Am Sonntag Kantate steht das Singen, das Lob im Mittelpunkt. Die Apostelgeschichte berichtet von einer Zellenkantate. Sie beginnt mit einem Duett für zwei Männerstimmen und endet mit ein­em vielstimmigen Lob Gottes. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Liebe Gemeinde, jubeln sollen wir, das meint der letzte Sonntag Jubilate. Beten sollen wir, das meint der nächste Sonntag Rogate. Und singen sollen wir, das meint der heutige Sonntag Kantate. Er denkt nicht nur an Solisten. Er spricht nur die Soprane und Tenöre und Bässe an. Er will nicht nur die Gesangvereine und Kirchenchöre und Vocalensembels motivieren. Dieser Sonntag ist ein Generalauf­ruf an alle Stimmträger: Auch wenn ihr denn Stimmbruch habt, singt! Auch wenn ihr auf der Tonleiter hinauf- und herunterpurzelt, singt! Auch wenn ihr nicht wie ein Star, sondern nur wie eine Krähe singen könnt, singt! Singt dem Herrn! Preist den Herrn! Ehret Gott mit einer Kantate. Nur was für eine?

Laut Lexikon gibt es eine Vielzahl von solchen Gesangswerken, die aus dem Schaffen großer Männer wie Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann oder Johann Christoph Graupner stammen. Ich las von Festkantaten, die rein lyrischen oder dramatischen Charakter haben. Bei Hochzeitsfeiern oder Huldigungen werden sie in Festsälen aufgeführt. Soll unsere Kantate eine Festkantate sein? Ich las von Choralkantaten, die ausschließlich die einzelnen Strophen eines Gesangbuchliedes zugrunde legen. Bei Gottesdiensten oder Andachten werden sie in Kirchengebäuden aufgeführt. Soll unsere Kantate eine Choralkantate sein? Ich las von Kammerkantaten, die das vokale Gegenstück zu Triosonaten bilden. Bei Hausmusiken oder kleinen Konzerten werden sie in Salons aufgeführt. Soll unsere Kantate eine Hauskantate oder Zimmerkantate oder gar Kammerkan­tate sein?

Gott sei Dank ist so viel Musikalität und Virtuosität nicht verlangt. Unser Text berichtet von einer Zellenkantate. Sie beginnt mit einem Duett für zwei Männerstimmen und endet mit ein­em vielstimmigen Gloria Patri. In Philippi, einem römischen Zentrum für Bildung und Kunst, war sie zum ersten Mal zu hören. Aber nicht, wie man annehmen sollte, im großen Haus der mazedonischen Staatstheater. Auch nicht im runden Bau der städtischen Liederhalle. Und nicht im Weißen Saal des kaiserlichen Schlosses. Die Uraufführung der Zellenkantate fand im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses statt. Und weil sie dort solch nachhaltigen Eindruck hinterließ, wurde sie immer wieder hinter Gittern gesungen und will heute immer noch im Gefängnis musiziert werden. Dazu braucht es gar keine antike Haftanstalt mit ihren finsteren und muffigen Löchern. Da ist die chic eingerichtete Wohnung, in der sich Partner nur noch streiten, wie ein Gefängnis. Da ist der gut bezahlte Arbeits­platz, an dem sich Kollegen nur noch mit Ellenbogen behaupten kön­nen, wie ein Gefängnis. Da ist das blitzsaubere Krankenzimmer, in dem ein Operierter seit Wochen liegen muss, wie ein Gefängnis. Da ist die sonnige Altenstube, in die einen die Kinder abgeschoben haben, wie ein Gefängnis. Weil es so viel Gefängnisse gibt, in denen wir leben und in denen wir leiden, deshalb tun wir gut daran, auf diese Zellenkantate zu hören.

1. Sie beginnt als Kreuzkantate

Paulus und Silas sind eingelocht. Man hat ihnen übel mitgespielt. Mit blutenden Köpfen und zerrissenen Kleidern machen sie einen erbärmlichen Eindruck. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Bei aufgehender Sonne gingen sie im­mer zur Gebetsstunde. Gebetszeiten waren für sie eine Selbstverständlichkeit. Wir brauchen Ordnung und Regelmäßigkeit beim Gebet. Deshalb zogen sie in der Frühe los. Aber dann kam das erste Kreuz. Als sie unterwegs einer besessenen Frau den bösen Geist austrieben, war im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel los. Alle Bürger der Stadt tobten vor Wut. Wie ein Gewitter entlud sich der Volkszorn über diese Betbrüder. Das zweite Kreuz bestand nun darin, dass man sie kurzerhand festnahm und durch die Gassen trieb wie das Vieh. Hass und Gemeinheit war selbst für den schnell herbeigekarrten Kadi nicht mehr zu bremsen. Auf dem Marktplatz tobte sich eine ent­setzliche Lynchjustiz an ihnen aus. Und das dritte Kreuz folgte dann, als der Vollzugsbeamte bei solch schweren Jungs verschärfte Haftbedingungen anordnete. Er stieß die beiden Arrestanten die Kellertreppe hinunter und spannte ihre Füße in den grausamen Stock. Die Tür wurde mit Balken sorgsam verrammelt. Schmerzende Glieder, blutende Wunden, klaffende Striemen. Zum Stöhnen ist’s, aber sie singen. Zum Heulen ist’s, aber sie loben. Zum Verzweifeln ist’s, aber sie stimmen eine Cantate Domine an. Warum? Haben sie Wundfieber? Plagen sie Bewusstseinsstörungen? Sind sie von Sinnen?

Nein. Sie spüren nicht ihre drei Kreuze auf dem Buckel, sondern sehen das Kreuz auf dem Rücken ihres Herrn. Jesus wurde auch festgenommen und durch die Straßen gezerrt. Jesus wurde auch geprügelt und ungerecht behandelt. Jesus wurde auch eingesperrt und in Fesseln gelegt. Dieser Herr, der wirklich mitfühlen kann und ihre Lage kennt, hat sie auch inmitten ihrer Kreuze nicht vergessen. Es gibt kein Verlies mehr, in dem ich aus dem letzten Loch pfeifen müsste. Es gibt keine Kette mehr, die mir die Stimme verschlagen könnte. Es gibt kein Kreuz mehr, das mich nicht schnaufen lässt. Seit Jesus am Kreuz gebetet hat, können wir mit 3 oder 4 oder 5 oder noch mehr Kreuzen loben. Loben heißt nachsingen. Loben heißt mitsingen. Loben heißt einstimmen: “Gott hat es alles wohl bedacht und alles, alles recht gemacht, gebt unserem Gott die Ehre.” Ein Paul Gerhardt hat das getan. Unter dem Kreuz des Dreißigjährigen Krieges hat er gesungen: “Wohl dem, der einzig schauet, nach Jakobs Gott und Heil. Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil.” Ein Dietrich Bonhoeffer hat das getan. Unter dem Kreuz eines Todesurteils hat er gereimt: “Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.” Ein Jochen Klepper hat das getan. Unter dem Kreuz der Judenverfolgung hat er gerufen: “Nicht klagen sollst du, loben!” Jetzt sind wir alle dran. Keine Kette ist so schwer, kein Gefängnis ist so dunkel, kein Kreuz ist so groß, als dass nicht dennoch das Lob Gottes mit der Zellenkantate aufklingen könnte. Sie beginnt als Kreuzkantate.

Das ist das Erste, und das Zweite, was wir aus diesem Text entnehmen können:

2. Sie wird zur Paukenschlagkantate

Aus dem anfänglichen Piano wird ein kräftiges Forte. Plötzlich ist im Zellenbau das Klirren der Ketten, das Drehen der Schlüssel, das Knarren der Türen, das Brüllen der Wächter, das Knallen der Peitschen, das Stöhnen der Ärmsten übertönt vom Hymnus der mitternächtlichen Lobsänger. Ein Duo wird gesungen. Ein Wohlklang geht durch die Wände. Ein Nacht­konzert erfüllt den Trakt. Auch wenn ihre Sperrsitze hinter abgesperrten Türen nicht die beste Akustik haben, so tun den Mithäftlingen diese Klänge wohl. Das Loblied hat immer stärkenden Charakter. Der Lobgesang hat immer einen tröstenden Aspekt. Der Lobpreis ist die Arznei für die kranke Seele.

Nur ein Einziger im ganzen Haus scheint dies alles zu überhören. Nur ein Einziger im ganzen Bunker scheint dies alles zu verschlafen. Der Herr Gefängnisdirektor höchstpersönlich schlummert seelenruhig in seinen Kissen. Was soll ihm auch seinen wohlverdienten Schlaf nehmen? Er ist doch gerecht. Unter lauter Strolchen sorgt er für die Gerechtigkeit. Er ist doch pflichtbewusst. Der Dienst wird nicht locker vom Hocker genommen. Er ist doch pünktlich. Bei ihm geht nichts durch die Lappen. Deshalb hat er eine weiße Weste. Deshalb hat er ein ruhiges Gewissen. Deshalb schläft er den Schlaf des Gerechten. Trotzdem wird schließlich auch er aus seinen Träumen gerissen. Gott setzt nämlich auf das Fortissimo der Zellenkantate noch eins drauf. Wie ein Paukenschlag dröhnt es durch die kahlen Gänge und Treppenhäuser. Ein Erdbeben wirft den Mann aus dem Bett. Auf dem schwankenden Fußboden kommt er zu sich. Kopflos stürmt er durch die aufgesprungenen Türen. Als Mann vom Fach ist ihm völlig klar, dass kein schräger Vogel bei solcher Chance im Käfig hockenbleibt. Auch wenn ihn, den treuen Staatsdiener, wegen höherer Gewalt keine direkte Schuld trifft, kostet ihn jede Gefangenenbefreiung den angesehenen Posten. Seine ganze Karriere ist dahin. Dem Selbstmord nahe steht er in der Zelle der beiden Missionare. Im Fackellicht kennt er die Männer und er erlernt sich selbst. Nicht diese bedauernswerten Gestalten, sondern er selber ist verloren und bedarf eines Retters. Deshalb ruft er nach diesem Paukenschlag wie ein Sprecher in diese Kantate hinein: “Was soll ich tun, dass ich gerettet werde?” Messerscharf erkennt er den alles entscheidenden Kontra­punkt, auf den alles gestimmt ist: Rettung.

Das Evangelium ist kein Leitfaden für Asoziale. Das Evangelium ist keine Erziehungs­fibel für Gesetzesübertreter. Das Evangelium ist keine Handreich­ung für Vorbestrafte. Das Evangelium ist vielmehr das Rettungs­seil, das Gott in den trüben Strom der Zeit hineingeworfen hat, um alle zu retten. Deshalb setzt Gott seine Paukenschläge, Erdbeben, Erschütterungen, um auch den Letzten wachzurütteln, dass er eines Retters bedarf, wenn er nicht rettungslos untergehen will. Jesus ist der Retter. Such ihn. Fass ihn. Halt ihn. “Glaube an den Herrn, so wirst du und dein Haus selig.”

So einfach ist es. Nicht was wir tun mit Meditation, Esoterik, okkulten Beschäftigungen, sondern was er getan hat und heute wieder tun will, bringt uns zu Gott. Diese Tat Jesu wird in der Zellenkantate besungen. Sie beginnt als Kreuzkantate. Sie wird zur Paukenschlagkantate, und …

3. Sie endet in einer Kaffeekantate

“Und der Aufseher führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch.” Ob es wirklich Kaffee war oder Tee oder kalte Säfte sei dahingestellt. Aber auf dem Stockwerk, wo sonst wohl “Privat” oder “Kein Zutritt” stand, wurde ein Fest, sagen wir in heutigem Deutsch: eine “midnightparty” gefeiert. Das ganze Haus war dazu eingeladen. Die aus dem Bett ge­trommelten Mitarbeiter mögen sich noch verdutzt und erstaunt die Augen gerieben haben. Die aus dem Schlaf gerissenen Kinder mögen sich noch weinend und frierend in die Arme der Mütter gedrückt haben. Die aus den Zellen befreiten Häftlinge mögen sich noch fragend und zweifelnd in der Runde umgesehen haben. Aber mittendrin stand der strahlende Kerkermeister und freute sich wie ein Schneekönig, dass er zum Glauben gekommen war. Ihm ist aufgegangen, dass die Sache mit Jesus keine Privatsache ist. Er ließ sich ja nicht im Lazarettraum, wo er den gebeutelten Missionaren die Wunden ausrieb, schnell mal taufen, um sich dann schleunigst wieder in den Federn zu verkriechen. Alle sollten wissen, dass er ab sofort einem neuen Herrn gehört.

Und dieser Herr will immer seine Leute an einem Tisch: den Direktor neben dem Vollzugsbeamten, den Missionar neben dem Halunken, den Greis neben dem Halbstarken. Sicher waren sie politisch unterschiedlichster Ansicht. Über Römer in Griechenland stritten sie genauso wie wir über Russen in Afghanistan oder Juden im Westjordanland. Sicher waren sie auch charakterlich unterschiedlichster Prägung. Wer an den Blechnapf gewöhnt ist, tut sich mit Porzellan und feinem Benimm schwer. Aber Gäste an der Tafel Jesu sind nicht von links oder rechts, sondern von oben. Sie sind nicht rot, grün oder schwarz, sondern erlöst. Sie sind nicht immer einer Meinung, sondern eines Sinnes. Wo Jesus zur Mitte wird, da können so widerspenstige Menschen, so unsympathische Menschen, so verschieden denkende Menschen miteinander eine Kaffeekantate zum Lobe Gottes anstimmen. Auch wenn der eine seine Oberstimme dazu trällert und der andere mit einer Unterstimme alles untermalt und der dritte leicht falsche Tone mit hineinfließen lässt, was tut’s?

Gäste an der Tafel Jesu sind nicht von links oder rechts, sondern von oben. Sie sind nicht immer einer Meinung, sondern eines Sinnes.

Hauptsache Singen. Hauptsache Kantate. Hauptsache: Singt dem Herrn.

Amen

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]