessels wird deutlich: Der Rost der Untäuer, also die Sündhaftigkeit dieses Volkes, geht nicht weg.
Hesekiel muss erneut eine Zeichenhandlung vollziehen. Dieses Mal ist sie besonders drastisch: Seine Frau stirbt, und er darf keine Totenklage für sie halten. Stattdessen muss er, wie es in Hesekiel 24,17 heißt, seinen Kopf bunt binden, seine Schuhe an den Füßen lassen, den Bart nicht verhüllen und all diese üblichen Trauerrituale nicht vollziehen.
Das bedeutet, der Prophet ist zutiefst einbezogen. Er ist immer wieder entsetzt und erlebt existenziell diese Trennung, sogar den Tod seiner Frau, als Zeichenhandlung des geistlichen Todes des Volkes. Gleichzeitig steht dies auch für den Zorn und die Gerichtshandlung Gottes über sein Volk.
Nach diesem ersten großen Teil folgt ein weiterer Abschnitt, möglicherweise kein bloßer Einschub, sondern ein eigenständiger Teil. Er umfasst die Kapitel 25 bis 32 und enthält verschiedene Aussagen über die Nachbarvölker.
Das Alte Testament ist keineswegs nur auf Israel bezogen. Es betrachtet Israel vielmehr als Verheißungsträger im Hinblick auf den kommenden Messias und stellt es in Beziehung zu allen anderen Völkern. Dabei bleibt der Refrain erhalten, dass am Ende alle diese Völker erkennen sollen, dass Jahweh, der Herr, die Herrschaft (Lordship) anerkannt werden muss. Darum geht es letztlich.
Es geht um Gottes Herrlichkeit und um die Wiedergewinnung seiner Herrschaft. Diese Herrschaft behält er zwar immer, doch durch die Sünde ist sie nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich in eine große Schieflage geraten. So sehen wir Gottes Gerichtshandeln und Heilshandeln parallel ablaufen.
Ezechiel muss deshalb über die Ammoniter, die Edomiter, die Moabiter und die Philister sprechen. Besonders interessant ist die lange Weissagung gegen Tyrus in den Kapiteln 26 bis 28. Tyrus war eine berühmte Hafenstadt und ein Handelszentrum.
Diese Weissagung über Tyrus ist sehr eindrücklich und detailliert beschrieben. Trotz des großen Reichtums, der Vorsorge, der Weisheit und der guten Erfindungen – sowohl in der Schiffsbaukunst als auch durch die besten Spezialisten aus allen Völkern – nützt all das nichts, wenn Gott eingreift und den Untergang herbeiführt.
Alle werden erschrocken sein und sich fragen, wie es möglich ist, dass eine strategisch einmalig gelegene Stadt mit solchem Reichtum, solcher finanziellen Kraft und einem Expertenwissen so schnell zugrunde gehen kann. Dies ist ganz ähnlich wie in Offenbarung 18 ein Zeichen des Gerichtshandelns Gottes über den Reichtum der Völker.
Dieser Reichtum war in diesem Fall kein Zeichen von Gottes Segen, sondern Ausdruck eigenmächtigen und stolzen Handelns, das zum Gericht Gottes geführt hat.
Es folgt eine längere Weissagung, die sich auf Ägypten bezieht, in den Kapiteln 29 bis 32. Dort wird unter anderem der Pharao als ein Flussungeheuer im Nil dargestellt.
In dieser Prophezeiung wird deutlich, dass all diese zentralen Versorgungsmittel, wie zum Beispiel die Fruchtbarkeit des Nil-Deltas, nichts nützen werden, wenn Gott Gericht hält. Der Mensch verlässt sich nicht auf sich selbst, doch in diesem Selbstvertrauen wird er schwer enttäuscht. Dies führt zu großer Angst.
In Kapitel 30, Vers 4 und Vers 9 wird beschrieben, wie Größe erniedrigt und Stolz beschnitten wird. Der Grund dafür ist, dass alle erkennen sollen, wer wirklich an erster Stelle steht. Jeder, der sich an die Stelle Gottes setzt, wird gedemütigt werden, denn dieser Platz gehört allein ihm.
Somit enthalten diese Kapitel zwei lange Prophezeiungen: eine über die Stadt Tyrus und eine weitere über das Land Ägypten.
Wir sehen in den Kapiteln 33 bis 39 verschiedene Verheißungen, die sich eher nicht mit dem Gericht, sondern mit der Wiederherstellung des Volkes nach dem Exil auseinandersetzen.
Es zeigt sich also ein großer erster Teil bis Kapitel 24, dann folgen die Völkerprophezeiungen in den Kapiteln 25 bis 32. Anschließend gibt es in den Kapiteln 33 bis 39 einen weiteren Abschnitt, der mit dem Wächterdienst des Propheten beginnt. Es ist sehr interessant, dass der Prophet die Verpflichtung hat, das Volk zu warnen. Wenn er es nicht warnt, lädt er die Schuld auf sich.
Kapitel 34 enthält eine sehr, sehr interessante Prophezeiung gegen die untreuen Verantwortlichen, die als Hirten verglichen werden. Diese Hirten weiden sich selbst anstatt ihrer Schafe. Sie führen die Schafe nicht auf eine gute Weide, sondern zerstreuen sie, überlassen sie sich selbst und weihen sie dem Untergang.
Es wird aber auch eine initialische Prophezeiung gegeben: Ein Knecht Davids, ein Nachkomme Davids, wird kommen. Er wird einen Friedenspunkt schaffen und als wahrer Hirte das Schwache stärken und wiederherstellen. Das Schwache wird wunderbar gemacht.
Dann folgt eine Prophezeiung über Edom. Kapitel 36 enthält eine zentrale Rückkehrprophezeiung für Israel, wiederum mit dem Ziel, dass sie die Herrschaft Gottes anerkennen. Darin sind die wunderbaren, bekannten Verse enthalten, ähnlich wie im Kapitel 11, in denen es heißt, dass Gott das Land von den Götzen reinigen wird.
In Vers 26 heißt es: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euer Inneres geben. Ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“ Es geht um diese Wiedergeburt, diese Wiederherstellung.
Doch wie kann das geschehen? Am Ende des Buches wird darauf hingewiesen, dass dies durch das Opfer von Jesus Christus möglich ist. Jesus ist selbst der Tempel, wie es in Johannes 2 beschrieben wird, und wohnt danach in seinem Volk. Im ersten und zweiten Korintherbrief wird gesagt, dass jeder einzelne Gläubige ein Tempel ist. Auch das Volk Gottes kann gemeinsam Gottes Tempel und Behausung darstellen. Dies geschieht dadurch, dass Jesus Christus das Haupt ist und die Strafe für den Ungehorsam seines Volkes getragen hat.
Kapitel 37 beschreibt eine eindrückliche Vision von Totengebeinen, die zusammenrücken. Sie symbolisiert die Auferstehung des israelischen Volkes. Gleichzeitig ist sie ein Hinweis auf die Wiederbelebung dieses geistlich toten Menschen, also Gottes Volkes. Die toten Gebeine, die zusammenrücken, stehen für diese geistliche Erneuerung.
In den Kapiteln 38 und 39 folgt eine Weissagung gegen Gog und Magog. Dabei stellt sich oft die Frage, wo genau das stattfindet und ob es sich dabei um Russland handelt oder welche Völker gemeint sind. Auch hier geht es erneut um Wiederherstellung, Gericht und Erneuerung.
Es wird gesagt, dass dies in der letzten Zeit auf das Land zukommen wird (Ezechiel 38,8). Außerdem wird betont, dass Gott sich als heilig erweisen wird. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel. Die Menschen werden erkennen, dass Gott, der Herr, dies tun wird. Sie werden sehen, dass er der Herr ist und dass er in seinem Eifer seinen Zorn vollziehen wird, um seine Herrlichkeit herauszustellen.
Gleichzeitig wird Gott auch wieder eine Wiederherstellung seines Volkes bewirken. Er wird sich verherrlichen. In Kapitel 39, Vers 13, heißt es, dass dies ihm zum Ruhm gereichen wird.
Kapitel 40 bis 48 enthalten Visionen, die von einem neuen Tempel und einem erneuerten Israel handeln. Es wurde viel darüber spekuliert und verschiedene Annahmen getroffen, wann das sein würde und von welchem Tempel hier die Rede ist. Persönlich gehe ich davon aus, dass sich dies auf Christus und den Neuen Bund bezieht, in dem er in seinem Volk wohnt. Es mag auch andere Hinweise geben, doch wichtig ist auf jeden Fall diese Zielrichtung.
Der Prophet Hesekiel ist ja Priester, und dieser priesterliche Schlussgedanke zieht sich als Zentralthema durch das gesamte Alte und Neue Testament. Es ist der Gedanke des Tempels, der Bundesformel „Ich werde bei meinem Volk wohnen, ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein“. Diese schlussendliche Erfüllung vollzieht sich dann in Offenbarung 21, hier aber schon in den Kapiteln 40 bis 48 des Propheten Hesekiel vorgeschattet.
Es wird detailliert beschrieben, wie dieser Tempel aufgebaut wird und welche Maße er hat. Dabei fällt auf, dass er zwar einige Ähnlichkeiten mit dem salomonischen Tempel aufweist, aber zum Teil kleinere Maße hat. Hesekiel wird von einem Engel herumgeführt, der die Maße abmisst und die Materialien sowie die Bauweise detailliert vorstellt. Ähnliches kennen wir bereits von der Stiftshütte und dem salomonischen Tempel.
Ganz wichtig ist Kapitel 43: Die Herrlichkeit, die Schechina, kehrt zurück und erfüllt den Tempel. Die Herrlichkeit des Herrn kommt zurück in das Haus des Tempels. Es heißt, dass Gott ewiglich inmitten der Kinder Israels wohnen wird. Es geht um diese Rückkehr und die Wiedervereinigung mit seinem Volk durch das Opfer.
Direkt danach wird der Brandopferaltar beschrieben, ebenso wie die Erneuerungen im Heiligtum und die Ordnungen für die Priester. In Kapitel 45 folgt die Aufteilung des Landes rund um den Tempel, Anordnungen für den Gottesdienst sowie die Aufgabe des Fürsten. Dieser Fürst wird ebenfalls Opfer darbringen und den Dienst der Erinnerung an das einmalig geschehene Opfer von Jesus Christus ausüben. Dies soll eine ewig gültige Ordnung sein (Kapitel 46, Vers 14).
Sehr schön ist auch die Vision in Kapitel 47 von einem Wasserstrom, der aus dem Tempel hervorfließt. Hesekiel watet zunächst nur bis zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien und schließlich ganz in diesem Wasser. Diese Vision ist eine wunderbare Anspielung auf die ganzheitliche Wiederherstellung, vielleicht auf den neuen Himmel und die neue Erde. An den Ufern des Stroms wachsen Bäume, die jeden Monat Früchte tragen und deren Blätter als Speise und Heilmittel dienen. Dies ist ein sichtbares Zeichen der Wiederherstellung, vermutlich auf dem neuen Himmel und der neuen Erde.
Das Buch endet mit der Aufteilung des Landes für das Volk Israel und die verschiedenen Stämme. Es kulminiert im Aufruf in Kapitel 48, Vers 35: „Der Herr ist hier“. Es geht um die Gegenwart Gottes unter seinem durch Jesus Christus versöhnten Volk und um die Wiederherstellung.
So ergibt sich ein großer Bogen zwischen Gericht und Wiederherstellung. Es geht um den Mann, der in den Riss treten würde und durch sein Opfer den Weg schafft, damit Gott wieder unter seinem Volk wohnen kann. Ein wahrhaft priesterlich-prophetisches Buch mit einer wunderbaren Vision und einer sehr breiten Sicht – angefangen von der Herrlichkeit Gottes bis hin zur endgültigen Herrlichkeit.
Dies ist auch die Zielrichtung der ganzen Bibel: die Ehre Gottes und seine Herrlichkeit, die er durch Gericht und Wiederherstellung in seinem Heilshandeln verwirklicht. Sein Volk ist durch das Opfer eingeschlossen. Was für ein herrliches Thema!