Überblick über die vorausgehenden Kapitel und den Kontext der heutigen Lesung
Wir sind gestern im Kapitel 19 stehen geblieben. Dort haben wir den reichen Jüngling kennengelernt und gesehen, wie er sich im Umgang mit Besitz verhält.
Ab Vers 27 im Kapitel 19 geht es dann um den Lohn der Jüngerschaft. Das ist das, was ihr auch noch mitgelesen habt, was wir allerdings nicht mehr besprochen haben. Es wird die Frage behandelt: Was wird uns zuteil, wenn wir Jesus nachfolgen und alles aufgeben?
Im Kapitel 20 lesen wir dann das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. In Vers 17 finden wir eine weitere Todesankündigung Jesu. Wir merken, dass Jesus immer wieder in gewissen Zeitabständen auf die Notwendigkeit seines Todes hinweist. Die Jünger selbst begreifen dies jedoch noch nicht. Das zeigt sich später, als Jesus schließlich stirbt und sie in Verzweiflung geraten, weil sie meinen, Jesus sei nun ein für alle Mal tot.
In Kapitel 20 und den folgenden Versen wollen einige Jünger den Platz zu seiner Rechten einnehmen. Sie streben also einen besonderen Vorzug im Reich Gottes an, denn dieser Platz zur Rechten war der Ehrenplatz, den sie von Jesus haben wollen.
Ab Vers 29 im selben Kapitel finden wir die Heilung von Blinden. In Kapitel 21 wird der Esel erwähnt, der von Jesus beschlagnahmt wird, sowie sein Einzug in Jerusalem. In Vers 12 des Kapitels 21 werden die Händler im Tempel ausgetrieben. Jesus sagt dort, dass sein Haus Gottes kein Handelsplatz sei.
In Vers 18 und den folgenden Versen wird auf den unfruchtbaren Feigenbaum als Warnung für seine Zuhörer hingewiesen. In Kapitel 21, Vers 23, stellen die Pharisäer die Macht Jesu in Frage, und er zeigt sie ihnen gegenüber auf.
Ab Vers 28 folgen die beiden Söhne im Weinberg: Der eine gehorcht dem Vater oder sagt es zumindest, der andere sagt Nein, das tue ich nicht. Es wird gezeigt, wie sie dann richtig reagieren.
Ab Vers 33 finden wir das Gleichnis vom untreuen Weingärtner. Kapitel 22 enthält das Gleichnis vom Hochzeitsfest, auf das wir warten und zu dem Gott uns einlädt.
In Vers 15 des Kapitels 22 lesen wir: Wir sollen dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Auch das haben wir gestern im Zusammenhang mit dem Umgang mit Geld gelesen.
Ab Vers 23 im Kapitel 22 folgt die Frage zur Auferstehung. In Vers 34 wird das höchste Gebot genannt: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst.
Ab Vers 37 finden wir die Kennzeichen eines Pharisäers sowie die Weherufe über die Pharisäer. Ab Vers 43 folgt die Klage über Jerusalem.
Im Kapitel 24 schließlich wird die Zerstörung des Tempels beschrieben. Ab Vers 3 finden wir die Zeichen des Endes. Das wird uns morgen noch weiter beschäftigen.
Das sollte genügen, um den gesamten Horizont, den Rahmen sozusagen, abzustecken, in dem sich die Verse befinden, die wir heute Morgen etwas näher anschauen wollen. So wissen wir, was vorherkommt und was auch danach folgt.
Einordnung in die Redeblöcke des Matthäusevangeliums und Themenübersicht
Hier handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem fünften Redeabschnitt, den wir im Matthäusevangelium finden. Ich habe am Anfang gesagt, dass es im Matthäusevangelium fünf große Redeblöcke gibt. Der Abschnitt, in dem wir uns jetzt befinden, ist der fünfte davon.
Dieser Abschnitt umfasst die Stellungnahme Jesu zu den Pharisäern. Dazu gehört auch das Folgende, in dem Jesus sich mit der Endzeit beschäftigt.
Das Thema dieses Zusammenhangs, den wir jetzt lesen, ist die Kritik an der Heuchelei der Pharisäer und Schriftgelehrten sowie die Warnung vor dem Gericht. Man könnte es so zusammenfassen: Es handelt sich um Kritik an der Handlungsweise und Denkweise der Pharisäer, die auf ihre Fehler hingewiesen werden. Dabei wird deutlich gemacht, dass die Folge eines solchen falschen Lebens das Gericht Gottes ist.
Insgesamt gibt es sieben Wehrufe bis Vers 36. Am Ende folgt dann die Klage über Jerusalem in den Versen 37 bis 39.
Historischer Hintergrund zu den Pharisäern und deren Gruppierungen
Generell wurden die Pharisäer in der Zeit des Neuen Testaments und auch kurz danach von manchen Juden durchaus kritisch gesehen. Der Talmud beschreibt sieben verschiedene Gruppierungen in der Bevölkerung, in die die Pharisäer eingeteilt wurden.
Die erste Gruppe waren die sich selbst brüstenden Pharisäer. Das sind diejenigen, die nach außen hin großspurig auftreten und betonen, was sie tun. Sie schmücken sich stark und stellen sich selbst in den Mittelpunkt. Die Bevölkerung erkannte, dass es ihnen vor allem darum geht, verehrt und angesehen zu werden.
Dann gab es die Pharisäer, die man als „Warte noch ein Weilchen, Pharisäer“ bezeichnete. Sie predigten gute Taten, setzten diese aber nicht um, da ja auch morgen noch Zeit dafür sei. Die Leute bemerkten, dass diese Pharisäer zwar viel predigen, aber in ihrem Alltag nicht so leben, wie sie es lehren. Man könnte sie also als wartende Pharisäer bezeichnen.
Als dritte Gruppe gab es die Wundenpharisäer, auch wundgeschlagene oder blutende Pharisäer genannt. Sie legten besonderen Wert auf einen bestimmten Aspekt des Wortes Gottes: das Ansehen einer Frau galt bei ihnen bereits als Sünde. Sie glaubten, eine Frau anzuschauen sei schlecht, weil Frauen zuerst gesündigt hätten und verführerisch seien – besonders in der Synagoge. Wenn sie tagsüber einer Frau begegneten, schlossen sie sofort die Augen und gingen weiter. Dadurch wurden sie mit der Zeit buchstäblich wundgeschlagen. Man kann sich vorstellen, dass manche Frauen das vielleicht ausgenutzt haben. Diese Pharisäer waren stolz auf ihre Beulen und Schrammen, denn sie nahmen das sehr ernst und wichen Frauen aus. Das ist jedoch eine falsche Verhaltensweise, wie die Juden damals auch sahen.
Dann gab es die buckligen Pharisäer, manchmal auch Purzelbaum-Pharisäer genannt. Das lag nicht daran, dass sie sportlicher waren oder körperlich verunstaltet, sondern sie liefen den ganzen Tag so herum, um ja nicht nach oben zu schauen. Das galt als Zeichen der Demut: sich immer zu beugen und nach unten zu schauen. Dadurch hatten sie manchmal Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sie wollten deutlich zeigen, wie fromm und demütig sie sind, indem sie stets mit gesenktem Haupt gingen. Deshalb nannte man sie bucklige Pharisäer.
Eine weitere Gruppe waren die berechnenden oder vergleichenden Pharisäer. Bei ihnen ging es ständig darum, herauszustellen, wie viel besser sie als ihre Umgebung seien. Sie verglichen sich ständig mit anderen Menschen und auch mit anderen Schriftgelehrten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
Dann gab es die furchtsamen Pharisäer. Diese versuchten, das Gesetz ständig einzuhalten. Sie sprachen viel vom Gericht und verbreiteten Angst: „Das Gericht kommt bald, vielleicht brätst du morgen schon in der Hölle.“ Diese ständige Angst führte dazu, dass sie auf jedes Detail achteten, um rein zu sein, wenn Jesus oder Gott zum Gericht kommen würde.
Als siebte Gruppe nennt der Talmud die gottesfürchtigen Pharisäer. Diese versuchten ernsthaft, nach dem Wort Gottes zu leben. Von den sieben Gruppen waren also sechs eher kritisch zu sehen, während eine Gruppe als vorbildlich galt.
Insgesamt waren die Pharisäer damals eher eine Minderheit in Israel. Man schätzt, dass es zur Zeit Jesu etwa sechstausend Pharisäer im ganzen Land gab. Daneben gab es noch die Schriftgelehrten und die Sadduzäer, doch insgesamt war das keine sehr große Gruppe. Die Pharisäer verstanden sich als die geistliche Elite ihres Landes.
Daher trifft uns das Wehe, das Jesus manchmal über die Pharisäer ausspricht, auch heute noch. Besonders dann, wenn wir eine Art von Frömmigkeit pflegen, die den Pharisäern ähnelt, aber von Gott nicht gewollt ist.
Wir könnten nun die sieben Gruppierungen aus dem Talmud durchgehen und überlegen, welche heutige Verhaltensweise ihnen entspricht. Das möchte ich aber nicht tun, da wir sonst nicht zu den anderen 39 Versen kommen, die wir noch anschauen wollen.
Beginn der Rede Jesu gegen die Pharisäer (Kapitel 23, Vers 1 ff.)
Also, Kapitel 23, nachdem wir jetzt diesen Hintergrund haben, beginne ich mal mit Vers 1. Da redete Jesus zu dem Volk und zu seinen Jüngern. Wir merken hier, dass sich die Rede sowohl an die Bevölkerung richtet, die ja sehen kann, wie sich die Menschen verhalten, als auch an die Jünger. Das bedeutet, die Jünger sollen auch davon lernen, sich nämlich nicht so zu verhalten.
Das heißt, er zieht nicht über andere her und redet nicht schlecht hinter dem Rücken anderer. Vielmehr will er, dass die Jünger nicht dem Vorbild und den besonderen Verhaltensweisen der Pharisäer nachfolgen.
„Da redete Jesus“ ist auch ein Hinweis darauf, dass es sich jetzt um den Anfang einer neuen Redeeinheit handelt. Also nachdem all das passiert ist, was jetzt gewesen ist, die Diskussionen stattgefunden haben, da redete Jesus. Jetzt wird eine längere Rede eingeleitet.
Und dann kommen wir zu Vers 2. Und er sprach, also Jesus sprach: „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer.“ Bei dem Stuhl des Mose handelt es sich um eine übertragene Bezeichnung für den Lehrstuhl der Synagoge.
Das ist bis heute noch so. Wenn man beispielsweise auf einen jüdischen Friedhof geht, gibt es meistens an der Rückseite der Synagoge eine Art steinernen Stuhl. Das soll symbolisieren den Stuhl des Mose, denn Mose ist ja der Lehrer der Juden. Die Pharisäer nehmen ihn zum Vorbild, denn durch ihn hat Gott das Gesetz des Alten Testaments geoffenbart. So sehen sie das eben an.
Der Lehrstuhl des Mose ist heutzutage in der Synagoge zu finden, und die Pharisäer sehen sich als Nachfolger des Mose an. In ihrer pharisäischen Tradition wollen sie nur die Gebote des Mose akzeptieren.
Die Sadduzäer beispielsweise, eine andere Gruppierung, haben zusätzliche Gebote neben denen der Bibel hinzugefügt. Auch vertreten sie manche Überzeugungen, die gar nicht in der Bibel stehen. So glauben die Sadduzäer zum Beispiel nicht an die Auferstehung und ähnliche Dinge.
Hier merken wir einen Unterschied zwischen den Parteien: Die Pharisäer wollen nur das Gesetz Moses einhalten und sehen sich als Lehrer in der Tradition Moses. Deshalb eben auch dieser Stuhl, der symbolisch an der Rückwand der Synagoge angebracht ist. Dort meinen sie, sie sitzen auf dem Lehrstuhl.
Wir könnten das auch ähnlich übersetzen wie an den Universitäten, wo man heute vom Lehrstuhl für neuere Geschichte oder Ähnlichem spricht. Das bedeutet nicht, dass eine bestimmte Person damit verbunden ist, und es bedeutet auch nicht real, dass irgendwo ein Stuhl steht, auf den man sich setzen könnte.
Es bedeutet einfach, dass es eine Einrichtung, einen Platz oder eine Aufgabe gibt, die für jemanden vorgesehen ist, der sich in diesem Bereich auskennt. Jetzt bedeutet der Lehrstuhl Moses – ich habe ja auch mal bei der Bergpredigt erzählt, wo Jesus sich setzte –, dass das Setzen damit zu tun hatte, dass man jetzt eine hochoffizielle Lehrrede hält.
So wurde das hier übertragen: Hier wird nicht nur irgendeine Lehrrede gehalten, sondern eine Lehrrede in der Tradition Moses. Die Pharisäer meinten also, dass sie die rechtmäßigen Erben von Mose seien und deshalb auf dem Lehrstuhl Moses säßen. Das ist also ihre Überzeugung.
Ja, so weit dazu.
Aufforderung zum Gehorsam, aber Warnung vor dem Vorbild der Pharisäer
Vers 3: „Alles nun, was sie euch sagen, die Pharisäer, das tut und haltet, aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen's zwar, tun's aber nicht.“
Hier weist Jesus auf die Äußerlichkeit der Pharisäer hin. Das zeigt sich auch im weiteren Verlauf des Kapitels. Es wird zum Teil gesagt, dass innerlich die Gefäße unrein sind, während sie äußerlich rein erscheinen. Oder es heißt, ihr seid wie äußerlich getünchte Gräber – darauf kommen wir später noch –, und innen sind die Toten geballt, sodass alles verfault.
Das ist typisch für die Vorwürfe, die Jesus ihnen immer wieder macht. Wir sehen auch, dass er sie als Heuchler bezeichnet, weil sie etwas anderes vortäuschen, als sie tatsächlich tun. Deshalb sagt er hier, dass es durchaus Pharisäer gibt, die wahre Aussagen machen, die die Bibel kennen und sagen, was richtig zu tun ist. Doch sie selbst handeln nicht danach oder leben nicht den Geist dessen, was sie predigen und aus dem Alten Testament wiederholen. Das ist ein deutlicher Unterschied.
Die Gesetzesauslegung wird von Jesus manchmal angegriffen, insbesondere ihre Interpretation. Beispiele finden wir in Matthäus 5 in der Bergpredigt, auch in Matthäus 12, Vers 1 und folgende, sowie Matthäus 15, Verse 1 bis 20. In diesen Passagen haben wir bereits einige Verse behandelt, in denen Jesus gegenüberstellt, was die Pharisäer sagen und wie er es tatsächlich meint. Er ist also nicht mit allen Interpretationen einverstanden, aber mit den grundlegenden Aussagen.
Man merkt, dass er seine Gegner nicht pauschal verurteilt, sondern generell dazu aufruft, sich der Gemeindeordnung unterzuordnen, selbst wenn sie Fehler macht. Diese Ordnung ist von Gott eingesetzt.
Ich möchte das auf unsere Situation in der Gemeinde übertragen. Natürlich entscheidet die Praxis letztlich mit darüber, wie wahrhaftig und ernsthaft der Glaube gelebt wird. Doch wenn eine Diskrepanz besteht, sind wir dennoch aufgefordert, denjenigen Gehör zu schenken, die etwas Gutes sagen – auch in der Gemeindeleitung –, selbst wenn sie in anderen Punkten Fehler machen. Solange ich Teil der Gemeinde bin und mich eingegliedert habe, sollte ich das, was gesagt wird, auch tun und respektieren, selbst wenn ich mit anderen Punkten oder ihrem Leben nicht immer einverstanden bin.
So ruft Jesus hier auch zum Gehorsam gegenüber den Pharisäern auf, wenn sie etwas lehren, das dem Wort Gottes entspricht – und das tun sie in den meisten Fällen. Viele der Aussagen, die wir gesehen haben, stimmen. Jesus sagt sogar, dass es eigentlich noch schärfer ist: Man muss noch genauer hinschauen als bei dem, was sie sagen, sonst bleibt man bei einer äußeren Selbstgerechtigkeit.
Kritik an der Überforderung durch religiöse Lasten
Kapitel vier
Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern, aber sie selbst wollen keinen Finger dafür krümmen. Hier sind in erster Linie die Gebote gemeint.
Wir lesen auch in Apostelgeschichte 15, Vers 10, wo es ebenfalls um Gebote als Last geht. Dort wird die Frage gestellt, welche Last man den neuen Christen auflegen soll, die zum Glauben gekommen sind. In Apostelgeschichte 15, Vers 10 heißt es: „Warum versucht ihr denn durch Gott, dadurch, dass ihr ein Joch auf den Nacken der Jünger legt, das weder unsere Väter noch wir haben tragen können?“ Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass man durch das Gesetz nicht gerecht werden kann – das galt auch für die Juden.
Warum versucht ihr also, den Heiden wiederum dieses Gebot, diese Gesetze, aufzuerlegen? Die Diskussion geht weiter, und schließlich finden wir im Vers 28 des Apostelkonzils eine Entscheidung. Dort heißt es: „Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Lasten aufzulegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer, vom Blut, vom Erstickten und von der Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, so tut ihr Recht. Lebt wohl.“
Hier wird der Abschluss des Apostelkonzils dargestellt und das ursprüngliche Problem angesprochen: Welche Gebote des Alten Testaments, welche Zeremonialgebote sollen die Heidenchristen einhalten? Die Antwort lautet, dass nur diese drei Punkte gelten sollen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass sie jetzt morden dürfen, weil das nicht ausdrücklich erwähnt wird, oder dass sie lügen dürfen, obwohl das verboten ist. Es geht hier um die Reinheitsgebote des Alten Testaments, um den Teil, der sogenannten Zeremonialgesetze. Dazu gehören Beschneidung, Speisegebote, Kleidungsgebote und ähnliche Vorschriften, die hier ausgeklammert sind. Es wird gesagt, dass aus diesem Bereich nur diese drei Gebote für die Christen gelten sollen.
Diese Bürden und Lasten aufzulegen, haben wir auch schon in Matthäus 11, Verse 28 bis 30 gelesen. Dort sagt Jesus: „Kommt zu mir, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ Er stellt dies der Last gegenüber, die die Pharisäer auflegen. Die Pharisäer konzentrierten sich in erster Linie auf das Gesetz. Zur Zeit Jesu gab es beispielsweise in Qumran noch zusätzliche Gebote, wie Einschränkungen der Sexualität, Speisegebote, an bestimmten Tagen gar nichts zu essen, regelmäßige Tauchbäder zur Reinigung und Ähnliches. Diese zusätzlichen Regeln sollten das Leben erschweren oder die Heiligkeit erhöhen.
Im Qumran gab es zwei Stufen: die einfachen Gläubigen und die Perfekten, also diejenigen, die es geschafft hatten. Solche Aufteilungen gibt es manchmal auch in Gemeinden, was oft zu Unrecht geschieht. Manchmal bildet sich eine kleine Gruppe, die sich als die einzig Wahren ansieht, während die anderen als minderwertig betrachtet werden. Das ist meist sehr schädlich für das Miteinander in der Gemeinde. Es stärkt eher das eigene Selbstwertgefühl, als dass es der Gemeinde hilft. Außerdem führt es zu mangelnder Korrigierbarkeit, Übermut, Hochmut und Stolz. Wie wir im Wort Gottes lesen: Hochmut kommt vor dem Fall. Häufig zeigt Gott uns dann, wer wir wirklich sind, wenn wir zu hochmütig auftreten.
Ich habe euch einige Beispiele genannt. In unserer Gemeinde gab es auch so einen Fall: Ein Hauskreis, der sich besonders charismatisch fühlte und meinte, den Heiligen Geist in besonderer Weise zu haben. Sie sagten, sie hätten alle Begabungen. Obwohl wir uns ein Jahr lang immer wieder zusammengesetzt haben, um mit ihnen die Bibel zu lesen und zu prüfen, was daraus hervorging, waren sie nicht bereit zuzuhören. Sie behaupteten immer wieder, dass der Heilige Geist ihnen etwas gezeigt habe und dass wir das nicht erkennen könnten, weil wir nicht die Erfüllung mit dem Heiligen Geist hätten, wie sie.
Warum sollten wir die Bibel nicht verstehen können, wenn sie etwas anderes tun? Das war für uns nicht erklärbar. Hier zeigt sich schnell eine Art Elitebewusstsein: „Wir sind die Besseren, die wahren Christen.“ Solche Menschen sind dann nicht mehr korrigierbar. Das erinnert an die Pharisäer, die ebenfalls Lasten auferlegten. Wer diese Lasten trägt, fühlt sich etwas ganz Besonderes.
Darüber hinaus besteht eine Gefahr, von der wir lernen sollten: die Gesetzlichkeit. In manchen Gemeinden und bei einzelnen Christen herrscht starke Gesetzlichkeit, bei der Menschen unnötige Lasten und Bürden auferlegt werden. Man macht es den Leuten schwer, Christ zu werden und Jesus nachzufolgen – an Dingen, die gar nicht notwendig sind.
Ich erinnere mich an eine junge Frau in Basel, die in unserem Haus lebte, ein Stockwerk unter uns. Eines Tages traf sie einen ehemaligen Schulkameraden, der inzwischen zum Glauben gekommen war. Für sie war das eigentlich eine schöne Sache, denn er war ein cooler Typ, mit dem man viel unternehmen konnte. Sie selbst war nicht gläubig. Er sagte ihr: „Ich folge jetzt Gott nach, ich bin Christ.“ Das war zunächst gut.
Dann sagte er aber sofort: „Du bist sündig und musst umkehren, sonst kommst du in die Hölle.“ Das war für sie ein Schock. Sie dachte: „Was ist denn mit dem los?“ Er fügte hinzu: „Du kannst in unsere Gemeinde kommen, aber so sündig wie du bist, geht das nicht. Du musst erst deine Haare festbinden und einen Rock tragen, sonst kannst du nicht kommen.“ Sie sagte, sie habe keinen Rock. Darauf antwortete er: „Na gut, du kannst bei mir oder meiner Schwester einen ausleihen.“
Diese ganzen Forderungen waren für sie ein großer Schock. Sie ließ ihn stehen, kam zu uns und sagte: „Weißt du, wen ich heute getroffen habe? Was für ein komischer Kerl das war.“ Für sie war das mehr ein Hindernis, Jesus zu folgen, als eine Hilfe. Man hat es vielleicht gut gemeint, aber manchmal werden solche Hindernisse aufgebaut, die völlig unnütz sind.
Man sollte sich immer fragen: Wenn der Mensch das tut, was du von ihm verlangst, wird er dadurch gerettet? Wenn die Antwort nein ist, dann sollte man diese Forderung zurückstellen. Das ist nicht der entscheidende Punkt. Warum sollen die Leute wie Christen leben oder gar das, was nicht mal im Sinn steht? Wie sollen sie das schaffen? Sie haben ja nicht den Heiligen Geist, der sie führt, und nicht die Kraft Gottes, die ihnen hilft.
Wenn viele Christen selbst diese moralischen Dinge nicht schaffen, kannst du dann sagen: „Wie böse bist du jetzt, du musst aber so und so leben“? Hilft das irgendjemandem? Nein, dadurch werden die Leute nicht errettet, kein bisschen.
Ich kenne das aus der Schule: Manche Schüler sagen, sie hätten den Katholizismus durchgenommen und finden ihn böse und falsch. Am liebsten würden sie zu einem Katholiken gehen und sagen, was sie von Maria, den Apokryphen, dem Papst und so weiter halten. Aber ist jemand deshalb errettet, wenn er aus der katholischen Kirche austritt? Nein. Ist jemand errettet, weil er einen Rock trägt? Natürlich nicht.
Das müssen wir ehrlich eingestehen: Wir dürfen keine Gesetzlichkeit predigen. Wir müssen die Bekehrung zu Jesus Christus, die Umkehr aufgrund der Sünde und die Erlösung durch Jesus predigen. Die anderen Dinge kommen viel später.
Früher habe ich auch Fehler gemacht. Ich habe Bücher über Evolution und Schöpfung gelesen und gedacht, das sei das Thema, mit dem man Leuten zeigen kann, wie dumm sie sind. Die meisten glauben an Evolution, haben aber keine Ahnung. Ich hatte einige Gespräche, bei denen die Leute am Ende beschämt waren. Aber sind sie dadurch zum Glauben gekommen? Nein. Die meisten waren eher frustriert und sagten, sie wollten nicht mehr mit mir sprechen.
Was passiert, wenn die Leute einsehen, dass die Evolution falsch ist und dass Gott die Welt geschaffen hat? Werden sie dadurch errettet? Nein, natürlich nicht. Wenn sie an Jesus Christus als ihren Heiland glauben, ihre Sünden bekennen und ihm nachfolgen, sind sie errettet – auch wenn sie an Evolution glauben. Biblisch gesehen sind sie dann errettet, auch wenn sie falsche Lehren haben.
Ich will das nicht rechtfertigen oder sagen, dass alles egal ist, was man glaubt. Aber es ist nicht entscheidend, um zu Gott zu kommen. Wenn jemand Christ geworden ist, kann man auf einer anderen Ebene mit ihm sprechen. Dann glaubt er, dass Gott durch die Bibel spricht, und die Autorität des ersten Buches Mose ist für ihn viel höher als für einen Nichtchristen.
Deshalb sollten wir solche Diskussionen lieber führen, wenn jemand schon zum Glauben gekommen ist, nicht vorher. Uns soll wichtig sein, dass er errettet wird und nicht, dass wir ihm unnötige Lasten der Lehre oder Ethik auflegen, die er nicht tragen kann und unter denen er nur zusammenbricht.
Das ist eine wichtige Sache, die wir im Gespräch mit anderen immer wieder berücksichtigen sollten. Natürlich müssen wir auch darüber sprechen. Wenn jemand sagt, er könne die Bibel nicht glauben, gerade wegen solcher Fragen, und daran festhält, ist es manchmal notwendig, das vor dem Evangelium zu klären. Aber nur dann, wenn es für ihn ein echtes Hindernis ist, die Bibel überhaupt anzunehmen.
Selbst in solchen Fällen habe ich manchmal gesagt: „Lass uns das erstmal zurückstellen. Es kommt jetzt nicht so sehr darauf an. Aber was sagst du zu dem, was Jesus sagt?“ Manche steigen darauf ein. Nur bei den ganz Hartnäckigen, die nicht über Jesus sprechen wollen, müssen wir vor dem Glauben auch über Fragen wie Evolution und Schöpfung reden.
Kritik an der Selbstinszenierung der Pharisäer
Vers 5: Alle ihre Werke tun sie jedoch, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß.
Hier ist ein Hinweis auf das besondere Verhalten der Pharisäer. Was sie generell tun, entspricht dem alttestamentlichen Gebot Gottes. Zum Beispiel finden wir Hinweise auf die Gebetsriemen oder kleine Kapseln, die Juden bis heute noch auf der Stirn tragen. Diese finden sich im zweiten Buch Mose, Kapitel 13, Vers 16, sowie im fünften Buch Mose, Kapitel 6, Vers 8. Auch im neunten Kapitel des fünften Buches Mose wird darauf Bezug genommen.
Im Matthäusevangelium, Kapitel 9, Vers 20, sehen wir die Quasten und Trotteln an Jesu Kleidern, an denen sich die blutflüssige Frau festhält. Generell sind diese Gebetsriemen Riemen, die zum Beispiel an der Hand getragen und herumgebunden werden. Schwarze Riemen tragen orthodoxe Juden bis heute beim Gebet.
Darüber hinaus haben sie Quasten, also farbige, blaue Trotteln an den Ecken ihrer Kleidungsstücke. Auf der Stirn befestigen sie mit einem Riemen ein kleines schwarzes Kästchen, das meistens vier Abteilungen hat. Diese enthalten vier Auszüge aus dem Alten Testament, und zwar folgende: 2. Mose 13,16; 5. Mose 6,8; 5. Mose 11,18; und 5. Mose 11,13-21. Diese Verse sind für die Juden von großer Bedeutung und befinden sich bis heute in dem kleinen Kästchen auf der Stirn. Auch am Riemen tragen sie diese Worte, denn alttestamentliche Texte sagen, dass du das Wort Gottes auf deinem Herzen tragen sollst. Deshalb auch die Riemen und das Kästchen auf dem Kopf. Das soll zeigen, dass das Wort Gottes dir besonders nahe gehen soll.
Die Pharisäer nehmen das wortwörtlich. Wir würden vielleicht sagen, das bedeutet, du sollst das Wort Gottes in dein Herz einschließen, Tag und Nacht daran denken. Sie sagen jedoch: „Nein, da steht wortwörtlich, wir sind jetzt ganz bibeltreu, nicht ultra bibeltreu, aber wir machen es uns direkt aufs Herz.“ Manche Dinge wären gefährlich, wenn man sie wörtlich nähme. Zum Beispiel, wenn Jesus sagt: „Wenn dich dein Auge ärgert, reiß es aus; wenn dich deine Hand ärgert, hack sie ab.“ Wie würden wir heute leben, wenn wir das wörtlich nähmen? Wahrscheinlich wären wir alle invalide.
Es gab in der Kirchengeschichte tatsächlich Menschen, die das sehr radikal nahmen. Origenes zum Beispiel hat das ernst genommen. Er hatte Probleme mit seiner Sexualität und wollte Jesus ganz nachfolgen. Deshalb hat er sich selbst entmannt. Danach wurde er ein mächtiger Prediger, der viele Menschen zum Glauben führte und viele Schriften verfasste. Aber in dieser Hinsicht war er extremistisch. Er las das Wort Gottes und setzte es sofort wörtlich um.
Bei den Pharisäern war es in vielerlei Hinsicht ähnlich. Sie lesen die Schrift wortwörtlich und versuchen, sie genau umzusetzen. Deshalb tragen sie die Riemen und das kleine Kästchen auf dem Kopf. Die Quasten sind Erinnerungszeichen an die Gebote Gottes, wie zum Beispiel in 4. Mose 15,38-40 beschrieben.
Jesus kritisiert nicht grundsätzlich das Motiv, das dahintersteht, also dass sie die alttestamentlichen Gebote übernehmen. Er sagt, dass solche äußeren Dinge eine Hilfe sein können. Manchmal können uns äußere Zeichen an Gott erinnern. Ich selbst habe in meiner Wohnung einige Erinnerungsstücke, die mir helfen, an Gottes Beistand zu denken.
Zum Beispiel habe ich in meinem Büro eine Flasche stehen, die letzte Flasche der Chemotherapie, die ich nach meiner Krebserkrankung erhalten habe. Ich habe die Krankenpflegerin gebeten, sie mir zu geben. Sie meinte, sie habe noch nie erlebt, dass jemand so etwas mitnehmen wollte, doch dann hat sie sie ausgespült, und ich habe sie behalten. Diese Flasche ist für mich ein Erinnerungsstein daran, dass Gott mir in dieser schweren Zeit beigestanden hat. Sie erinnert mich daran, dass Gott mich gerettet hat und bei mir war, auch in Zeiten großer Not.
Solche Erinnerungsstücke habe ich an verschiedenen Orten in meiner Wohnung. Vielleicht würde man sie nicht sofort erkennen oder verstehen, aber sie sind persönliche Zeichen der großen Taten Gottes in meinem Leben. Solche Erinnerungen können eine Hilfe sein.
Deshalb kritisiert Jesus nicht grundsätzlich die Quasten und all das Zubehör. Wenn sie die Menschen an Gott erinnern, sollen sie das ruhig tragen. Aber er kritisiert das Motiv. Denn das Motiv der Pharisäer ist falsch: Sie wollen nicht an Gott erinnert werden. Sie wollen nur, dass die Leute sehen, welche schönen, breiten, dicken Riemen sie am Arm haben und welches große Kästchen sie vor dem Kopf tragen – ein Brett vor dem Kopf sozusagen.
Sie wollen, dass alle sehen, welche tollen Juden sie sind. Diese Prunksucht und Selbstsucht der Pharisäer ist es, was Jesus kritisiert. Und in diese Gefahr können wir auch manchmal geraten: zu sagen, schaut, wie toll ich bin, wer ich bin, was ich mache und was ich in der Vergangenheit schon getan habe. Das ist ein Problem, das wir beachten sollten.
Kritik an der Eitelkeit und Selbstinszenierung im öffentlichen Leben
In Vers 6 lesen wir, dass man bei den Juden nicht gleichgültig war, wo man saß – weder bei Tisch noch in den Synagogen. Der Ranghöchste oder Ehrengast saß meistens an der Stirnkante des Zimmers. Wenn wir uns vorstellen, ich stehe hier über der Tür, dann ist der Ehrenplatz ganz am Ende, dort, wo man hereinkommt und direkt darauf schaut. Diesen Platz sah man zuerst.
Direkt neben dem Ehrenplatz saßen die zweit- und dritthöchsten Personen. Wer ganz an der Tür saß, war sozusagen jemand, der gerade noch hereingerutscht war, aber keine besondere Bedeutung mehr hatte. Deshalb sagt Jesus, dass die Pharisäer gerne ganz vorne saßen, um gesehen zu werden. Sie wollten zeigen: „Wir sind etwas Besonderes.“
In der Synagoge war es ähnlich. Es gab verschiedene Reihen vor dem Vorlesepult. Die, die ganz vorne saßen, waren gut sichtbar. Sie saßen entgegen der Gemeinde, und die Gemeinde schaute auf sie. Deshalb wird gesagt, dass sie es gerne mochten, vorne zu sitzen, um zu zeigen, wie fromm und wichtig sie sind. Das ist eine Schwäche, die hier kritisiert wird: sich besonders selbst wichtig zu nehmen.
Sie mochten es auch, auf dem Markt gegrüßt zu werden und von den Leuten „Rabbi“ genannt zu werden. Rabbi ist heute ein geläufiger Begriff für jüdische Lehrer, aber eigentlich kommt das Wort von „Rav“. „Rav“ bedeutet auf Hebräisch „Groß“ und sollte nur Gott vorbehalten sein. „Rabi“ heißt so viel wie „mein Großer“. Wenn sie so genannt werden wollten, bauten sie sich innerlich ein hohes Selbstwertgefühl auf.
Direkt danach spricht Jesus auch an, dass sie sich gerne „Vater“ nennen lassen. Als Vater hat uns Jesus besonders Gott offenbart, nicht irgendeinen Menschen. Hier zeigt sich ein Problem, das auch in der katholischen Kirche besteht: Manche Geistliche werden als „Pater“ angesprochen, was auf Latein „Vater“ bedeutet. Jesus wendet sich dagegen. Es geht nicht nur um den Begriff, sondern um die Ehre, die damit verbunden wird. Deshalb sollten wir hier vorsichtig sein.
Bei den Juden war es zur Zeit Jesu üblich, dass Schüler der Pharisäer ihre eigenen Eltern nicht mehr hochhielten, sondern sagten: „Unsere eigentlichen Väter sind die Pharisäer, von denen wir gelernt haben.“ Das zeigt, wie falsch sie das verstanden hatten.
Deshalb wird hier gesagt, dass sie nicht „Rabbi“ genannt werden sollen, weil dieser Ehrentitel nur Gott zusteht. Denn nur einer ist groß, und das ist Gott. Das ist die Antwort Jesu, die wir lesen: „Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister, und ihr alle seid Brüder.“ Ihr seid alle auf einer Ebene.
Außerdem heißt es: „Ihr sollt niemanden auf Erden Vater nennen, denn einer ist euer Vater im Himmel.“ Das haben wir auch im Vaterunser gehört. Und „ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen, denn einer ist euer Lehrer: Christus.“ Es geht also nicht darum, generell keine Lehrer zu haben. Im Neuen Testament sehen wir ja, dass es eine Begabung des Heiligen Geistes ist und ein festes Amt in der Gemeinde. Aber es geht darum, dass niemand sich über andere erheben soll.
Paulus wendet sich ebenfalls dagegen, wenn Menschen sagen: „Wir sind die des Petrus, wir sind die des Apollos, wir sind die des Christus.“ Darum geht es nicht. Wir folgen Jesus nach, und die Lehrer sind nicht das Entscheidende.
Deshalb sagt Jesus: „Ihr seid nicht diejenigen, nach denen sich die Menschen ausrichten sollen. Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Vers 12).
Das ist eine allgemeine Demutsregel. Die Ordnung bei den Menschen wird umgekehrt. Bei den Menschen zählt, was sichtbar ist und repräsentiert. Bei Gott ist das anders.
Es bedeutet aber nicht, dass man kein Amt in der Gemeinde übernehmen oder nichts tun soll, um im Reich Gottes der Erste zu sein. Es geht um die innere Einstellung: Tust du es, um dich zu präsentieren und groß herauszukommen? Oder tust du es, egal ob andere dich loben oder kritisieren, weil es eine Sache für Gott ist? Das ist hier entscheidend.
Die sieben Weherufe gegen Pharisäer und Schriftgelehrte
Jetzt folgt die Wehe an die Pharisäer und Schriftgelehrten:
Wehe euch, Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler! Ihr verschließt das Himmelreich vor den Menschen. Ihr selbst geht nicht hinein, und die, die hinein wollen, lasst ihr nicht hinein!
Hier wird eine ganz radikale Sache angesprochen. Das Wort „Heuchler“, das hier verwendet wird, stammt vom griechischen „Hypokrites“. Ursprünglich bezeichnete es Schauspieler, also diejenigen, die nach außen bewusst eine Rolle spielen, während sie innerlich etwas ganz anderes sind. Früher war das oft so, dass Schauspieler im antiken Griechenland eine Maske aufsetzten und eine bestimmte Rolle spielten – sei es die des Fröhlichen, Traurigen oder Glücklichen. Genau das ist hier gemeint.
Mit „Heuchler“ sind also diejenigen gemeint, die eine Maske tragen, die nur Schauspieler sind. Sie tun nur so, als ob sie fromm wären, doch dahinter steckt nichts. Dieses Motiv wiederholt sich ständig während dieser Wehrrufe, in der einen oder anderen Weise. Nach außen wirken sie fromm, doch innerlich sind sie von Neid, Hochmut und Anmaßung geprägt. Sie spielen eine Show für die Zuschauer, die ihnen zusehen.
Sie stehen im Gegensatz zu den Werten, die in den Seligpreisungen hochgelobt werden (Matthäus 5,1-12). Das ist schlimm, und es wird noch schlimmer, weil sie andere daran hindern, dem Reich Gottes nachzufolgen.
Wodurch hindern sie andere? Zum einen durch ihr schlechtes Vorbild. Sie versuchen, andere zu animieren, so zu handeln wie sie selbst. Doch Jesus zeigt ihnen, wer sie wirklich sind: Mit ihrer Selbstgerechtigkeit können sie vor Gott nicht bestehen. Sie verführen andere dazu, genauso zu handeln wie sie. Damit verhindern sie, dass andere den wahren Weg der Vergebung gehen.
Zweitens schrecken sie manche ab, Gott nachzufolgen. Menschen sehen ihre Heuchelei und sagen sich: „Mit so jemandem will ich nichts zu tun haben.“ Auch dadurch verleiten sie andere zum Abwenden.
Drittens sagen sie den Leuten immer wieder, dass sie verloren gehen, wenn sie nicht so handeln wie sie. Sie nehmen ihnen jede Chance und Hoffnung auf die Vergebung Gottes.
Diese drei Punkte sollten uns herausfordern: Wie leben wir vor anderen Menschen? Wenn sie uns beobachten und unser Leben nachahmen, finden sie dann den Weg zur Errettung? Können wir, wie Paulus, sagen: „Eifert mir nach! Tut das, was ich tue! Nehmt mich zum Vorbild!“?
Das ist eine große Herausforderung. Wir sollten das sagen können. Es ist nicht möglich zu verlangen, dass andere so leben sollen, wie wir es predigen, aber nicht auf unser eigenes Vorbild achten. Das wäre völlig widersprüchlich. Die Leute würden denken: „Der spinnt ja wohl, wenn der das nicht selbst kann, dieser super fromme Mensch. Warum sollte ich dann so leben?“
Eine Vorbildfunktion ist in der Bibel sehr wichtig und sollte ernst genommen werden.
Wir sollten aber auch darauf achten, andere nicht aus Gründen auszuschließen, die nicht gelten. So wie die Pharisäer versucht haben, Menschen vom Reich Gottes auszuschließen und zu sagen: „Ihr kommt da nicht hinein.“
Außerdem sollten wir uns warnen lassen: Ist unser schlechtes Vorbild vielleicht ein Grund, warum andere Menschen nicht zu Gott kommen? Sie zeigen mit dem Finger auf uns und sagen: „Weil der sich so verhält, werde ich kein Christ.“
Das kommt vor. Viele Menschen werden nicht Christen wegen des schlechten Vorbilds, das sie von Christen sehen. Wie oft hört man: „Der ist Christ, aber der macht dies und das.“ Viele Menschen beobachten uns kritisch. Manchmal ist das ungerechtfertigt, und oft stimmt es auch nicht. Aber in manchen Fällen verhalten wir uns wirklich seltsam. Wir haben merkwürdige Meinungen, reagieren komisch, sind unfreundlich, eigensüchtig oder egoistisch, fluchen oder tun andere Dinge, die abschrecken.
Dann werden Menschen durch unser Verhalten davon abgehalten, zu Gott zu kommen. Das ist eine schwere Verantwortung, die wir tragen.
Deshalb weist Jesus hier besonders darauf hin: Ihr verschließt den Leuten das Himmelreich durch euer Verhalten. Ihr steht dem Reich Gottes im Weg, anstatt ihm zu dienen und anderen zu helfen, Gott zu finden.
Dadurch macht ihr Gott Unehre statt Ehre und hindert andere daran, auf Gott zuzugehen. Das ist eine schlimme Sache.
Zusätzliche Kritikpunkte an Pharisäern und Schriftgelehrten
Vers 14: Wie ihr euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr in die Häuser der Witwen eindringt und dort freßt, während ihr zum Schein lange Gebete verrichtet – darum werdet ihr ein umso härteres Urteil empfangen.
Dieser Vers kommt in den ältesten uns vorliegenden Abschriften nicht vor und wurde möglicherweise später eingefügt. Dennoch entspricht er der generellen Aussage, die Jesus auch vertritt. Ich werde jetzt nicht im Detail darauf eingehen. Es geht darum, dass sich solche Schriftgelehrten und Pharisäer bei den armen, frommen Witwen eingeschlichen haben. Diese Witwen glaubten, besonders fromm zu sein. Die Schriftgelehrten und Pharisäer sagten so und so, doch in Wirklichkeit ging es ihnen nur ums Geld. Sie konnten von diesem Geld leben und haben dadurch profitiert, während sie die Witwen in Wirklichkeit nur ausgebeutet haben.
Vers 15: Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchquert, um einen Judengenossen zu gewinnen. Und wenn er es geworden ist, macht ihr ihn zu einem Kind der Hölle – doppelt so schlimm wie ihr.
Man sprach damals vom Proselytentum. Viele Juden waren eifrige Missionare. Wir lesen das beispielsweise in Apostelgeschichte 10,1; Apostelgeschichte 22,22; Apostelgeschichte 13,16; Apostelgeschichte 17,4 und 17. An vielen Stellen sehen wir, dass Paulus an einen Ort kam, wo Juden und Judengenossen waren, die dort zuhörten, oder dass Gottesfürchtige dort waren. Jesus predigte vor solchen Menschen.
Diese Leute waren von den Juden gewonnen worden, besuchten die Synagogen und Gottesdienste, waren aber noch nicht offiziell Juden. Sie befanden sich sozusagen auf dem Weg, Juden zu werden. Für einen Mann galt damals: Erst wenn du dich beschnitten hast, bist du ein vollwertiger Jude. Dieses äußere Zeichen, die Beschneidung, war für sie entscheidend wichtig. Es kam nicht so sehr auf das Herz an. Paulus sagt später, dass die Beschneidung des Herzens das Wichtige ist.
Für die damaligen Juden war das Stückchen Fleisch jedoch entscheidend. War es entfernt, galt man als Jude, als heilig und rein. War es noch da, war es ein Hindernis, um in den Himmel zu kommen. Das klingt seltsam, war aber typisch für sie.
Jetzt versuchten sie, die neuen Gläubigen von diesem äußeren Zeichen abhängig zu machen und sie in die Gesetzlichkeit zu zwingen. Deshalb heißt es, sie werden Kinder der Hölle, weil sie das Gesetz Gottes pervertieren. Durch ihren Egoismus, ihre Selbstsucht und ihre Scheinfrömmigkeit führen sie nicht zu Gott, sondern direkt in die Hölle. Das sind deutliche Worte.
Außerdem nehmen sie andere Menschen mit und zwingen sie unter das Joch des Gesetzes. Deshalb werden diese neuen Gläubigen doppelt so schlimm wie sie selbst. Warum? Viele derjenigen, die von Heiden zum Judentum kamen, legten das Alte Testament noch radikaler aus als die Pharisäer selbst.
Warum? Weil sie selbst so viel aufgegeben hatten. Wenn ich schon diese Operation (die Beschneidung) auf mich genommen habe und auf vieles verzichte, dann muss ich umso stärker darauf achten. Man sieht das auch heute noch: Jemand, der Probleme mit Alkohol hatte, wird gläubig und liest in der Bibel, dass man sich nicht betrinken soll. Solche Menschen sind oft die schärfsten Gegner jeglichen Alkoholkonsums.
Oder jemand, der mit seiner Sexualität besondere Probleme hatte, wird gläubig, sieht, was die Bibel dazu sagt, und wird dann umso radikaler. Jetzt müssen alle ganz genau auf den Buchstaben achten.
Vielleicht kennt man so etwas: Menschen, die mit bestimmten Dingen Probleme haben, werden manchmal noch radikaler. Bei den Heiden, die zum Judentum konvertieren wollten, war das ebenso. Sie wurden oft noch radikalere Pharisäer als die einheimischen Pharisäer selbst.
Wir sehen das auch bei Paulus. Er hatte eine jüdische Mutter und möglicherweise einen heidnischen Vater. Paulus war ein eifriger Verfolger der Christen, radikaler als viele einheimische Pharisäer. Er schlug Christen tot und war sehr engagiert. Das zeigt, wie radikal manche Konvertiten wurden, oft sogar radikaler als die ursprünglichen Pharisäer.
Kritik an der Spitzfindigkeit und Scheinheiligkeit bei Schwüren
Vers: „Wehe euch, ihr verblendeten Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei dem Tempel, gilt das nicht; wenn aber jemand bei dem Gold des Tempels schwört, dann ist er gebunden. Und ihr Narren, ihr Blinden, was ist wichtiger oder mehr: das Gold des Tempels oder der Tempel selbst?“
Diese ganze Geschichte mit dem Schwören stellt uns natürlich vor eine Herausforderung. Es geht darum, Gott nichts vormachen zu wollen. Die Juden damals hatten den Eindruck – insbesondere die Pharisäer –, dass ein Schwur nur dann ernst gemeint ist, wenn das Wort Gott darin vorkommt. Das war die Grundidee.
Du konntest also schwören bei deinem Haus, bei deinem Vieh, bei der Zopflocke deiner Frau oder ähnlichem – das galt als nicht so schlimm, nicht so ernst gemeint. Aber wenn Gott nicht im Schwur genannt wurde, dann machte das nichts. Und hier zeigt sich wieder eine Scheinheiligkeit. Man erweckt den Eindruck, man meint es ganz ernst durch den Schwur, sucht aber in Wirklichkeit nur eine Ausflucht, um den anderen zu betrügen. Denn man meint es ja nicht wirklich ernst.
Jesus sagt dazu, dass das doch Unsinn ist. Darum geht es nicht. Manche machen sogar so spitzfindige Unterscheidungen. Zum Beispiel: Du darfst bei dem Altar schwören, das sei nicht so schlimm. Aber bei dem Opfer des Altars zu schwören, das sei verboten. Jesus nennt das völligen Blödsinn. Denn das eine hängt ganz eng mit dem anderen zusammen. Das eine ist das Größere, das das andere heiligt. Das Opfer selbst ist nicht so wichtig wie der Altar, auf dem es liegt und der Gott geweiht ist.
Er macht deutlich, dass man das nicht voneinander trennen kann. Er wendet sich gegen die Kasuistik der damaligen Zeit. Kasuistik bedeutet, dass man von einem Einzelfall ausgeht und jeden einzelnen Fall prüft: Darf man das jetzt noch tun oder nicht? Das ist eine Tendenz, in die manche Christen auch verfallen. Sie tasten sich immer haarscharf an der Grenze entlang: Was erlaubt Jesus noch gerade? Wie viel Bier darf ich gerade noch trinken, um nicht verloren zu gehen? Oder wie sehr darf ich gerade noch eine Halbwahrheit sagen, die gerade noch so akzeptabel ist?
Ein Beispiel: Ein Arbeitskollege vermisst seinen Taschenrechner und fragt mich, ob ich ihn genommen habe. Ich sage: Nein. Vielleicht habe ich ihn nicht genommen, sondern er ist runtergefallen. Ich weiß ganz genau, dass er unter dem Tisch liegt, sage ihm das aber nicht. Oder ein anderer Kollege hat ihn mir gegeben, ich habe ihn in der Hand gehabt und dann eingesteckt, um ihn mitzunehmen – aber ich habe ihn ja nicht „genommen“, denn er wurde mir gegeben. Ein feiner Unterschied. So sagen wir also: Ich habe ihn nicht genommen.
Solche Situationen gibt es. Man kann zwar die Wahrheit sagen, obwohl man eigentlich weiß, dass es moralisch fragwürdig ist. Ähnlich ist es bei den Pharisäern, die wir hier antreffen. Jesus kritisiert das deutlich und stellt sich dagegen.
Vers 21: „Wer schwört bei dem Tempel…“ – das überspringen wir jetzt und kommen zu Vers 23.
Kritik an der Prioritätensetzung bei religiösen Pflichten
Wie ihr, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Düll und Kümmel, aber das Wichtigste des Gesetzes beiseitelasst, nämlich Recht, Barmherzigkeit und Glauben. Das soll man tun, und jenes nicht lassen.
Es gibt verschiedene Bezüge darauf im Alten Testament, wo das Wichtigste des Gesetzes auch genannt wird. Das war den Juden eigentlich klar, doch viele Pharisäer prahlten damit, alles im Detail ganz genau zu nehmen.
Normalerweise hatte jeder Jude von seiner Ernte, sagen wir mal ein paar Tonnen, den Zehnten abgemessen und gegeben. Das war festgelegt, und danach sollte man sich allgemein richten. Doch bei den Kleinigkeiten, stellt euch vor, ihr habt so einen kleinen Küchentopf, in dem ihr zum Beispiel Kresse wachsen lasst. Dann müsst ihr genau abzählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, hier andere zehn, einen ab, eins, zwei, drei, vier, fünf.
Dann kommt ihr in den Tempel und habt schließlich so auf zwei Fingern zehn kleine Stängel der Kresse dem Priester gegeben: „Hier, das ist der Zehnte, den opfere ich jetzt auch.“ So muss man bei Kleinigkeiten ganz genau sein. Doch rechts und links hungern die Leute. „Ich habe nichts zu tun, ich habe mein Gebot erfüllt, ich habe genau meinen Zehnten gegeben. Jetzt hast du Pech, mein Zehnt ist schon weg, die Kresse kannst du nicht mehr essen.“ Der Hungrige muss halt verhungern.
Dafür wird er ihnen vorgeworfen. Diese Scheingerechtigkeit gibt es manchmal auch heute noch. „Ich habe das ganz genau erfüllt, aber du hast es nicht getan, jetzt gehst du verloren.“ So wird das Absolute zur Sünde erklärt. Vielleicht hast du Musik gehört oder etwas kopiert für deinen Gottesdienst, ohne vorher die Erlaubnis einzuholen. Natürlich ist das falsch, und das sollen wir auch nicht tun.
Doch oft werden kleinere Fehler zum Maßstab für wahr und falsch gemacht, während die Bibel viel häufiger über Geiz, Selbstsucht und Heuchelei spricht. Diese Dinge spielen dann keine Rolle und fallen unter den Tisch.
Jesus sagt: Ihr habt nicht das richtige Verhältnis. Zwar ist nicht falsch, was ihr tut, aber darauf kommt es nicht so sehr an. Es gibt viel wichtigere Dinge in eurem Leben. Die Prioritäten sind bei euch vollkommen falsch gesetzt. Das ist der Punkt, der hier eine Rolle spielt.
In Vers 24 heißt es: „Ihr verblendeten Führer, die ihr die Mücken aussiebt und Kamele verschluckt.“ Das war wahrscheinlich ein kleiner Scherz, den Jesus sich erlaubte. Ich kann mir vorstellen, die Leute haben richtig gelacht, die Pharisäer wurden beschämt und schauten zum Boden, während die Jünger und andere herzhaft lachten.
Hier wird deutlich vor Augen geführt, wie völlig falsch die Relation ist: Sie achten genau auf den Dill und die kleinen Kräuter, aber das Wichtigste bleibt unbeachtet. So müssen wir auch sagen: Keine Selbstgerechtigkeit bei Kleinigkeiten. Wir müssen generell darauf achten, was die Grundlagen unseres Glaubens sind.
Tatsächlich entspricht das, was Jesus hier sagt, der Realität. Damals haben die Pharisäer Mücken ausgesiebt – nicht, weil sie Angst hatten, gestochen zu werden, sondern weil nach dem Alten Testament Mücken unreine Tiere sind. Wer das nachlesen möchte, kann zum Beispiel 3. Mose 11,20 betrachten.
Kamele sind nach 3. Mose 11,4 ebenfalls unrein, und sie sind natürlich viel größer. Man merkt, diese kleinen Unreinheiten versuchen sie zu vermeiden, diese winzigen Sachen.
Viele Pharisäer haben tatsächlich die Mücken ausgesiebt, damit sie sie nicht aus Versehen verschlucken – nicht aus Tierliebe, sondern um nicht unrein zu werden. Aber die groben Sachen, wie das Wegsehen bei den Menschen in Not, ließen sie links liegen.
Sie hatten diese Selbstgerechtigkeit, ohne Gott wirklich zu ehren. Das fiel ihnen offenbar gar nicht auf. Deshalb sagt Jesus: Ihr verschluckt Kamele, was eigentlich nicht geht, und habt Angst vor den kleinen Mücken, die ihr mit hineinnehmen könntet.
Kritik an der inneren Reinheit und Heuchelei
Wie ihr euch, ihr Schriftgelehrten, ihr Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber voller Raub und Gier sind!
Wieder das Deutliche: Die Menschen sehen, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Das hat auch ein bisschen mit dem Hintergrund zu tun. Man muss sich euch ein wenig vom Hintergrund erzählen.
Nämlich gab es bei den Pharisäern ganz spezielle Regeln darüber, wie es mit den Gefäßen war. Sehr, sehr kompliziert, ich kann euch gar nicht alles darüber erzählen. Generell war es so: Ein irdenes Gefäß – jetzt kommt es darauf an, ob es einen Rand hatte, ob es gewölbt war oder flach, das war noch ganz unterschiedlich.
Jedenfalls nehmen wir mal allgemein ein irdenes Gefäß. Das war verunreinigt, weil zum Beispiel eine Frau es mit ihrer Periode angefasst hatte. Dann gab es noch den Unterschied, ob es von innen oder von außen verunreinigt war. Das klammere ich hier mal aus.
Generell war die Frage: Wie können wir das reinigen? Ihr hättet es schrubben können, solange ihr wollt, aber das ist kultisch verunreinigt. Die einzige Möglichkeit, es zu reinigen, war, es kaputtzumachen. Jetzt fragt ihr euch: Was habe ich dann von einem kaputten Becher? Gar nichts, ich brauche ihn doch zum Trinken.
Pja, das interessiert den Pharisäer nicht. Also die Hauptsache ist, es ist jetzt rein. Es ist kaputtgeschlagen, ihr würdet vielleicht sagen, jetzt ist er kaputt, jetzt ist er unrein, im Dreck liegt er. Sagt der Pharisäer: Das ist rein.
Solche Sachen. Oder ein flacher Teller, eine Kohleschaufel oder ein Bratenrost – das kann von vornherein nicht unrein werden, das ist also immer rein. Ein Teller mit Rand, ein Gewürzkästchen oder eine Schreibmappe können unrein werden und müssen dann nach bestimmten Riten gereinigt werden.
Beispielsweise ein Unterschied: Die Tür, ein Riegel und Schlösser sind generell rein, sie können nicht unrein werden. Holz kann unrein werden, Metall nicht. Das heißt, du hast eine Tür, hast die Klappe, die ist aus Metall, du fasst sie an – jetzt bist du unrein. Das Holz der Tür wird unrein, die Klappe bleibt rein.
Jetzt weiß man natürlich nicht, was für eine Logik dahintersteckt. Und in der Bibel steht das ja auch gar nicht, diese Logik. Aber die haben ganz genau gesagt, wie kannst du etwas reinigen, wie ist etwas unrein.
Da merken wir: Es gibt auch Gemeinden, die entwickeln zusätzliche Gesetze, die nämlich in der Bibel gar nicht drinstehen. Irgendwelche, die nur unserer persönlichen Frömmigkeit entsprechen.
Unsere Gemeinde regelt zum Beispiel, dass nur diejenigen, die kein Fernsehgerät zu Hause haben, richtige Christen sein können. Zusätzliche Regeln gibt es.
Ich könnte euch einen ganzen Vortrag darüber halten, wie gefährlich das Fernsehgerät ist – durchaus. Das ist sehr gefährlich, und viele leiden darunter. Aber es ist nicht prinzipiell Sünde, ein solches Gerät zu besitzen. Das müssen wir unterscheiden.
Oder wir könnten jetzt etwas anderes machen. Eine Frau aus Russland hat mir mal erzählt, dass sie, als sie nach Deutschland gekommen ist, der festen Überzeugung war, jeder, der einen Kühlschrank hat, kann nicht gläubig sein. Warum? Sie hatte einfach beobachtet, dass damals in Russland all diejenigen, die zu ihrer Gemeinde gehörten, eher ärmere Leute waren, die sich keinen Kühlschrank leisten konnten. Aber bei den Ungläubigen, bei den Kommunisten und so, gab es Kühlschränke, die sie zugeteilt bekamen. Also war für sie ganz klar: Jeder, der einen Kühlschrank hat, kann kein Christ sein.
Oder unsere kleine Tochter, die hat das ab und zu mal: Sie sieht jemanden rauchen und sagt dann: „Oh, der ist kein Christ.“ Warum? Weil sie gesehen hat, dass in der Gemeinde kaum geraucht wird. Wir haben ihr auch gesagt, dass Rauchen eigentlich schlecht ist und man es nicht tun sollte. Für sie war das automatisch: Aha, das ist schlecht, also tut ein Christ das nicht.
Dann mussten wir ihr wiederum erklären, dass es durchaus Christen gibt, die rauchen, obwohl es eigentlich nicht gut ist.
So merken wir: Häufig entstehen irgendwelche Traditionen, bei denen du merkst, das soll Maßstab sein für Christsein. Das steht aber in der Bibel gar nicht drin. Und das kann man sich auch selbst machen.
Das haben die hier auch getan mit diesem Becher und den Reinigungssachen.
Na ja, dann der blinde Pharisäer reinigt zuerst das Innere des Bechers, und dann auch das Äußere wird rein, und so weiter.
Dann: Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern, ihr Heuchler, wie ihr die übertünchten Gräber von außen hübsch aussehen lasst, aber innen seid ihr voller Totengebeine und lauter Unrat!
Ein schönes Bild: Damals waren an den Seiten der Straßen häufig die Grabmäler. Wenn ein Jude das berührte, wurde er unrein.
Stellt euch vor, jemand wandert nach Jerusalem, ist ein paar Tage unterwegs, kurz vor Jerusalem schon ganz müde, und dann kommt seine Hand mal an ein Grab. Unrein!
Das heißt, er hat den ganzen Weg gemacht, kann nicht in den Tempel gehen, darf nicht anbeten, darf nicht mehr in den Vorhof der Heiden hineingehen – nichts, weil er unrein ist. Ganzer Weg wieder zurück, oder?
Und da sagt er: Genau so seid ihr! Von außen seht ihr schön aus, getönt, sauber, alles in Ordnung. Aber innerlich – eklig!
Das will er ihnen hier deutlich sagen.
So auch ihr: Von außen scheint ihr den Menschen fromm, aber innen seid ihr voller Heuchelei und Ungerechtigkeit.
Vorwurf der Schuld an den Prophetenmorden und Klage über Jerusalem
Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr baut den Propheten Grabmäler und schmückt die Gräber der Gerechten. Ihr sagt: Wären wir zu Zeiten unserer Väter gelebt, so wären wir nicht mit ihnen schuldig geworden am Blut der Propheten.
Dann sagt Jesus zu ihnen: Ja, ja, ihr sagt, ihr seid die Nachkommen eurer Väter. Diese Väter sind eure Vorfahren. Wenn ihr euch also in einer Linie mit ihnen seht, dann seid ihr auch mit ihnen schuldig geworden. Wenn das eure Väter sind – im Geist und in der Realität – dann seid ihr mit ihnen schuldig geworden.
Darüber hinaus weist er sie darauf hin, dass dies typisch für Israel ist. Wir sehen, dass die Propheten von Abraham bis Zacharias getötet wurden. Eine schwierige Sache ist nun, wer dieser Zacharias ist. Es handelt sich nicht um den Vater von Johannes, dem Täufer, sondern um den Zacharias, der im 2. Chronik 24,20 und folgende erwähnt wird.
Wir müssen wissen, dass das Buch der Chronik in der hebräischen Bibel das letzte Buch war, während die Genesis das erste Buch Moses ist. Deshalb wird gesagt, dass in der Spanne vom Anfang bis zum Ende des Alten Testaments immer wieder Morde an denen erwähnt werden, die Gott gesandt hat – den Propheten, die verfolgt wurden.
Und das ist heute noch genau dasselbe, sagt Jesus zu den Pharisäern, weil er weiß, dass sie innerlich schon danach gieren, ihm das Leben zu nehmen und ihn umzubringen. Das ist also das, was hier dahintersteckt.
Ihr sagt, ihr lebt in der Tradition. Grabmäler wurden damals ebenfalls gebaut. Wir wissen das beispielsweise aus der Apostelgeschichte. In Apostelgeschichte 2,29 wird erwähnt, dass für David ein Grabmal gebaut wurde. Dieses kann man bis heute noch in Jerusalem sehen. Natürlich nicht an der Stelle, wo er wirklich beerdigt war – das wusste man nicht mehr –, sondern in Erinnerung an ihn.
Es ist leicht, jemanden umzubringen und ihm dann ein Denkmal zu setzen, damit er nicht mehr schaden kann. So ähnlich ist das heute zum Teil auch. Man sagt, Dichter und Wissenschaftler werden erst gelobt, wenn sie gestorben sind. Solange sie noch leben, haben sie viele Gegner und Konkurrenten, die versuchen, sie fertigzumachen und ihre Fehler hervorzuheben. Aber wenn sie gestorben sind, kann man sie auf ein Podest heben. Dann fühlt man sich selbst auch ein bisschen besser, weil man diese Leistung anerkennt.
So ähnlich haben die Menschen damals auch gehandelt. Und da sagt Jesus: Ihr seid vollkommen voller Falschheit.
Vorhin wurde gesagt, dass diese Sache auch mit Bonhoeffer zusammenhängt. Tatsächlich sollten wir uns immer daran messen lassen. Wir sollten nicht nur sagen, wie falsch die Christen im Nationalsozialismus waren, weil sie den Mittlern nachgelaufen sind. Vielmehr sollten wir uns fragen: Wie fehlgeleitet sind Christen heute, wenn sie sich vom Zeitgeist treiben lassen und nur dem Materialismus, der Eigensucht und dem Egoismus folgen?
Wie wenig merken Christen heute, wo die Maßstäbe Gottes liegen? Wie ist das beispielsweise in vielen Freikirchen mit der Frage der Ordination von Frauen? In der Bibel steht klar, was dazu gesagt wird. Wie ist das mit der Heirat von Geschiedenen? Wie ist das mit der Frage von homosexuellen Ehen und ähnlichen Themen?
Viele Kirchen weichen auf und sagen: Na ja, so ist das nicht gemeint, so eng ist das nicht, man muss das nicht so sehen und so machen. Ich habe selbst Gemeinden erlebt, die sagen: Wir dürfen ja nicht so ignorant sein und behaupten, dass nur die Menschen gerettet werden, die an Jesus glauben. Andere Religionen? Gott offenbart sich ja auch dort, Gott ist ja gnädig und gibt ihnen bestimmt noch eine Chance.
Da müssen wir uns fragen: Wofür brauchen wir die Bibel überhaupt noch? Hier merken wir, dass Christen auch vom Zeitgeist unserer Gegenwart stark beeinflusst werden – und zwar in einigen Punkten.
Ich müsste euch nur fragen, wie sehr euch noch schockiert, wenn ihr im Fernsehen eine nackte Frau seht. Zu meinem Erschrecken schockiert mich das fast gar nicht mehr, obwohl es uns eigentlich schockieren sollte. Denn nach der Bibel ist das eindeutig Unzucht.
Wenn im Fernsehen Ehebruch gezeigt wird, seid ihr schockiert und stellt sofort den Spielfilm ab? Wahrscheinlich würdet ihr kaum noch Spielfilme anschauen können, weil diese voll davon sind.
Hier merken wir, wie sehr wir vom Zeitgeist beeinflusst werden. Wir finden diese Dinge gar nicht mehr so schlimm, sondern normal. Der Zeitgeist hat uns so sehr geprägt, dass wir denken, das sei normal.
Hier sind wir heute in Versuchung. Wir müssen nicht nur schauen, was die Menschen damals falsch gemacht haben, sondern auch, was wir heute falsch machen. Denn im Nachhinein kann man immer gut kritisieren und sagen: Das habt ihr falsch gemacht, das hättet ihr wissen müssen.
Vielleicht wird eine Generation weiter, wenn Jesus noch nicht wiedergekommen ist, das genauso sagen.
Darum sendet Jesus die Schriftgelehrten aus, und damit sind wir dann eigentlich am Ende. Dort steht nämlich wahrlich: „Ich sage euch, dass all dies über dieses Geschlecht kommen wird.“
Die Klage über Jerusalem und der Ruf zur Umkehr
Die Klage über Jerusalem zeigt, dass Jesus ein inneres Anliegen hat. Er trauert mit Jerusalem und den Menschen, die dort wohnen.
Der Vergleich, in dem Gott mit einer Henne verglichen wird (Vers 37), bringt eine weibliche Assoziation zum Ausdruck. Solche Vergleiche finden sich auch an einigen Stellen im Alten Testament. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gott eine Frau ist, wie manche feministische Theologinnen vielleicht behaupten. Es handelt sich dabei um bildhafte Vergleiche.
Ähnlich könnte man sagen, dass das Himmelreich wie eine Perle ist. Das heißt nicht, dass das Himmelreich tatsächlich wie eine Perle aussieht, sondern es sind alles metaphorische Darstellungen – so auch bei diesem Vergleich mit der Henne.
Dieser Vergleich zeigt deutlich, dass Gott und Jesus Eigenschaften besitzen, die man auch bei einer Henne findet. Solche Eigenschaften werden im Alten Testament ebenfalls auf Gott bezogen.
Was wir aus dem Bild der Henne noch lernen können, ist, dass Gott Geduld hat. Immer wieder ruft er Jerusalem. Die Dringlichkeit ist spürbar: Jesus liebt die Menschen und ermahnt sie deshalb. Allerdings gibt es Menschen, die sich bewusst gegen Gott wenden und sündigen. Nicht alle Menschen sind gut und wollen das Gute.
Wie es hier heißt: „Ich habe euch immer wieder gerufen, ich habe euch gesammelt, und ihr wolltet nicht.“
Zum Schluss sehen wir auch, dass die Konsequenz darin besteht, dass die Menschen Jesus zurückweisen und dadurch für ewig verloren gehen.
Schlussbetrachtung: Die Gefahr der Äußerlichkeit und der Ruf zur Herzensveränderung
Nun sind wir bis ans Ende gekommen, Vers 39. Das Generelle, was wir daraus mitnehmen können, ist sicherlich der Unterschied zwischen außen und innen.
Es geht um die zusätzlichen Gebote der Menschen, um das, was wir zusätzlich aufbauen – Gesetze und Ähnliches –, und um die äußere Frömmigkeit in der Versuchung, in der wir ebenfalls stehen.
Lasst uns zunächst nicht die bösen Pharisäer betrachten, sondern uns fragen, wo wir selbst in Gefahr sind, genauso zu handeln wie sie. Wo handeln wir mit unserer Frömmigkeit und den Gesetzen, die wir anderen auferlegen, ähnlich? Wo nehmen wir eine Sache sehr wichtig, während wir andere Dinge vernachlässigen? Wo lassen wir uns vom Zeitgeist beeinflussen, verurteilen andere und verhalten uns so, wie ich es heute Morgen an verschiedenen Punkten erwähnt habe?
Bei all dem sollten wir darauf achten und vertrauen, nicht frustriert zu sein und zu sagen: „Oh, wie schlimm ist das alles!“ Stattdessen sollten wir sehen, dass Jesus uns verändern will. Er will uns die Kraft geben, und er weiß, dass das befreiender ist, als wenn wir uns ständig an kleinen Gesetzlichkeiten orientieren.
Denn Jesus erhöht den Druck nicht, sondern sagt: „Ja, jetzt seid ihr frei davon! Aber lasst euer Herz verändern.“ Manchmal ist es einfacher, äußerliche Gesetzlichkeiten einzuhalten, als wirklich das Herz Jesus hinzugeben und zu sagen: „Jetzt regiere du dort. Jetzt will ich nach dem leben, was du eigentlich möchtest.“
Dann müssen wir auch nicht bei jedem Detail immer genau nachprüfen und hinterherhängen – bei jedem Eierbecher, den wir in die Hand nehmen, oder bei jedem Ei, das wir essen –, sondern wir können freier leben.
Zum Abschluss möchte ich mit uns beten und dann an Anni übergeben:
Herr Jesus Christus, vielen Dank, dass du uns frei gemacht hast. Du zeigst uns deutlich, dass falsche Selbstgerechtigkeit – wenn wir uns selbst in den Mittelpunkt stellen und eigene Gesetze aufbauen – uns nicht zu dir bringt. Im Gegenteil, sie kann Menschen sogar davon abhalten, zu dir zu kommen.
Herr Jesus, zeige uns, wo wir davon betroffen sind, so wie du es den Pharisäern gezeigt hast. Gib uns die Kraft, davon Nein zu sagen, auf dich zu schauen und ein Leben in Konsequenz mit dir zu führen – nicht in Selbstgerechtigkeit und mit eigenen Gesetzen.
