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Rahel und Jakob

23.02.1999

Erinnerung an eine bewegte Versammlung und historische Herausforderungen

Heute ist das Thema vorgegeben: Vor 62 Jahren fand hier in Bernhausen eine turbulente Versammlung statt. Sie sollten unbedingt die Festschrift lesen, die zum zweihundertjährigen Jubiläum der alpidistischen Gemeinschaft herausgegeben wurde.

Damals wollte das Hitlerregime den Religionsunterricht abschaffen oder zumindest stark verändern. Herr Schulrat Kimmich kam zu einer Elternversammlung, um klarzumachen: „Darüber sind wir doch hinweg, über die Geschichten aus dem Judenbuch des Alten Testaments. Wir germanischen Menschen brauchen diese Viehtriebgeschichten nicht noch einmal erzählt zu bekommen.“

Das haben sich die Bernhäuser nicht gefallen lassen. Ruder Steck rief: „Das Heil kommt von den Juden!“ Christian Arnold sagte: „Für mich ist Jakob, der Erzvater, kein Vorbild, wenn man betrachtet, was er alles in seinem Leben gemacht hat. Aber interessant ist für mich, wie Gott mit diesem Jakob zurechtgekommen ist.“

Kennen Sie die Geschichte überhaupt? Wenn nicht, lesen Sie sie nach in 1. Mose 29-35. Ich würde am liebsten jetzt ein abendfüllendes Programm machen und die ganze Geschichte erzählen.

Die komplexen Beziehungen Jakobs und seine Ankunft in Haran

Das ist nicht alt: Welche Spannung herrschte zwischen Jakob und seinem Schwiegervater? Es gibt sehr strenge Schwiegerväter, und Laban war so einer.

Die Spannung zwischen Lea und Rahel unter einem Dach – zwei Frauen – ist wie ein Vulkanausbruch. Haben Sie das manchmal auch erlebt? Ich frage Sie im Diakonissenhaus, wie es dazu kommt. Ich muss mir alles verkneifen. Eine Geschichte kann man nicht verkneifen, vorweg.

Der flüchtige junge Mann Jakob kommt nach 700 Kilometern Fußmarsch. Sie müssen sich vorstellen, er ist durch den ganzen Vorderen Orient gezogen, schließlich erreicht er sein Ziel in Haran. Schwäbisch gesagt: Er ist völlig erschöpft und ausgetrocknet. Da hinten ist doch ein Brunnen, mindestens ein Wasserloch.

Von allen Seiten strömen die Herden, die Ziegen- und Schafherden heran. Man sieht sie über die Steppe kommen. Jakob denkt sich: Entschuldigung, es ist doch erst Mittag, normalerweise drängt man die Herden doch abends.

Da fragt einer der Hirten: Ja, ja, aber schau mal, über dem Wasserloch liegt ein Stein. Den müssen wir erst wegwälzen, damit keine kranken Tiere hineinfallen, keine Feinde kommen, keine wilden Tiere daraus trinken und kein Gift hineingeschüttet wird. Aber wer wälzt uns den schweren Stein von dem Brunnen weg?

Wer die Bibel kennt, weiß, dass diese Frage schon einmal gestellt wurde – später, als die Frauen am Grab Jesu standen: „Wer wälzt uns den Stein weg?“ Wir brauchen alle unsere Kraft. Wir müssen warten, bis alle Hirten beisammen sind. Dann können wir eventuell den Stein wegwälzen und später wieder darüber wälzen.

Jetzt kann der durstige Jakob noch nicht einmal Wasser trinken. Der Durst treibt ihn an, doch ein bisschen den Stein zur Seite zu schieben, schafft er nicht.

Da kommt als Letzte Rahel, die Tochter Labans. Die Bibel sagt, sie sei schön von Gestalt und von Angesicht. Da packt es Jakob. Er will dieser jungen Frau zeigen, wer er ist.

Er krempelt die Ärmel hoch – falls er welche gehabt hat – und greift den Stein an. Er spannt die Muskeln an. Arnold Schwarzenegger wäre dagegen ein Leichtgewicht. Jakob schiebt aus eigener Kraft den Stein zur Seite.

Die anderen Hirten staunen Bauklötzchen, was da für ein Gigant unter ihnen ist. Schon ist Jakob durch und durch ein Kavalier. Die Letzte wird die Erste sein. Rahel, bitte mit deiner Herde nach vorne.

Ich wundere mich, dass die Filmproduzenten diese Szene noch nicht entdeckt haben. Das ist eine filmreife Szene, das ist Liebe.

Schiller sagt: Das Schönste sucht er auf den Fluren, womit er seine Liebe spickt. Aber hier zeigt Jakob, was für ein Kerl er ist.

Ich muss mir verkneifen, weiter zu erzählen. Nur vier Szenen aus dem reichen Leben Jakobs, den Gott bestimmt hat, Stammvater des Volkes Israel zu sein, den Gott bestimmt hat, Segensträger zu sein.

Jakobs zwiespältige Herkunft und Gottes Berufung

Merkwürdige Wahl: das Muttersöhnchen Jakob, der seinen Bruder übers Ohr gehauen und ausgetrickst hat. Noch schlimmer: Er hat seinen verehrten, geschätzten Vater Isaak betrogen. Er hat ausgenutzt, dass der Greis beinahe erblindet war, und ihm den Erstgeburtssegen abgeluchst, der eigentlich für seinen Bruder Esau bestimmt war. Doch dann nichts wie weg, bevor Esau dazwischenhaut – denn da wächst kein Gras mehr, wenn Esau zuschlägt.

Wohin? Die Mutter sagt: ab nach Haran zu meinen Verwandten. Das sind 700 Kilometer Fußmarsch, ohne die Möglichkeit, per Anhalter zu fahren. Früher sagte man dazu „ohne Hotelgutscheine“. Aber Jakob weiß sich zu helfen; er hat sich immer durchgeschlagen.

Die erste Nacht bricht herein, irgendwo in der Gegend von Luz. Jakob legt sich nicht einfach auf die grüne Heide, sondern sucht sich einen Steinblock. Diesen richtet er auf, damit sein edles Köpfchen geschützt ist. Im Schatten dieses Steines kann er ruhen. Wenn wilde Tiere kommen, dann können vielleicht seine Füße davonlaufen, aber nicht der Kopf – den braucht er ja nur. Und so schläft er ein, als wäre er zu Hause.

Von allen Menschen verlassen, hat Gott ihn nicht vergessen – den, den er zum Segensträger machen wollte. In der Nacht erscheint Gott diesem Jakob im Traum und sagt: „Ich bin der Gott deiner Väter, deines Großvaters und deines Urgroßvaters. Das Land, auf dem du jetzt liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Du sollst gesegnet sein. Ich will mit dir ziehen, wohin du auch gehst, und ich will dich wieder zurückbringen in dieses Land. Ich werde nicht aufhören, bis ich alles getan habe, was ich dir zugesagt habe.“

Jetzt müsste man ja erwarten, dass Jakob aufwacht und sagt: „Was für ein Traum!“ Doch er schläft fröhlich weiter. Am nächsten Morgen sagt er: „Was war das heute Nacht? Das war eine ganz komische Geschichte. Gott hat mit mir geredet. Vielleicht ist das hier ein heiliger Ort, an dem Gott mit mir gesprochen hat.“

Dann schwingt er sich zu einer religiösen Gebärde auf. Neben seiner Feldflasche mit Wasser hat er auch ein kleines Fläschchen mit Öl dabei – halb als Arznei, um bittere Kräuter genießbar zu machen. Jakob gießt das Öl über den Stein und legt ein Gelübde ab: Wenn das heute Nacht kein Traum war, wenn Gott mit mir ist und mich behütet – er betet nicht wirklich, wahrscheinlich hat er das Beten nicht richtig gelernt – wenn Gott mit mir geht und mich behütet auf dem Weg, wenn er mir zu essen und zu trinken gibt, Arbeit, Kleider und Brot, und mich wieder in Frieden heimbringt zu meinem Vater, dann soll der Herr mein Gott sein.

Und dieser Stein, den ich hier provisorisch gesalbt habe, da will ich eine schöne Kirche, ein Gotteshaus, bauen. Die Nazi-Ideologen haben gesagt, das seien Viehtreibergeschichten. Freunde, das ist noch unter dem Niveau eines Viehhändlers. Beim Viehhändler gilt das Wort: Angebot gilt, Vertrag gilt, Vertrauen gegen Vertrauen.

Jakob sagt: „Na ja, wir wissen ja noch nicht mal, ob Gott wirklich mit mir geredet hat.“ Und er hält es wie mit dem Kaiser Franz Beckenbauer: „Schauen wir mal.“ Wenn Gott wirklich mit mir geht, wenn er mir Brot zu essen gibt und Kleider zum Anziehen, dann soll Gott ruhig in die Vorlage treten. Da wollen wir mal sehen.

Aber dann, na ja, ich will ihm auch meine Dankbarkeit zeigen. Und dann wird aus diesem Stein – ich habe ja schließlich ein paar Tropfen Öl gegeben – ein Gotteshaus. Von allem, was ich bekommen habe, will ich Gott den Zehnten geben. Liebe Gott, du kannst ja froh sein, von allem, was du mir gibst. Na ja, mit neun Zehnteln will ich schon zufrieden sein, aber ein Zehntel kriegst du dann auch ab.

So berichtet die Bibel.

Jakobs Lebensweg zwischen Gnade und menschlicher Schwäche

Das war ein von Gott berufener Segensträger. Da stehen wir doch noch ziemlich gut da, oder? Denken wir nicht auch manchmal: Lieber Gott, ich will dir noch ganz anders gehören, wenn du meinen Sohn durchs Examen kommen lässt. Lieber Gott, wie habe ich gebetet vor meiner Führerscheinprüfung! Das war wahrscheinlich die schlimmste Prüfung meines Lebens: Lieber Gott, hilf mir doch. Lieber Gott, wenn Mutter noch einmal aus dem Krankenhaus kommt... Was versprechen wir alles Gott, wenn wir in Not sind! Und wie schnell ist das vergessen, wenn die Not vorbei ist?

Ist das eine alte Geschichte, dass Gott sich das gefallen lässt? Dass Gott nicht kurzerhand sagt: „Wenn du mich so als unsicheren Kantonisten einschätzt, so als nicht vertrauenswürdigen Partner, dann lassen wir es. Ich habe eigentlich vorgehabt, dass du ein Segensträger sein sollst, aber wenn du nicht willst, schade, dann eben nicht.“ Diese Geschichte, die Christian Arnold vor den Nazi-Ideologen verteidigt hat, zeigt etwas von den Urgründen der Gnade Gottes: Dass Gott unsere Beleidigungen einstecken kann.

Wir gehen schnell hoch, wir sind in unserer Ehre sehr viel schneller verletzlich. Gott kann man in seiner Ehre nicht verletzen. Deshalb nimmt er auch Beleidigungen hin, als ob nichts geschehen wäre.

Szene eins: Wenn du, lieber Gott, mir Gnade gibst, wenn du mich bewahrst, wenn du mir Arbeit gibst, Bergung, dann will ich dir gehören.

Szene zwei: Ein paar Jahre später hat Jakob von Gott in Hülle und Fülle bekommen, was er als Paktbeitrag erbeten hat: Arbeit und Auskommen, eine Heimat, Frauen, Kinder, Knechte, Mägde, Ochsen, Esel, Kamele, Schafe, Ziegen. Die Bibel schildert: „Ich bin losgezogen einst mit meiner Ölflasche, mit meiner Feldflasche und hatte nichts, was ich auf dem Leib hatte, als einzige Waffe meinen Stab. Und jetzt bin ich drei Völker geworden, drei Karawanen, mächtiger Beduinenscheich.“ Man muss sich bloß durchzuschlagen wissen, meinte Jakob und dachte gar nicht mehr daran, was dort in Bethel-Luz passiert ist, wo Jakob den neuen Namen Bethel erhalten hat.

Bethel bedeutet: Hier wohnt Gott, Gotteshaus. Wenn du mir Kleidung gibst, wenn du mir Auskommen gibst, wenn du mich bewahrst... Kennen Sie das? Überlegen Sie mal, vielleicht fällt Ihnen noch einiges im Leben ein, wo Sie gesagt haben: Lieber Gott, gib mir das, lieber Gott, gib mir das.

Es gibt die Geschichte von dem Studenten, der nach Hause telefoniert hat zur Mutter und zur Schwester: „Betet für mich, ich falle sicher durchs Examen durch.“ Als er das Examen bestanden hatte, hat er daheim angerufen: „Gebet einstellen, Prüfung bestanden.“ Wissen wir noch, was wir erbeten haben? Und dann sagen wir: „Boah, ihr habt es doch toll geschafft, gute Not sogar.“ Und Gott hört nicht auf zu reden.

Gott hätte viel Anlass in meinem Leben gehabt, muss ich einfach so sagen, zu sagen: „Nein, du, mit dir spreche ich nicht mehr.“ Wie oft sitzt man auch als Pfarrer vor einem Bibelwort und denkt: „Das Wort, das so oft zu mir gesprochen hat, will ich heute nicht mehr hören. Lieber Gott, hast du mich abgeschrieben?“ Gott hätte ja ein Recht gehabt zu sagen: „Gut, wenn du das alles dir selber zuschreibst, dann kann ich schweigen.“ Aber Gott redet noch einmal mit Jakob. Jakob erhält im Traum die Gottesbotschaft:

„Ich bin der Gott, der dir einst in Bethel erschienen ist, wo du den Stein gesalbt hast. Du hast mir doch dort ein Gelübde getan, weißt du noch? Nun mach dich auf und zieh aus diesem Land und kehre zurück in das Land deiner Verwandtschaft.“

Nichts lieber als das! Endlich weg von meinem Schwiegervater Laban, der dauernd an mir herummosert, der mich zweimal betrogen hat. Ich habe mich gefreut, mit der Rachel verheiratet zu sein. Nachher habe ich im Zelt die Lea gehabt. Früher stand in der Bibelübersetzung, ihr Angesicht war „blödem“ – sie hat schlecht gesehen, gell? Sie hat gesagt: „Jakob, wo bist du?“ Daher kommt der Ausdruck, sie hat keine Brille gehabt. Nur der Vater Laban hat gesagt: „Wenn du noch mal sieben Jahre Dienst leistest, dann kriegst du auch die Rachel.“ Und es däuchte Jakob, als wären es nur Tage – so lieb hatte er sie – für die kürzeste Liebesgeschichte der Welt.

Weg von Laban, der mich betrogen hat, und von den Schwägern! Oh, Liebeszeit, der Neid! Guck denen aus jedem Knopfloch! Weg von denen!

Wenn Gott zu mir sagt: „Auf, mach dich wunderbar!“ – lieber Gott! Und dann kommt ein Ton, den wir bei Jakob nicht gewohnt sind:

„Herr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an mir erwiesen hast. Herr, ich bin es nicht wert, was du an mir getan hast.“

Das Erwachen des Gewissens und die Kraft der Versöhnung

Dieses Erwachen gibt es doch auch! Ach, wenn ich darüber nachdenke, mit welcher Gnade und Güte du mich durch so viele wunderbare Wege meines Lebens geführt hast!

Ich durfte es oft als Gemeindepfarrer erleben, dass ganz echte Jubilare bei goldenen Hochzeiten, beim 25. Hochzeitsjubiläum oder bei großen Geburtstagen geweint haben. Sie sagten: Es ist wirklich toll, was Gott gemacht hat, als ich aus dem Krieg zurückgekommen bin. Es gibt Augenblicke, in denen das aufwacht. Dabei bin ich es doch eigentlich gar nicht wert – so aktuell ist diese Geschichte.

Ungeheuer menschlich, gar nicht irgendwie super religiös. Und jetzt geht es weiter. Aber lieber Gott, eins steht noch aus: Wir haben miteinander ausgemacht, dass du mich in Frieden heimbringst. Daheim ist Esau, und er hat seinen Zorn nicht vergessen. Lieber Gott, jetzt hilf mir doch, dass ich mit Esau zurechtkomme.

Es gibt so einen Schweizer Witz – Entschuldigung, dass ich ihn zwischendurch erzähle – über die Erschaffung der Erde. Da hat Gott zum Schweizer gesagt: „Was wünschst du dir?“ Der Schweizer antwortet: „Ich möchte See haben, ich möchte Berge haben.“ Gott hat alles gegeben. „Und ich möchte Kühe haben, die gute Milch geben.“ „Ist die Milch auch gut?“ „Ja, gut.“ „Probier ein Glas Milch, gib es dem Schöpfer.“ „Was willst du sonst noch?“ „Ich will den Bodensee und den Rhein und schöne Dörfer und Städte.“ Er bekommt alles.

Am Schluss sagt der Schöpfer: „Ja, lieber Schweizer, kriegst du sonst noch was?“ Dann sagt der Schweizer: „Ich krieg noch ein Fränkli für die Milch, die ich dir gegeben habe, nicht?“ So sind wir Menschen.

Lieber Gott, du hast mir zwar sehr viel gegeben, ich bin dankbar für all die Barmherzigkeit und Treue, die du mir getan hast, aber eine Sache fehlt ja noch, nicht? Also, bevor ich dir das Kapellchen baue, da in Bethel, da muss ich zuerst mal sehen, ob das klappt mit meinem Bruder.

Auch das hat Gott erfüllt, und damit sind wir bei Szene drei. Gott ließ es klappen: die Versöhnung mit dem hasserfüllten, zutiefst beleidigten Bruder Esau. Das kann Gottes Gnade auch bewirken – dass verfahrene Erbschaftsgeschichten wieder geheilt werden. Es kann nur Gott.

Gibt es das auch bei Ihnen, dass um ein paar Quadratmeter endlose Feindschaft über Generationen herrscht? Gott kann Verfeindungen heilen, und das ist noch ein größeres Wunder, als wenn eine Krebsgeschwulst nicht mehr weiterwächst oder wenn ein Ehepaar, das vergeblich auf ein Kind gewartet hat, schließlich doch noch ein Kind bekommt.

Die tiefste Erkenntnis: Gottes Gnade und unsere Unwürdigkeit

Aber das allergrößte Wunder der Gnade Gottes ist, wenn wir Menschen wirklich begreifen, wie es zwischen Gott und uns aussieht. Gott ist nicht ein Vertragspartner, der sich freut, weil er bei mir noch ein bisschen Kredit hat oder weil ich noch ein wenig für ihn übrig habe.

Der einzige Blick in die Wirklichkeit ist der, den Jesaja und auch Jakob entdeckt haben. Heilig ist Gott, alle Lande sind seiner Ehre voll. Wem ich vergehe, wer bin ich? Wer bin ich, dass ich mit Gott einen Pakt mache? Wer bin ich, dass ich mit Gott handle: „Wenn du das tust, dann werde ich auch noch etwas tun, lieber Gott.“ Nein, wer bin denn ich?

Und da, in der Frühe des Morgens, überfällt ihn Gott wie ein Feind. Gott stellt sich ihm in den Weg. Zuerst meint Jakob, das sei irgendeiner von den Wüstenstämmen hier. Doch er ist herrlich, unerreicht, „meine Muskeln“ zählen nicht mehr. Woher die Geschichte? Schwarzenegger! Jakob, der mit jedem fertig geworden ist, wird mit diesem Gegner nicht fertig. Der sich ihm in den Weg stellt, ist der Mächtige ohnegleichen.

Jakob geht zu Boden, die Hüfte ausgerenkt, voller unglaublichem Schrecken. Denn er weiß: Hier ist der, dessen Name er nicht nennen darf. In der Bibel steht, dass man den Heiligen nicht ungestraft in den Mund nehmen sollte. Wenn ich diesen Gott zum Feind habe, bin ich nicht nur heute Morgen K.O., sondern mein Leben ist aus. Dann kann ich machen, was ich will, wenn ich vor Gott keine Rolle mehr spiele. Wozu lebe ich dann, wenn Gott mich vergisst?

Da klammert sich der geschlagene Jakob an die Gegenwart Gottes, der ihm wie ein Feind begegnet ist, und ruft: „Ich lasse dich nicht, segne mich!“ Im Grunde genommen ist das das gleiche Wort, das Jesus im Gleichnis von Pharisäer und Zöllner gebraucht: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Ich möchte nicht verdammt werden, ich möchte nicht gepackt werden bei meiner Schuld.

Plötzlich war bei Jakob alles klar, was vorher hätte klar sein können: Ich, der ich meinen Bruder betrogen habe – wenn Gott das aufrechnet –, ich, der ich Gott vergessen habe, der ich Gott alle möglichen Versprechungen gemacht habe, mich hat es doch nicht gejuckt. Mir war es doch schnuppe, dass meine Frau Rahel, die Geliebte, Götzendienst trieb, dass sie ihren eigenen Vater angelogen hat. Es hat mich nicht gestört, dass ich die Schwäger betrogen habe, meinen Schwiegervater betrogen habe.

Wenn das Gewissen aufwacht, kann man lange gegen die Gedanken und die Anklagen in uns ankämpfen. Die verteidigenden Stimmen sagen: Es gibt noch andere, die sind schlimmer, und ich habe es ja gut gemeint. Ich beschließe ja auch, von Voreltern her manche Belastung zu tragen. Wenn aber alles Schuld klar wird, dann kann man nur noch sagen: „Wem ich vergehe, lieber Gott, du hast ein Recht, mich fertigzumachen, mich abzuschütteln wie Kot, der nur belastet.“

Aber nein, lieber Gott, ich bitte dich um Segen, sei mir gnädig! Wie ein Ertrinkender hat Jakob es gerufen. Und bei der aufgehenden Morgensonne humpelte er zu seinen Karawanen, geschlagen, hinkend. Doch in ihm war alles voll Staunen: Gott ließ mich am Leben, er will mit mir noch einmal gehen, er hat einen Plan mit mir, dass ich ein Segensträger sein kann.

Es muss nicht immer so sein, dass Gott uns wie ein Feind überfällt. Es muss nicht so sein wie bei Paulus, der vom Pferd gefallen ist vor Damaskus. Es muss nicht immer eine Krankheit sein, die uns offenbart, wie es vor Gott zwischen uns und ihm steht.

Der große Erweckungsprediger Hofacker, ein bedeutender Prediger unseres Landes, hat einmal gesagt: Es raune in ihm, es gibt doch keinen Pfarrer ganz Württembergs, der so ernst meint wie ich. Damals war eine gottlose Zeit. Da hat ihm der Teufel zugeraunt: „Du bist toll! Du hast zwar noch kein Pfarramt, kein Auskommen, bist krank, hast nicht viele Freunde, das Konsistorium ist gegen dich, aber ich nehme es wenigstens ernst.“

Und dann steht er vor dem heiligen Gott und kann nur noch sagen: „Herr, geh nicht mit mir ins Gericht! Das ist doch alles Geschwätz, dass ich es ernst meine.“ Das war Jakobs Umkehr, dass Gott ihn umgedreht hat.

Wichtiger als alles, was Gott geben kann – Kleidung, Brot, Auskommen, Heimat, Herden, ein sinnvolles Leben – ist, dass Gott mich nicht in die Wüste schickt, dass mein Name vor Gott etwas zählt. So wie Jesus gesagt hat: „Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind, dass sie dort bekannt sind.“ Das ist es!

Wir Pietisten haben gerne das Wort von der Bekehrung aufgenommen, dass Gott mich gedreht hat. Das hat Jakob erlebt. Philipp Friedrich Hiller, der vor wenigen Tagen seinen dreihundertsten Geburtstag hätte feiern können, wenn er ihn erlebt hätte, hat ein schönes Lied gedichtet: „Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert bin.“ Das zähle ich zu den Wundern.

Mein stolzes Herz hat es nicht begehrt, die Gnade Gottes habe ich nicht begehrt. Ich habe gedacht, ich schaffe es, ich hatte nichts als Zorn verdient und sollte bei Gott in Gnaden sein.

„Gott, du, der du reich bist an Erbarmen, reiß dein Erbarmen nicht von mir.“ Es ist Gottes Macht, wenn wir plötzlich einen neuen Blick für unser Leben bekommen, für unsere Wirklichkeit. Dass Gott mich doch haben will und ich rufe: „Lieber Gott, segne mich!“

Das ist die Macht der Gnade Gottes. Sie zeigt, wie es zwischen dem heiligen Gott und mir steht. Die Macht der Gnade Gottes bringt mein Verhältnis zu Gott ins Lot. Das kann ich nicht selbst machen.

Jakobs Leben nach der Bekehrung und die Herausforderung der Konsequenz

Szene vier

Eigentlich müssten Sie jetzt sagen: Jetzt ist die Zeit gekommen, und die Jakobsgeschichte ist am Ziel angekommen. Er ist mit Gott im Reinen – Ende gut, alles gut. Ja, er siedelt sich mit seinen großen Karawanen bei Sichem an. Die Ureinwohner des Landes sind freundlich zu ihm. Sie haben Auskommen für die Herden und für sich selbst. Jakob fühlt sich bei Gott in Gnaden.

Na ja, lieber Gott, sonst noch etwas übrig? Ja, dass meine Frau Rahel immer noch den Götzen im Gepäck hat. Na ja, das ist doch eher ein Souvenir von daheim. Und die Ohrringe, die die Frauen und Männer damals trugen – sind das nicht Amulette? Nein, das ist gut gegen Zahnweh und Halsweh. Vielleicht hilft es auch sonst ein bisschen gegen böse Geister.

Jakob, wir hatten doch eigentlich ausgemacht: Wenn ich dich zurückbringe, wolltest du mir – was wolltest du? Ein Gotteshaus bauen in Bethel? Ich habe eigentlich alles erfüllt, was da war. Und du fragst jetzt?

Damals gab es ein großes Blutbad in Sichem. Die Söhne Jakobs waren verstrickt. Du fragst: Wie kommt das, lieber Gott? Du wolltest mich doch in Frieden heimgeleiten. Jakob, da ist noch nicht alles.

Die Bekehrung war bei dir eine Stimmungssache. Du hast dich gefreut, als du bei Gott in Gnaden bist. Aber bitte, jetzt muss er auch auf den Boden der Tatsachen kommen.

Jetzt lese ich Ihnen Jakob 35: Und Gott sprach zu Jakob: „Mach dich auf und zieh nach Bethel und errichte dort einen Altar.“ Gott möchte kein Kapellchen haben. Er möchte nicht, dass das Gelöbnis nur halbherzig erfüllt wird. Bau einen Altar dem Gott, der dir erschien, als du vor deinem Bruder Esau flohst.

Da sprach Jakob zu seinen Leuten, zu allen, die bei ihm waren: „Tut von euch die fremden Götter, die unter euch sind, und reinigt euch. Wechselt eure Kleider! Dann lasst uns aufbrechen und nach Bethel ziehen, um dort einen Altar zu errichten dem Gott, der mich erhört hat, der zur Zeit meiner Trübsale mit mir gewesen ist auf dem Weg, den ich gezogen bin.“

Da gaben sie ihm all die fremden Götter, die in ihren Händen waren, und ihre Ohrringe. Jakob vergrub sie unter der Eiche, die bei Sichem stand. Da sprach Gott zu Jakob: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel.“ Gott streitet für dich, Gott ringt um dich, Gott steht für dich ein. So nannte er ihn Israel.

Es geht gar nicht mehr darum, dass Jakob alles erfüllt, was er gelobt hat. Es geht noch um drei Dinge.

Erstens: Jakob wurde empfindsam dafür, was vor Gott nicht taugt. Es ist später nicht mehr gesagt, dass Rahel sich nicht weiterhin anderen Götzen zuwandte. Wir können in unseren Häusern und Familien auch nicht mit väterlicher Gewalt alles durchsetzen. Man hat es im Pietismus oft versucht, man hat es in der lutherischen Orthodoxie versucht, man hat es im kirchenrechtlichen Kirchenregiment versucht, dass der Herr Pfarrer alle Häuser durchsucht, ob dort Zauberschriften sind oder Unfug betrieben wird. Das kann man nicht machen, aber man kann empfindsam werden.

Jakob ist empfindsam geworden dafür, was geht und was nicht. Gott gibt uns ein feines Gewissen. „Tut von euch die fremden Götter!“

Zweitens: Jakob möchte es vor seinen Leuten klar machen. Das soll nicht auf diese Dämmerungsstunde am Jabok beschränkt bleiben, was zwischen Gott und ihm passiert ist. Er möchte sagen: Ich möchte diesem Gott gehören. Es ist das Glück meines Lebens, dass er mich geführt hat.

Vielleicht hat es so ausgesehen, als hätte ich das Leben bisher gemeistert. Aber ich möchte euch jetzt sagen: Das hat Gott getan. Wer mit Gott etwas erlebt hat, wird gedrängt, das zu bekennen – auch wenn die Leute große Augen machen und sagen: „Ich verstehe überhaupt nicht, was der von Gott erzählt.“ Es muss uns drängen, das klarzumachen.

Wie es in einem glücklichen Verlöbnis so ist – Entschuldigung, wenn ich das so sage – es hat mich jedenfalls gedrängt, in der Stuttgarter Zeitung als Anzeige zu bringen, dass das Mädchen meines Lebens jetzt meine Frau wird. Öffentlich bekannt machen – ist doch eine Zwangsgefangenschaft eine Ehe? So beginnt sie falsch.

So sollen wir auch bekannt machen: Ich möchte zum lebendigen Gott gehören. Und die Leute sagen: „Das ist so fromm, dass es rau und stund geht.“ Ja, sollen sie wissen: Ich möchte im Glauben weiterkommen. Ich möchte mich nicht bloß auf die heilige Ordnung beschränken. Es soll klar werden, auch im Ort, wohin ich gehöre.

Drittens: Es war ja eine Art Bußgottesdienst. „Tut von euch die schmutzigen Kleider ab, zieht neue Kleider an!“ Das war ja bloß symbolisch, um zu zeigen: All unsere Rechtschaffenheit, an die wir bisher glaubten, ist wie ein unflätiges Gewand. Und jetzt, lieber Gott, sei uns gnädig.

Bekenntnis, feines Gewissen, Buße – ich möchte es anders machen.

Jetzt hätte Gott ja sagen können: „Wir sind gleich am Ende.“ Er hätte sagen können: „Gut, Entschuldigung. Gott spricht nicht Englisch, auch nicht Deutsch, seine Sprache. Gut, jetzt sind wir quitt. Du hast deinen Vertrag erfüllt, ich meinen. Okay, die Sache ist klar. Hat niemand mehr etwas einzuklagen? Ich freue mich, schön war es.“

Aber Gott sprach zu Jakob: „Du sollst von jetzt an nicht mehr Jakob heißen, sondern den Gottesnamen tragen, Israel!“

Die Verheißung der Bewahrung und der neue Name Gottes

Liebe Brüder und Schwestern, das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was in den letzten Kapiteln der Bibel steht, in Offenbarung 3.

Das Größte, was Gott über seine schwachen Menschen sagen kann, über kleine Gemeinschaften – selbst wenn sie noch so traditionsreich sind –, über kleine Gemeinden, die noch so gesegnet sind wie Bernhausen, ist: Ich will dich bewahren in der Stunde der Versuchung, die erst noch kommen wird. Ich will dich zum Pfeiler machen im Tempel meines Gottes, und ich will auf dich schreiben den neuen Namen Gottes, den neuen.

Stellen Sie sich vor, das wäre Gnade, wenn eines Tages in der Ewigkeit völlig nebensächlich wäre, wie Rolfs Chefbuch mit all seinen Macken aussieht. Und jetzt setzen Sie Ihren Namen ein. Wir würden aufspritzen, wenn es heißt: Gottes Leute, Christusmenschen, Jesus berufen, es bin ich der neue Name.

Die Bibel sagt: Seht zu, dass ihr Gottes Gnade nicht vergeblich empfangt. Wenn schon Jakob mit all seinen Ecken, Macken und Kanten von Gott nicht losgelassen wurde, bis er ein von Gott reich Gesegneter war – „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ –, was könnte dann in unserem Leben geschehen? Wie könnte Gott an unserem Lebensweg stehen? Wie könnte unser Leben reich und ausstrahlend werden, wenn wir heute Abend im Gebet sagen würden: Herr, gib mir deine Gnade, sei mir Sünder gnädig, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.

Wir wollen jetzt still werden und beten. Herr, du weißt, bei wem jetzt das Gebet ist, die Bitte: Ich lasse dich nicht! So viele Lehrer, Eltern, Patentanten, Kindergärtnerinnen haben versucht, Sinnvolles in unser Leben hineinzubringen. Wir hatten Vorbilder, aber es ist so viel beim Alten geblieben.

Jetzt wirke doch du das, was allein du wirken kannst, in Gotteskraft. Menschen werden von dir begnadet, von dir gesegnet, die von deiner Gnade etwas weitergeben können in unsere arme, gottverlassene Welt hinein. Amen!