Herr Präsident, ganz herzlichen Dank für die Einladung! Ich freue mich, wieder einmal hier in Ihrem schönen Steinheim, im Gemeindehaus und auf der Ostalb sein zu können.
Zuerst ein paar Worte für diejenigen, die mich noch nicht kennen – ich kann auch sagen, Sie werden mich noch kennenlernen. Viele kennen mich seit Jahren und Jahrzehnten. Herr Scheuffele kennt sogar noch meinen Großvater aus Weilheim, und Frau Hiller bin ich über viele Jahre hinweg auf unserem gemeinsamen Weg begegnet.
Ich bin in Stuttgart aufgewachsen und war gern in einigen Vikariaten tätig. Besonders interessant und hilfreich waren für mich drei Jahre im Vorzimmer von Landesbischof Haug. Zagimmer war der letzte Bischof unserer Kirche. Heute muss ein Bischof das Sprachrohr der zufälligen Mehrheit im Oberkirchenratskollegium sein. Bischof Haug konnte hingegen auch aus der Sitzung des Oberkirchenrats herausgehen, die Tür zuschlagen und das sagen, was er als Bischof für richtig hielt – auch im Hinblick auf die geistliche Ausrichtung der Kirche.
Bei ihm habe ich aber auch gesehen, welch große und schöne Verantwortung es ist, in den Synoden der Kirche, dem Parlament der Kirche, mitzuarbeiten. Haug hat immer gesagt: „Ich wünsche mir eine starke Synode.“ So kam es, dass ich ab meinem 65. Lebensjahr drei Jahrzehnte lang in unserer württembergischen Landessynode war, außerdem in der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland und von dort aus auch in die Weltchristenheit hinein.
Weltkirchenkonferenzen und Kontakte mit der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation gehören ebenfalls dazu. Zuvor hatte ich ein sehr schönes Pfarramt am Ulmer Münster. Dort sind unsere Kinder geboren, die Ulmer Spatzen, von 1959 bis 1965 – das ist schon lange her.
Danach durfte ich zehn Jahre lang Leiter unseres württembergischen Jugendwerks sein, gerade in jenen revolutionären Jahren, die besonders die Jugend ergriffen haben. Anschließend war ich 14 Jahre als Gemeindepfarrer und Dekan in Schorndorf tätig – eine schöne Zeit des Aufbaus und des Versuchs, Gemeindeaufbau im ganzen Bezirk voranzubringen, in den aktiven Gemeinden des Remstals.
Zum Abschluss wurde ich noch für sechs Jahre berufen – und da war ich Ihnen wieder nahe, als Prälat der Prälatur Ulm. Diese reichte von Ellwangen bis zum Bodensee und vom Nördlinger Ries bis in den mittleren Neckarraum. Damals gehörten etwa 500 Gemeinden dazu.
Der Kirchenbezirk Heidenheim – ich sage das nicht einfach, weil ich bei Ihnen bin, sondern habe es neulich Herrn Dekan Scheid zu seinem siebzigsten Geburtstag geschrieben – war ein besonderes Juwel in dieser Region. Sie müssen wissen: Die Prälatur Ulm besteht hauptsächlich aus neuwürttembergischen Gebieten, die erst 1802 beziehungsweise 1810 zu Württemberg kamen. In Ulm war bis 1912 polizeilich verboten, dass es eine pietistische Gemeinschaft gibt.
Im ganzen Oberland findet man kaum Gemeinschaften, daher auch kaum CVdM-Gruppen, kaum lebendige Frauenkreise und kaum Gustav-Adolf-Kreise. Der Pietismus hat sich in unseren altwürttembergischen Gemeinden dahingehend ausgewirkt, dass es dort eine Vielzahl selbständiger Kreise und verantwortlicher ehrenamtlicher Mitarbeiter gibt.
Man merkt eben, dass Heidenheim altwürttembergisch ist – und die umliegenden Gebiete, ob das Aalen ist oder dann Ravensburg und Biberach, ganz anders geprägt sind. Für mich war das eine hochinteressante Zeit.
Seit zwei Jahren lebe ich nun in Korntal und bin wieder ehrenamtlicher Mitarbeiter. Ich freue mich deshalb, wenn ich auch zu solchen Gemeindeveranstaltungen eingeladen werde.
Ich habe gerade Frau Taut gesagt, ich war eigentlich gestern auf ein Thema in Winnenden vorbereitet. Ich hatte den Winnendern gesagt, ich komme um 19:36 Uhr mit der S-Bahn an, dann haben sie gesagt, das ist erst nächstes Jahr, am 10. Oktober.
Jetzt lassen Sie mich das Thema aus Winnenden aufgreifen, obwohl ich hier für Steinheim einst das Thema „Lebensweisheiten“ ausgearbeitet habe. Aber Sie haben ja „Glaube – was bringt es?“ Und da passt das Thema aus Winnenden viel besser dazu.
Die Herausforderung des Glaubens in der modernen Welt
Mich bewegt in den letzten Tagen sehr, dass wir in einer säkularisierten Welt leben, wie man so sagt. Eine verweltlichte Welt, die von Gott nichts wissen will.
Der große Schriftsteller Begley, der letzte Woche in Ludwigsburg war, wurde vorgestern in der Stuttgarter Zeitung zitiert. Dort sagte ein amerikanischer Rechtsanwalt auf die Frage, ob er an Gott glaube: Nein, ich glaube nicht an Gott, ich bin Atheist. Wenn es einen Gott gäbe, dann wäre er ein Monster, weil er zulässt, was auf unserer Erde geschieht. Ich weiß gar nicht, ob Gott zuständig ist. Er lässt uns Menschen laufen.
Jährlich werden 300 Kinder, die so schön sind wie Sie und ich und so gerne leben würden wie Sie und ich, schon aus dem Mutterleib abgesaugt. Dafür ist Gott nicht verantwortlich. Wie die Menschen ihre Irrtümer und Dummheiten machen, so wie es in der Geschichte geschah, als Juden vergast wurden – wenn ihr in Schuld geraten wollt, dürft ihr es. Aber plötzlich sagt dieser Beckley: Ich glaube nicht an Gott, denn er wäre ein Monster, wenn er das zuließe. Er stellt sich offenbar vor, wie Gott überall sagt: Das gibt es nicht.
Und trotzdem sind alle seine Bücher voll mit Themen, die eigentlich um Schuld und Erlösung kreisen. Ich habe immer den Eindruck, unsere moderne Welt will nicht an Gott glauben, aber sie wird immer wieder von den Grundfragen eingeholt, die letztlich mit Gott zu tun haben. Wir sollten viel mutiger sein, den lebendigen Gott zu bezeugen, denn das Fragen und das Schreien nach Erlösung ist eindeutig.
Nehmen Sie nur das, was wir vor einigen Wochen erlebt haben, als die Prinzessin von Wales, Prinzessin Diana, in jenem Tunnel in Paris zu Tode kam. Was da plötzlich in unserer Gesellschaft deutlich wurde, ist, dass diese Frau nicht bloß eine Regenbogengöttin war – also eine Göttin der Regenbogenpresse.
Alles, was geschrieben und gesagt wurde, das Meer von Blumen, das niedergelegt wurde, machte eigentlich deutlich, dass mit dieser Prinzessin Vorstellungen und Motive verbunden waren, die eigentlich dem Herrn Jesus gebühren: vom königlichen Heimathaus verstoßen, erniedrigt sich selbst. Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein Märchenmotiv – die böse Schwiegermutter, die Königin, nicht. Aber es sind religiöse Motive gewesen, die sich um die Armen kümmern.
Zwar gibt sie nicht ihr letztes Hemd, aber immerhin ihre abgelegte Garderobe für die Armen. Sie wird gejagt, doch sie hat den Mut, auch den Schleier vom verehrten Königshaus zu reißen, so wie Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten die Scheinheiligkeit vom Gesicht riss. Schließlich stirbt sie als Opfer in der Gosse, gejagt.
Nach vier Tagen kommt mit Elton John und Westminster, in einem Meer von Blumen, so etwas wie eine Auferstehung. Sie bleibt unsere Prinzessin. Sie merken plötzlich: Der Mensch, das Volk, kommt gar nicht ohne religiöse Vorstellungen aus.
Und wenn wir nicht an Gott und Jesus glauben, dann projizieren wir sie auf einen armen, schwachen Menschen, der viel Schweres erfahren hat, aber auch eigensinnig war. Unsere Welt ist voll mit religiösen Heilsvorstellungen – nicht bloß bei den Schriftstellern, die sich religiösen Themen widmen.
Religiöse Motive in moderner Literatur und Kunst
Einst waren es Gertrud von Lefort, aber auch Georg Bernanos, Graham Greene, Ina Seidl und Louise Rinser. Heinrich Böll, der katholische Schriftsteller aus Köln, hat einmal gesagt: „Ich bin durch und durch Christ, aber ich möchte kein christlicher Schriftsteller sein. Ich möchte Schriftsteller sein, und wenn da und dort etwas von meinem Glauben durchdringt, ist das recht. Aber ich würde mich in ein Korsett begeben, in eine Zwangsjacke, wenn ich nur Gemeindeblattartikel schreiben müsste. Ich muss der Kunst leben.“
Diese Spannung hat vielleicht am deutlichsten Jochen Klepper zum Ausdruck gebracht. In seinem Roman „Der Vater“ hat er die Geschichte des Soldatenkönigs und seines Sohnes, des späteren Alten Fritz, gezeichnet. Im Grunde genommen hat er in diesen Roman das Leiden des Vaters um den Sohn hineingezeichnet – und den Sohn, der erst hineinfinden muss in den Gehorsam gegen den Vater. Dies ist im Grunde ein durch und durch biblisches Thema.
Jochen Klepper hat im Gespräch mit Reinhold Schneider, dem großen katholischen Schriftsteller, immer wieder betont: „Ich kann eigentlich nur der Kunst leben, der Schriftstellerei. Und wenn da immer etwas durchblitzt von meinem Glauben, von dem, was mich bewegt, ist das recht.“ Klepper hat jeden Morgen ein paar Gedanken zur Herrnhuter Losung niedergeschrieben, als eine Art Schreibübung. Wenn da etwas durchblitzt von dem, was ihn zutiefst bewegt, ist das recht. Aber er möchte nicht in erster Linie christliche Schriftstellerei machen.
Wenn schon bei diesen Schriftstellern eine solche Spannung besteht, dann darf es uns nicht verwundern, dass die große Literatur der ganzen Weltgeschichte immer wieder zutiefst religiöse Themen aufgenommen hat – angefangen bei Homers Odyssee. Auch darüber könnten Sie schreiben: die Choralstrophe „Ich wandere meine Straßen, die zu der Heimat führt“, die Sehnsucht nach der Heimat. Oder ein Tag, der dem anderen sagt: „Mein Leben sei ein Wandern zur großen Ewigkeit.“
Man muss nur sehen, welche großen Sehnsüchte in der großen Literatur zu Wort kommen. Denken Sie an Goethes Faust, der mit dem Vorspiel im Himmel beginnt. Warum? Er könnte den Ring in Faust schildern, und dann kommt plötzlich der Satan, der Versucher. Große Literatur hat immer die Thematik bewegt, die heute ungeheuer lebendig ist.
In Korntal und Stuttgart sind bei der S-Bahn Werbung jetzt Plakate für Pro Christ aufgehängt worden. Eines dieser Plakate am Korntaler Bahnhof trägt die Aufschrift: „Gott ist stark.“ Klein darunter steht: „Warum sollen wir bei ihm nicht schwach sein dürfen?“ Doch schon zwei Stunden nachdem das Plakat hing, wurde das groß gedruckte „Gott ist stark“ mit Filzstift durchgestrichen und ergänzt: „Der Teufel ist stark.“
Das streitet man sich am Korntaler Bahnhof, im frommen Korntal, ob Gott stark ist oder der Teufel stark ist. Ich habe oft den Eindruck, dass die Thematik, die in unseren Tageszeitungen verhandelt wird und das Religiöse weithin ausblendet, am Wesentlichen vorbeigeht. Die Kirche kommt nur vor, wenn es irgendwo Krach oder Stunk gibt.
Dabei geht man am Wesentlichen vorbei – an dem, was Menschen wie wir vielleicht noch empfinden, und Schriftsteller erst recht. Denken Sie an Dostojewski mit seinem großen Roman „Schuld und Sühne“ oder an Wolfgang Borchert, der in der Nachkriegsliteratur mit „Draußen vor der Tür“ schrieb. Dort beißen die Worte hinein: „Ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Oder an die, die zwar zum Mahl geladen sind, die Jungfrauen, die törichten, die anklopfen: „Herr, tu uns auf!“ Sie sind draußen vor der Tür.
Ich möchte Sie einfach auf die Fährte setzen, dass Sie dem nachgehen, wie oft in guter moderner Literatur eigentlich das Grundthema ist: Schuld, Verhängnis, Gnade, Erlösung. Gehen Sie einfach mal selbst auf die Suche!
Persönliche Erfahrungen und der Verzicht auf Fernsehen
Als wir vor zwei Jahren in Korntal eine Wohnung angeboten bekamen, waren wir dankbar dafür. Beim Eintritt in den Ruhestand ging es uns ein bisschen wie Abraham: Er verließ sein Vaterland und eine vertraute Umgebung, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte.
Ich bin kein richtiger Schwabe. Ich besitze keinen Quadratmeter Boden, kein kleines Grundstück, kein Häuschen und keine eigene Wohnung. Da haben die Korntaler gesagt: Kommt zu uns. Das war schön, auch deshalb, weil wir in der beengten Wohnung plötzlich gar keinen Fernseher mehr brauchten und uns nicht überlegen mussten, wo wir ihn aufstellen. In Korntal gibt es nämlich verschiedene Ecken, die nicht verkabelt sind.
Korntal liegt wirklich so im Tal, dass man Spezialschüsseln bräuchte, um ein Fernsehprogramm zu empfangen. Also waren wir ohne Fernsehen und haben das auch in der neuen Wohnung, in die wir inzwischen umgezogen sind, beibehalten. Die neue Wohnung ist zwar verkabelt, aber wir haben auf den Fernseher verzichtet, weil wir gemerkt haben, wie viel Zeit wir durchs Fernsehen vertun.
Wir meinen zwar, wir würden nur schnell Peter Hane „Guten Abend“ sagen und danach noch ein bisschen zugucken und um halb zwölf ins Bett gehen, oder? Das Fernsehen ist so gemacht, dass man schwer den Ausknopf findet. Meinen Kindern habe ich zwar einen Klebestreifen auf den Fernseher geklebt, auf dem stand: „Muss es sein?“ Aber seitdem wir keinen Fernseher mehr haben, sind wir nach wie vor über die Weltgeschichte informiert – durch die Zeitung.
Außerdem haben wir unheimlich viel Zeit für Menschen, für Briefeschreiben und zum Lesen guter Literatur. Ich bin vielleicht der beste Kunde in der Stadtbücherei Korntal und lese mich durch all die moderne Literatur hindurch. Darf ich Ihnen bloß ein paar Beispiele davon nennen, was ich gefunden habe? Ich möchte mit Ihnen plaudern, damit Sie merken, was heute durchdringt und welche Themen in der modernen Literatur aktuell sind.
Aber noch einmal zurück zum Fernsehen: Im Grunde genommen müsste es uns doch erschrecken, dass 90 Prozent dessen, was dort produziert und ausgestrahlt wird, als Einheitsbrei daherkommt. Vom Hilfsarbeiter bis zum Professor geht es meist um Schuld, Gemeinheit, Ehebruch, Untreue, Mord und Handel. Wir haben daraus eine Unterhaltung gemacht, aus dem, worüber wir eigentlich aufschreien müssten. Wer holt uns denn aus dem ganzen Dreck heraus?
Vielleicht ist Ihnen das auch schon aufgefallen: Wir haben Nachmittagssendungen von Fliege bis Meißner, die Ersatz sind für den modernen Beichtstuhl. Warum ich von der Fresssucht nicht loskomme, warum ich von der Magersucht nicht loskomme, warum ich von der Pornografie nicht loskomme, warum ich zum fünften Mal verheiratet bin und immer noch unglücklich bin. Die Menschen, jetzt darf ich mal so hart sein, kotzen sich in aller Öffentlichkeit aus. Und Herr Fliege sagt: „Ja, danke, könnten Sie uns vielleicht doch noch sagen, wie das war?“ Kein Wort: Dir sind deine Sünden vergeben, keine Frage: Tut es dir leid? Wie kommst du denn durch?
Wir haben eine Beichte, die keine Beichte mehr ist. Im Grunde genommen sagt sie der Bevölkerung: Es ist eigentlich unnormal, wenn du nicht entweder magersüchtig oder fresssüchtig bist. Es ist unnormal, wenn du nach 40 Jahren mit der gleichen Frau verheiratet bist. Es ist eigentlich unnormal, wenn du nicht wegen irgendetwas einmal den „Pappdecker“ abgenommen bekommen hast. Aber bei Ihnen kriegt man das schnell abgenommen.
Zu meiner Frau habe ich vorher gesagt: Wenn man hier durch eure Gegend fährt, da sind überall schöne Ampeln, da fährt man schon vorsichtig. Aber es wird die Sünde zum Normalfall gemacht. Trotzdem ist es bei all dem so, als hätte man einen hohlen Zahn. Ich weiß nicht, ob Sie das schon gehabt haben, wenn die Krone rausgebrochen ist oder die Füllung fehlt. Man denkt zwar: Zahnarzt muss nicht gleich sein. Aber die Zunge macht dauernd an der kranken Stelle herum und erinnert sich immer wieder: Ja, doch, es wäre eigentlich dran.
Ich halte den ganzen Fernsehbetrieb und den Betrieb der modernen Literatur dafür, dass sie merken: Da stimmt etwas in unserer Gesellschaft, in meinem Leben nicht. Aber zum Arzt muss ich noch nicht, das ist noch nicht nötig, das kriege ich selber hin. Bis die Not so weit ist, dass Menschen schreien: „Helft mir!“
Und helfen Sie dazu mit, Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die seelsorgerliche Begabung haben, Ihren Pfarrerinnen und Pfarrern Zeit für Seelsorge zu geben. Normalerweise geht es bei einem Pfarrer erst nach vier oder fünf Jahren los, wenn Vertrauen gewachsen ist. Aber wenn die Ersten zur Seelsorge kommen und man fragt: „Was wollen Sie? Wollen Sie beichten?“ – „Ja, wie macht man das?“
Dann wollen wir miteinander beten, dass Jesus da ist. Sie sagen ihm, was Ihnen auf dem Gewissen liegt, und dann sage ich Ihnen ein Wort des Losbruchs: „Ja, das will ich.“ Wenn das einmal passiert ist, spricht sich das herum. Es genügt nicht, bloß zu sagen: „Sprechstundendienst dienstags von 14 bis 15 Uhr“. Stattdessen müssen Sie Zeit haben, unheimlich viel Zeit für Menschen, die Lasten mit sich schleppen, von denen wir keine Vorstellung haben.
Seelsorge wäre heute dran, und zwar im Zentrum. Nicht nur, dass man sagt: „Ich verstehe Sie.“ Sondern: „Wollen Sie Ihre Schuld vor Gott bekennen?“
Literatur als Spiegel der menschlichen Existenz
Aber jetzt wollte ich Ihnen ja einiges erzählen von dem, was ich gefunden habe, was mir Eindruck gemacht hat. Da ist etwa von Saul Bellow, dem großen amerikanischen Nobelpreisträger, ein Buch erschienen: The Dean’s December. Es ist schlecht ins Deutsche übersetzt, aber man kann es auch kaum übersetzen – der Dezember des Dekans.
Es handelt sich um einen Universitätsvorsteher einer Fakultät, den man in Amerika einen Dean nennt, und auch bei uns in Deutschland einen Dekan nennt. Saul Bellow schreibt, wie dieser Held der Geschichte, ein amerikanischer Literaturwissenschaftler, sich auch mal interessiert, wie es denn in der Drogenszene von Chicago aussieht. Furchtbar, wie begabte und einfache Menschen herunterkommen und sich kaputt machen. Gibt es denn keine Hilfe?
Ja, die Ärzte versuchen es mit Methadon. Aber es gibt auch eine Einrichtung, die ein ehemaliger Drogensüchtiger aufgebaut hat. Dieser Mann hatte in der Drogensucht einen Unfall und ist querschnittgelähmt. Er hat irgendwo in den Hafenvierteln hinten eine private Entziehungseinrichtung gegründet.
Dann geht dieser Wissenschaftler schließlich in die abgelegenen Viertel hinein. Auch das meine ich, sei wie so eine verweltlichte Szene. Er erniedrigte sich selbst, wie Jesus in unsere Welt kommt. Es wird verfremdet, verstehen Sie?
Der Wissenschaftler war zum Unternehmen Kontakt geschickt worden. Er fuhr an einem Wintertag mit Schneeschauern in die Südstadt. Er beobachtete, wie sich der Russ mit dem nieselnden Schnee vermischte. Er war dreißig Jahre nicht mehr in der Gegend gewesen. Schon damals war die Stadt heruntergekommen, jetzt war sie verrottet.
Nur ein paar Backsteinbungalows waren geblieben, hier und dort eine Fabrik. Die Schnellstraße hatte den ganzen Bezirk durchschnitten. Das einzig noch vorhandene Wahrzeichen war die stillgelegte Inglewood-Station, ein Bahnhof mit riesigen Sandsteinblöcken, vereinsamt wie eine Leichenhalle. Keine Reisenden mehr, keine Züge, ein schmutziger Schneebrokat über den leeren Parzellen und ein paar schwarze Männer, die sich an ölgenährten Feuern wärmten.
Mitten in dieser Gegend findet er nun dieses Unternehmen Kontakt und auch diesen gelähmten, schweren Mann, der das Unternehmen leitet.
„Sie haben also dieses Zentrum gegründet?“
„Ja, ich habe es in diesem alten Speicher gebaut. Schlafsäle, Küche, Werkstätten unten, um den Leuten ein Handwerk zu lehren. Wir bringen alte Leute aus der Umgebung her, die Alten, sie verhungern sonst an den Lebensmittelmarken, die sie von der Stadt bekommen. Sie plündern hinter den Supermärkten die Mülleimer. Die Marktwächter sagen, sie wollen nicht, dass sich die Alten an verdorbenem Fisch vergiften. Aber wir können die alten Leute hier gebrauchen. Sie geben Stunden im Polstern, bei Elektroarbeiten, Tischlern, Schneidern. Sie bringen den jungen Sträuchern Respekt bei. Aber wir haben nicht nur Sträucher, wir nehmen alle Sorten: Weiß, Schwarz, Indianer, mit welcher Farbe sie auch kommen, aus den reichsten Vororten, aus Lake Forest.“
„Würden Sie Ihr Center als Erfolg bezeichnen?“
Winthrop, dieser Helfer, starrte ihn einen Augenblick an. Dann sagte er: „Nein, Sir, so bezeichne ich es nicht. Ein Erfolg? Nein. Die kommen und gehen. Bei wenigen schlägt es an, ich könnte Ihnen eine Reihe davon nennen. Aber noch viel mehr von denen, die sich nicht helfen lassen.“
Bis jetzt hatte er unbeweglich auf seinem Stuhl gesessen, aber jetzt wandte er sich um und begann, sich auf den Boden zu lassen. Der schwere Mann, querschnittgelähmt, legte sich auf die Knie, die großen Arme wie ein Gekreuzigter ausgestreckt. Merken Sie, die Finger nach oben gebogen? Vielleicht sehen Sie es mal bei diesem wunderbaren Kruzifixus, sehen Sie so: Boden, Finger nach oben gebogen.
Und dann sagte er: „Sehen Sie, was wir zu tun haben. Die Menschen sind im Pfuhl. Wir strecken unsere Hände zu ihnen aus und versuchen, sie zu packen. Haltet fest, haltet fest! Die ertrinken in der Scheiße. Entschuldigung, so steht es hier. Wenn wir sie nicht rausziehen können, einige von ihnen lassen sich ziehen, die meisten gehen unter. Sie ertrinken und versinken in der Scheiße. Sie werden es nie schaffen.“
Mit einer Anstrengung, die die eine Hälfte seines Gesichtes zucken ließ, arbeitete er sich wieder auf die Beine und ließ sich auf den Stuhl sinken. Der Professor fragte: „Sie sagen mir, dass die Leute, die herfinden...“ Winthrop unterbrach ihn: „Ich sage Ihnen, Professor, dass die wenigen, die uns finden, und viele Hunderttausende mehr, die es nie tun oder tun wollen, gezeichnet sind, dass sie untergehen. Diese Menschen sind dem Tod geweiht, das haben wir im Blick.“
Jetzt merken Sie etwas Verfremdetes von dem Leiden des Erlösers, der seine Hände ausstreckt, wie es in der Bibel heißt, Tag und Nacht nach einem Volk, das nichts wissen will, um sie aus der Verlorenheit zu retten.
Der Herr Jesus will uns doch nicht schlecht machen. Glaube – was bringt’s? Glaube nimmt die elementaren, oft in der Literatur etwas verfremdeten Motive auf. Ist das wirklich eine Verfremdung des Glaubens oder lese ich das eben hinein, weil ich Pfarrer bin?
Zweifel und Sehnsucht nach Glauben in der Gegenwart
Ich darf Ihnen einige Abschnitte vorlesen, die ich in einem Büchlein zusammengefasst habe – einfach Lesefrüchte der letzten Jahre.
Der israelische, aber atheistische Schriftsteller Yehuda Ya'ari sagt in einem Selbstbekenntnis in einem Gespräch: „Sie müssen wissen, mein Freund, unter all den bösen Erscheinungen, deren Fluch unsere Generation getroffen hat, gibt es keine, die mich so sehr aus der Ruhe bringt wie das Fehlen des Glaubens.“
Der fast atheistische Schriftsteller Ya'ari fährt fort: Schlimmer als Hunger, Inflation, Pest ist das Fehlen des Glaubens. Damit meint er das Fehlen des Glaubens an Dinge, auf denen die Welt beruht. Der blinde Glaube hingegen sei ein nichtiges Zeug, das die Welt ins Verderben stürzt. Es ist die Wirkung von Propaganda und Schlagworten, die heutzutage das Herz der Menschen erobern – nicht das Licht der göttlichen Wahrheit.
Heutzutage ist die Zahl der Menschen Legion, die dem Satan gehören. Der Satan begnügt sich nicht damit, hier und dort in das Leben der Menschen einzugreifen, er bemächtigt sich der Seelen.
Ich möchte Ihnen bekennen, dass vor allem auf mir jene Angst lastete, die Angst vor mir selbst. Sie befiel mich von Zeit zu Zeit und drückte mich abgrundtief nieder. Manchmal überkam mich das schreckliche Gefühl eines Teufels, der sich von Angesicht zu Angesicht nicht sehen lässt, aber seinen Wohnsitz im Inneren meiner Seele aufgeschlagen hat. Ja, wirklich – ich meinte, in mir selbst wohnt das Ungeheuer, ich selbst sei der Teufel.
Eigentlich war ich selber gar nicht mehr am Leben, ich ging schon wie durch die Gefilde der Toten und quälte mich in der Unterwelt. Yehuda Ya'ari schrieb dies vor zehn Jahren – und bewegt hat ihn dabei nicht nur Bonhoeffer.
„Wer bin ich?“ Sie sagen, ich trete aus meiner Zelle, heiter und gelassen wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Bin ich das? Oder bin ich unruhig, gejagt wie ein Vogel, heimatlos? Das beginnt doch schon, wenn die Haussäge schief hängt, wenn wir explodieren. Wer bin denn ich? Bin ich das, wie ich eigentlich sein will – liebevoll, geduldig – oder hat der Teufel mich schon am Schlawittchen? Bin ich verloren oder nicht verloren?
Ich darf ein älteres Buch aufschlagen, das letzte große Werk von Franz Werfel, dem österreichischen Schriftsteller, der dann im Exil in Amerika starb. In jungen Jahren hat er in seinem letzten Buch „Der veruntreute Himmel“ geschrieben. Eigentlich hat er diesen Titel gar nicht gewählt, aber aufgrund der letzten Passagen in seinem Buch wurde dieser Titel von Duthie Fischer, der Eigentümerin des Samuel Fischer Verlags, darüber gesetzt.
Dort sagt der Held des Romans: „Ich verabscheue unsagbar den Geisteszustand unserer modernen Welt. Es ist ein religiöser Nihilismus. Einst war er die Erbschaft von Eliten vor zweihundert Jahren bei der Aufklärung, jetzt ist er das Gemeingut der Massen geworden.“
Der Nihilismus zeigt sich darin, dass man von Hocke zu Hocke fährt, von Volksfest zu Volksfest. Und wenn man den Tag der Deutschen Einheit feiert, weiß die Regierung nichts anderes, als dass irgendwo eine amerikanische Band mit Stars einfliegt, die mit Einheit überhaupt nichts zu tun hat – bloß um die Massen zu unterhalten. Und dabei wird ganz Stuttgart betrunken, Hunderttausende feiern den Tag der Deutschen Einheit.
Nihilismus bis dahin, dass die Stadtbibliothek sagt: „Wir sind vorher Chefbuch, da Sie kommen, es werden kaum mehr Bücher ausgeliehen.“ Wo kommen wir hin, wenn ein Volk nicht mehr liest, das keine Zeit zum Lesen hat?
Ich habe schon sehr früh erkannt – lesen Sie weiter – dass der Aufstand gegen die Metaphysik, also gegen das Göttliche, gegen das Jenseitige, gegen das Religiöse, die Ursache unseres ganzen Elends ist. Logischerweise ist dieser Aufstand zuerst in den protestantischen Völkern ausgebrochen. Sie können heute noch merken, dass katholische Völker wie Polen lange nicht so verweltlicht sind wie evangelische Völker in Skandinavien oder ähnlichen Regionen.
An die Stelle der göttlichen Dreieinigkeit ist die Dreieinigkeit von Geld, Arbeit und Zeit getreten. Und den tollsten Triumph dieses Aufruhrs erleben wir jetzt in unserer eigenen Heimat.
Dabei ist dieser Aufruhr noch nicht einmal das Verabscheuenswürdigste. Das Schlimmste ist die kosmische Verdummung des Menschen. Ich sage noch einmal: diese kosmische, weltweite Verdummung des Menschen. Man wird uns abgespeist – Entschuldigung, man müsste eigentlich unseren Journalisten sagen, dass es immer schon mal gegeben hat, dass ein Mensch entgleist in furchtbaren Geschichten wie Vergewaltigung oder Ähnlichem. Aber das kommt, wenn es passiert ist, wenn Kriminalverfolgung erforscht wird, wenn Anklage erhoben wird und wenn der Prozess stattfindet. Und wenn er verurteilt wird.
Fünfmal die gleiche Geschichte – sind wir denn der Abfallkübel der Nation, dass jeder Dreck in mich hineingestopft werden muss?
Die kosmische Verdummung des Menschen – das ist der eigentliche Fehlbetrag des Menschen. Zwar gibt es noch Mittel, die wirken wie Aspirin, indem sie das Fieber senken. Solch ein Aspirin ist etwa der Sozialismus, der immer wieder neue Ideale hat und meint, wir seien doch besser. Aber es handelt sich um eine Seelenpest.
Der große Fehlbetrag unserer Zeit ist der veruntreute Himmel. Eine gottlose Welt ist wie ein Bild ohne Perspektive: Alles wird flach, alles wird sinnlos. Daran kann auch eine Kirche nichts ändern, die sich nur als Institution erhält.
Ich möchte sagen: Deren Hauptproblem ist, ob man ein paar Pfarrstellen streichen kann, um finanziell durchzukommen. Das Hauptproblem ist, ob eine Kirche noch etwas zu sagen hat – mit zehn Pfarrern oder mit zweitausend. Die Kirche müsste von einem neuen, mystischen Feuer entbrennen, wenn sie dieser Welt helfen wollte, sagt ein Schriftsteller.
Es ist schon einige Jahrzehnte her, dass in der Kirche diskutiert wurde, ob man den Progressismus machen muss, ob man neu anfangen muss, den Leuten so auf die Pelle rücken. Die Welt schreit danach, dass in die verflachte Welt endlich ein neuer Aspekt, eine neue Dimension kommt.
Vielleicht wollen es nicht alle, zwar werden die Hände ausgestreckt, ob sie ergriffen werden, ist eine andere Sache.
Ich darf gerade bei Franz Werfel weitermachen mit einem kurzen Wort von ihm: „Wir sind alle Sünder für eine ungeahnte Schuld. Die Erde ist wie eine Strafkolonie im Kosmos, unser Leben ist ein überaus extremer Zustand.“
Sehen Sie, es geht gar nicht bloß um private Sünde. Der Herr Werfel hat begriffen, unsere Welt ist unter der Sünde.
Wir denken, wenn wir nach Israel Millionenbeträge überweisen als Gutmachung, damit sei die Schuld an sechs Millionen Juden erledigt. Aber lässt sich dadurch Geld gut machen?
Alles, was an Bosheit geschehen ist – wir waren vor 14 Tagen aus Russland zurückgekommen, durch tausend Jahre Brutalität, durch Zaren und dann abgelöst durch Lenin, Stalin und Chruschtschow – ein unglaubliches Meer von Blut und Tränen.
Und dann stehen Sie auf dem Schlachtfeld von Stalingrad, einem Umbettungsfriedhof der deutschen Volksgräberfürsorge. Dort arbeiten vier Menschen. Während der Schlacht, als sich der Kessel zusammenzog, war dort ein Lazarett mit einem kleinen Birkenkreuz und zwei zerschossenen Stahlhelmen. Hier sind zwölftausend deutsche Soldaten beerdigt.
Meine Frau sagt plötzlich: „Da sind Knochen und Armknochen.“ „Ach“, sagt jemand, „das ist sicher von einem Tier.“ „Nein“, sagt der Beauftragte der Kriegsgräberfürsorge, „wenn Sie genau hinsehen, liegen überall Knochen. Dort ist eine Rippe.“
Wir haben, wenn wir Glück hatten, damals im Winter 42 auf 43 die Gefallenen 20 bis 30 Zentimeter tief in den Boden gebracht. Das ist längst weggespült. Und wir hätten gar nicht alle Soldaten damals bestatten können. Die Russen haben 68 deutsche Gefallene, die steif gefroren waren, auf das Eis der Wolga gelegt. Mit dem Frühjahr sind die dann weggeschwemmt worden.
Aber die Russen haben hier in Stalingrad eine Million 20 verloren, die Deutschen bloß 8000. Junge Leute, die unserer Gesellschaft gefehlt haben – Väter, Großväter, die heute fehlen. Schuld durch einen vom Zaun gebrochenen Krieg. Wie wollen wir das gut machen?
Verstehen Sie, Werfel hat gespürt, wir sind unter einer Schuld, die einem den Atem nimmt.
Und dann lesen Sie plötzlich Jesaja 53. Da geht es nicht mehr bloß um private Beichte. Gott warf unsere aller Sünde auf ihn – die ganze Schuld der Welt. „All Sünd hast du getragen.“
Es gibt eine Stelle, wo ich aufatmen kann und sagen darf: Ich muss nicht mehr zerbrechen unter dem, was als Last von Generationen über uns liegt.
Die Bibel, der christliche Glaube, wenn wir ihn überhaupt ernst nehmen, ist an einem ganz zentralen Thema, nämlich der menschlichen Schuld.
Noch einmal zwei Dinge zitiere ich Ihnen: Ich liebe John Steinbeck, den amerikanischen Romancier, bekannt für seine fröhlichen Romane von der amerikanischen Westküste.
Er lässt plötzlich seinen Doktor, den Doc, sagen: „Ich komme jetzt ans Ende des Lebens, und man fragt sich: Was habe ich eigentlich geleistet? Habe ich genug geliebt? Habe ich genug gearbeitet? Habe ich genug vergeben? Habe ich genug getröstet? Was ist eigentlich in meinem Leben wert, ins große Hauptbuch eingetragen zu werden?“
John Steinbeck ist ein vollständig unreligiöser Mensch, aber jetzt kommt der Begriff vom Buch. Denn die Bibel steht für das Buch des Lebens.
Was ist wert, eingetragen zu werden ins große Hauptbuch des Lebens?
Liebe Freunde, das ist doch unsere Frage: Was habe ich in meinem Leben überhaupt geschafft? Bin ich nicht viel mehr im Wege gestanden?
Ich saß für Wichtiges in der Kirche, um gegen manche Fehlentwicklung zu protestieren. Habe ich nicht erst dadurch Leute vor den Kopf gestoßen, verwirrt? Ich habe gemeint, ich müsste mich einsetzen in meinen Gemeinden. Bin ich an meinen Kindern schuldig geworden?
Das sind zentrale Fragen.
Ich finde es immer lächerlich, wenn man am Grab sagen soll, was wir alles geleistet haben. Mir geht es bei jeder Beerdigung so, dass ich denke: Du hättest nur den Brief schreiben sollen, diese dumme Geschichte in Ordnung bringen sollen.
Am Grab sind eigentlich lauter Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. Und selbst wenn Angehörige ihre Tante, ihre Mutter, ihren Vater treu durch Jahre gepflegt haben, dann wacht ihnen bei der Trauerfeier auf, dass damals an dem Abend die Nerven durchgingen und sie die Mutter angeschrien haben: „Kannst du nicht auch früher ins Bett gehen? Kannst du nicht den Mund halten?“ Schuld ist da.
Schuld ist die Realität unseres Lebens.
Davon sollten wir bei der Beerdigung nichts anderes sagen als das, was mir dort in Stalingrad nur noch aus den Lippen gekommen ist: „So du, Herr, willst Sünden zurechnen, Herr, wer will bestehen? Aber bei dir ist die Gnade, dass man dich fürchte, und viel Vergebung bei dir.“
Und da haben ein paar gesagt: „Vielen Dank, dass Sie nichts anderes gesagt haben. Jedes andere Wort wäre falsch gewesen.“
Erich Maria Remarque, der bekannt wurde durch sein Erstlingswerk „Im Westen nichts Neues“ nach dem Ersten Weltkrieg, hat in seinem letzten Buch, das postum herauskam, geschrieben: „Am meisten erschüttert mich, dass ich so viele Schwindelgeschäfte mit Gott gemacht habe. Wenn es mir gut ging, dachte ich nicht an Gott, und wenn es mir schlecht ging, habe ich ihn angerufen und ihm alles Mögliche versprochen. Aber sobald es mir wieder besser ging, habe ich ihn wieder vergessen.“
Das kennen wir doch, nicht? Kennen wir so gut, kennt jeder Mensch.
Wenn ich bei Gemeindebesuchen vom Alltäglichen wegkommen wollte, habe ich meist gefragt: „Warst du in deinem Leben nie Gott begegnet?“
„Herr Pfarrer, natürlich. Damals in Jugoslawien, im Hungerlager oder in Stuttgart bei den Angriffen im Luftschutzkeller.“ Meist in Notsituationen, also auf der Intensivstation, habe ich erlebt, wie Gott geholfen hat.
Es gibt keinen Menschen, der nicht zwei- bis dreimal in seinem Leben erlebt hat, dass Gott ihn aus ganz großer Not herausgeholt hat.
Und danach?
Remarque sagt: „Ich habe Schwindelgeschäfte mit Gott gemacht.“
Das kann doch nicht der wahre Gott sein, mit dem man Schwindelgeschäfte macht. Sondern der wahre Gott ist entweder einer, der mir auf die Finger haut – so wie es Begley sagt: Er wäre ein Monster, wenn er das alles erlaubt –, oder ein Gott, der die Hände ausstreckt, ob sie sich helfen lassen wollen, Vergebung haben wollen.
Jetzt habe ich meine Zeit schon rettungslos überzogen. Trotzdem darf ich Ihnen sagen: Was bringt der Glaube? Dass der Glaube ganz zentrale Fragen beantwortet, die in unserem Menschsein da sind.
Und wir sollten, wie dieser Windrob sagen: „Ich strecke die Hände aus im Namen Jesu. Lasst euch doch helfen! Wir wollen euch doch herausziehen aus dem Dreck.“
Die Bedeutung des Hohen Priesters Jesus
Im nächsten Jahr sind es zweihundert Jahre her, dass Ludwig Hofacker geboren wurde, der große Erweckungsprediger unseres Landes. Er ist nur dreißig Jahre alt geworden und konnte eigentlich nur zwei Jahre als kranker Vikar in Stuttgart wirken. Danach war sein ganzes Leben bloß noch ein Fragment, ein Torso, ein Wrack, eine Ruine, bis er schließlich kläglich im kleinen Rielingshausen gestorben ist.
Ich darf in Vorbereitung auf diesen Geburtstag eine Diaserie zusammenstellen und ein Büchlein. Dabei ist mir aufgegangen, wie oft Hofacker vom Hohen Priester Jesus spricht. Zuerst dachte ich, dass das unverständlich sei, denn Hofacker war eigentlich dafür bekannt, verständlich zu reden. Doch dann predigt er und zieht sich dieser Gedanke durch seine Worte: Du suchst doch jemanden, der dich versteht, der dich erkennt, der für dich eintritt und etwas zu melden hat.
Das war der Hohe Priester in Israel. Er durfte einmal im Jahr vor Gott treten und das sündige Israel vor Gott bringen. So ist Jesus ein Hoher Priester geworden, der jeden von euch versteht, der vor dem Vater ist und für uns eintritt. Plötzlich wurde mir klar, warum die Predigt dieses Mannes so wichtig ist.
Gehen Sie mal in katholische Wallfahrtskirchen. Wie oft sieht man dort Erinnerungen und hört das Gebet: „Heilige Maria, bitte für uns.“ Die Menschen sehnen sich – auch wenn es nur ein kleines Anliegen ist – nach einem Menschen, der etwas zu sagen hat, der auf dem Landratsamt ein Wort für mich einlegt oder beim Gericht. Ihr habt einen Rechtsanwalt, der gut ist. Wir sehnen uns nach Menschen, auf die wir uns verlassen können, an die wir uns hängen können, die auch in schwierigen Fällen zu uns stehen. Das ist die elementare Frage unseres Menschseins.
Ich glaube, was bringt es, wenn Jesus bekennt, dass er mich liebt, mich kennt und bei meinem Namen nennt, die Hände ausstreckt und sagt: „Du, ich möchte für dich eintreten, auch vor dem Vater. Ich möchte dein Freund sein.“ Wir sollten das viel genauer für uns selbst wissen und auch weitersagen können, dass der Glaube etwas bringt.
Danke Ihnen, dass Sie zugehört haben.