Liebe Freunde,
zum hundertsten Geburtstag von Lenin sagte Leonid Brechnew: „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben.“ Damit meinte er, dass die geschichtliche Bewegung, die Lenin geformt hat, weiterhin lebt. Seine Ideen sind wirksam, seine Sache geht weiter, sein Werk lebt.
Nur in diesem Sinne hat der Satz „Lenin lebt“ einen Sinn. Denn ansonsten weiß ja jeder, dass Lenin schon lange tot ist. Kein Mensch meint, dass Lenin in Wirklichkeit lebt. Ganz im Gegenteil: Als größte Sehenswürdigkeit in Moskau kann man auf dem Roten Platz den toten Lenin in seinem Mausoleum besuchen.
Der Satz „Lenin lebt“ ist also nicht wörtlich, sondern symbolisch gemeint. Das ist klar, darüber gibt es gar keine Debatte.
Die lebendige Botschaft von Jesus
Nun laufen heute zum Beispiel hier in dieser Kirche Menschen herum, die haben so ein kleines rotes Abzeichen anstecken, und darauf steht: Jesus lebt.
Das ist nicht symbolisch gemeint, sondern wörtlich. Der Jesus, der vor zweitausend Jahren auf dieser Erde gelebt hat, der im Beisein von Zeugen in aller Öffentlichkeit gekreuzigt wurde, starb und begraben wurde, der ist aus dem Grab herausgekommen. Er ist zu seinen Jüngern gekommen, hat mit ihnen gesprochen, redet heute zu uns, und wir können mit ihm reden.
Das ist der Grund, warum wir überhaupt hier zusammen sind: Wir haben einen lebendigen Herrn. Jesus lebt!
Diese Behauptung halten viele natürlich für den letzten Husten. Und die Ersten, die das vom Tisch wischten, waren die engsten Freunde von Jesus, seine Jünger. Von Hause aus waren das Fischer, die kannten nichts anderes als Fische: Flunder, Makrele, Hering, Hering, Makrele, Flunder.
Dann lernten sie eines Tages Jesus kennen. Er zeigte ihnen eine ganz neue Welt und nahm sie mit auf eine große Reise. Drei Jahre lang ging es durch das ganze Land, kreuz und quer. Am Schluss nach Jerusalem, in die Landeshauptstadt, im Triumphzug hinein. Die Bevölkerung bildete Spalier und rief Hosianna.
Doch nach diesem Höhepunkt ging es mit rasender Geschwindigkeit bergab. Jesus wurde gefangen genommen, gefesselt, gefoltert, verhört, gekreuzigt und begraben.
Ehe die Jünger überhaupt begriffen hatten, was los war, dämmerte es ihnen: Es ist Schluss, aus, alles vorbei. Die Jesusbewegung ist geplatzt, Jesus ist tot.
Zweifel und Verzweiflung der Jünger
Drei Tage lang sind die Jünger wie vor den Kopf geschlagen. Alles scheint verloren, und um das Maß vollzumachen, ist am Ende sogar die Leiche von Jesus verschwunden.
Ein paar Frauen sind zum Grab gegangen, doch das Grab war leer. Die Frauen behaupteten, dort seien zwei Männer gewesen, Engel, die gesagt hätten, Jesus sei nicht mehr tot, sondern auferstanden und lebendig.
Aber, so heißt es im Lukasevangelium, erschienen den Jüngern diese Worte wie Märchen, und sie glaubten ihnen nicht. Mit einem letzten Rest Hoffnung waren sie selbst beim Grab, doch dort war wirklich nichts mehr zu machen. Das Grab war leer, kein Jesus zu sehen, weder tot noch lebendig.
Der Jesus, von dem sie so viel erwartet hatten, war eine Enttäuschung. Die Pleite war komplett. Hinzu kam die Angst, verhaftet zu werden. Nachdem die Anführer umgebracht worden waren, lag es nahe, dass auch die Anhänger liquidiert, inhaftiert oder interniert werden würden – oder, wie man heute sagt, isoliert.
Also: Licht aus, Türen zu, Fenster dicht. Hinter verschlossenen Türen versammeln sich am Abend die Jünger, und sie haben Angst.
Da steht im Johannesevangelium: „Da kam Jesus und trat mitten ein und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch.“ Als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, weil sie den Herrn sahen.
Die besondere Situation des Thomas
Die Jünger waren an diesem Abend nicht alle versammelt. Einer fehlte: Thomas.
Thomas hatte Jesus ganz besonders lieb gehabt. Deshalb traf ihn Jesu Tod umso härter. Er brach völlig zusammen, zog sich zurück und wollte mit niemandem sprechen – nicht einmal mit seinen Freunden. Er war einfach am Ende und darüber hinaus ein Pessimist.
Es gibt Menschen, die sehen alles nur von der negativen Seite. Sie finden überall ein Haar in der Suppe. Manche finden dieses Haar nur, weil sie so lange mit dem Kopf schütteln, bis tatsächlich eins hineinfällt. So jemand war Thomas.
Von ihm ging eine lähmende Wirkung aus – eine Hoffnungslosigkeit, eine tiefe, müde Resignation.
Zum Beispiel wollte Jesus einmal mit seinen Jüngern nach Judäa gehen. Dort hatten die Leute ihn vorher schon einmal steinigen wollen. Die Jünger wollten Jesus zurückhalten und sagten: „Du wirst doch nicht dorthin gehen, wo man dich töten will.“
Thomas aber sagte flügellahm: „Lasst uns mit ihm ziehen, damit wir mit ihm sterben.“
„Kommt, lasst uns sterben“ – das ist vielleicht der traurigste Satz, der im Neuen Testament steht. Und solche Sprüche hatte Thomas drauf.
Die Gefahr der Resignation heute
Das war eben ein Mensch, der von vornherein bei jeder Schwierigkeit resignierte. Solche Menschen gibt es viele, auch unter jungen Leuten. Da gibt es viele, die kommen mir vor wie Mehlsäcke auf Beinen. Sie kämpfen überhaupt nicht mehr und reagieren auf keine Herausforderung. Sie lassen immer gleich die Arme hängen – eben nichts zu machen, sinnlos, Asche.
Ich denke, die Resignation lässt all das einfach an sich ablaufen. Das ist eine der größten Gefahren unserer Zeit, und diese Gefahr wird immer größer. Ich bemerke diese Resignation nicht nur bei anderen Menschen, sondern auch bei mir selbst.
Eine Hoffnung nach der anderen muss ich begraben, zum Beispiel die Hoffnung, reisen zu können, die Welt sehen zu können oder meine Freunde und Verwandten im anderen Teil Deutschlands besuchen zu dürfen. Seit neuestem dürfen mich meine Verwandten nicht einmal hier in dieser Stadt mehr besuchen.
Ich habe meine Zuflucht beim alten Vater Goethe gesucht. Er hat geschrieben: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland eins werde, dass der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Wert habe, dass mein Reisekoffer durch alle deutschen Länder ungeöffnet passieren kann.“ Ja, der Geheimrat hatte eben noch gewisse Illusionen.
Aber er sagt hier: „Mir ist nicht bange, Leute, ich muss euch sagen, mir ist bange, jedenfalls manchmal, dass ich das alles eben nicht mehr erleben werde.“ Es wird vieles schlechter statt besser. Und dann nützt es mir auch nichts, wenn ich in der Zeitung das Gegenteil lese.
Da lese ich zum Beispiel: „Ich weiß ja nicht, was ihr von Zeitungen lest. Also ich lese da, unsere Städte und Dörfer seien schöner als je zuvor.“ Ich habe aber noch nie in meinem Leben so viel Schmutz und Hässlichkeit gesehen wie in unserer Stadt. Das ist ja klar, wenn wochenlang die Asche nicht abgeholt wird und die Leute die Asche einfach auf die Straße kippen.
Dem Beispiel folgen diejenigen, die die Asche durch die Esse pusten und zentnerweise über unsere Häupter ausgießen. Und die rücksichtslose Wurstigkeit, mit der sich die Stadtverwaltung und die Bevölkerung das ansehen, ist eine im wahrsten Sinne des Wortes übelriechende Resignation.
Darüber regt sich schon gar keiner mehr auf, außer wenn sich mal jemand darüber aufregt, wie ich jetzt. Dann regen sich einige darüber auf, aber nicht über die Sache, sondern dass ich mich darüber aufrege. Alle zucken mit den Schultern und sagen: „Keine Leute, keine Mülltonnen, kein Diesel, man muss sich daran gewöhnen.“
Genau das ist die schlimme Resignation, dass wir uns Schritt für Schritt an solche Zustände gewöhnen. Dabei ist das nur ein Problem der Umweltverschmutzung. Viel schlimmer ist es bei den Problemen der Inweltverschmutzung.
Auf den Neujahrskarten, die ich bekommen habe, ist mir mehrmals ein Wort begegnet, das ich bisher noch nie auf einer Neujahrskarte gelesen habe: das Wort Angst. Da wurde zum Beispiel ein neues Jahr ohne Angst gewünscht.
Tief in den Menschen sitzt die Angst, und sie breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür – die Angst vor der Zukunft, vor Krankheit, vor Ungewissheit, vor einem möglichen Krieg. Viele haben heute das Gefühl der Ohnmacht, dass sie gegen die Lawine, die da über uns anrollt, einfach nichts ausrichten können.
Viele haben den Eindruck, sie könnten gegen die Aufrüstung nichts oder nur wenig tun. Und sie resignieren. Am größten ist die Gefahr der Resignation jetzt bei denen, die, weil sie für Frieden und gegen Aufrüstung sind, in Schwierigkeiten geraten.
Ich denke dabei an diejenigen, die den Aufnäher mit der sowjetischen Plastik und dem Bibelwort tragen.
Die kirchliche Stellungnahme zum Friedensengagement
Ich möchte jetzt noch einmal die Kanzelabkündigung unserer Synode verlesen, die bereits in den Gottesdiensten verlesen wurde. Dies geschieht für diejenigen, die nicht in der Kirche gewesen sind.
Unsere Synode hat folgende Kanzelabkündigung beschlossen:
Der Einsatz für den Frieden ist in letzter Zeit immer dringlicher geworden. Viele Christen unseres Landes haben ihre Mitverantwortung für die Erhaltung des Friedens erkannt und diese durch verschiedene Initiativen zum Ausdruck gebracht. Dazu gehört auch, dass junge Christen den Aufnäher der letzten Friedensdekade tragen. Dieser zitiert das Bibelwort aus Micha 4,3: „Schwerter zu Pflugscharen“ und zeigt das von der Sowjetunion der UNO geschenkte Denkmal, das dieses Bibelwort darstellt.
Von staatlicher Seite wurde uns in den letzten Tagen erklärt, dass das Tragen dieser Aufnäher in der Schule und in der Öffentlichkeit nicht länger geduldet werde. Es sei zur Bekundung staatsfeindlicher Gesinnung und zur Beteiligung an einer illegalen politischen Bewegung missbraucht worden. Harte Konsequenzen werden denen angedroht, die nicht bereit sind, den Aufnäher zu entfernen.
Wir nehmen diese Haltung staatlicher Stellen mit tiefer Betroffenheit zur Kenntnis und weisen die darin enthaltenen Unterstellungen entschieden zurück. Zwar gibt es Jugendliche, für die das Tragen dieses Zeichens Ausdruck einer insgesamt kritischen Haltung ist. Das ändert aber nichts daran, dass junge Menschen sich auf diese Weise öffentlich zu ihrer Verantwortung für den Frieden und zu diesen Zeichen der Hoffnung bekennen.
Die Aufnäher zeigen eine deutlich auf Abrüstung zielende Aussage. Das Verbot, den Aufnäher zu tragen, zerstört auf nachhaltige Weise das Vertrauen dieser jungen Menschen. Es erschwert das Gespräch mit ihnen, zumal dieses Nein nicht das erste zu Friedensinitiativen aus ihren Reihen ist.
Es ist nicht unsere Aufgabe als Kirche, den jungen Menschen in dieser Lage eine Anweisung zu geben. Wir müssen jedoch auf die angedrohten Konsequenzen hinweisen und deutlich sagen: Wir haben keine Möglichkeiten mehr, die Träger des Aufnähers davor zu schützen.
Es geht nicht allein um das Tragen der Aufnäher, sondern um die Verantwortung für den Frieden, die sowohl dem Staat als auch jedem Einzelnen von uns aufgetragen ist. Wir halten es für einen schwerwiegenden Fehler, dem dafür wach gewordenen Bewusstsein mit Verboten zu begegnen.
Das Anliegen unserer christlichen Friedensverantwortung wird weitergehen. Dabei muss die prägende Kraft des Evangeliums deutlich bleiben.
Was meinen wir damit? Uns bedrängt die Erkenntnis, die wir mit vielen teilen, dass ein Krieg mit dem Einsatz heutiger Waffensysteme keine Sieger mehr kennt. Auch das Gleichgewicht der Abschreckung wird immer unsicherer. Es muss zur Erhaltung des Friedens der Weg der Abrüstung gewagt werden.
Dabei ist Frieden nach unserer Überzeugung nicht von Versöhnung und Gerechtigkeit zu trennen. Wir vergessen nicht, dass aller Frieden so lange unvollkommen bleibt, wie er nicht den Frieden mit Gott einschließt.
Wir übersehen auch nicht die Verantwortung unseres Staates für den Schutz seiner Bevölkerung. Es sind Schritte notwendig und möglich, durch Verzicht auf eigene Rüstungsmaßnahmen den Frieden sichern zu helfen. Wir begrüßen solche Schritte, auch wenn sie klein sind.
Es sind Schritte notwendig und möglich, durch Vertrauen den Frieden sichern zu helfen. Vertrauen wird vor allem durch Offenheit gewonnen, auch und gerade im Blick auf eigene Schwächen.
Es sind Schritte notwendig und möglich, durch Versöhnung den Frieden sichern zu helfen. Versöhnung wird vor allem durch das Hören aufeinander gewonnen, durch die Bereitschaft zu Verständigung und Ausgleich.
Praktische Wege zum Frieden und zur Hoffnung
Was können wir tun?
Wir lernen von Jesus, dass zeichenhaftes Handeln des Einzelnen wirksam ist, gerade auch dann, wenn dieses Handeln in das Leiden führt. Wir dürfen in jedem Fall mit unserem Herrn rechnen. Er steht zu uns, wenn wir ihm vertrauen.
Wir können für den Frieden beten. Dabei können wir das gemeinsam und regelmäßig tun. Wir suchen das Gespräch und brauchen dafür Veranstaltungen im Rahmen des Friedensauftrags der Kirche.
Wir bringen unsere Überzeugung offen zum Ausdruck, wo sich dazu Gelegenheit bietet. Dabei werden wir nicht selbstsicher oder überheblich auftreten. Wir achten darauf, dass unser eigenes Verhalten durch Offenheit, Sachlichkeit und Versöhnungsbereitschaft ein Friedenszeugnis ist.
Wir werden uns sowohl gegen eine Verkürzung und Zensur der biblischen Botschaft als auch gegen ihre Vermengung mit politischen Zielsetzungen wehren.
Wir werden fürbittend für diejenigen eintreten, die in der Frage des Wehrdienstes Entscheidungen treffen müssen. Dabei wissen wir uns in Übereinstimmung mit der Erklärung der Konferenz der evangelischen Kirchenleitung in der DDR vom 14.03.1982.
Wir erklären wie Sie: Junge Männer in unseren Gemeinden ringen vor Gott um eine Antwort auf die Frage, ob sie ihren Wehrdienst bei den bewaffneten Einheiten der NVA aufnehmen, ob sie sich für den Dienst bei den Baueinheiten entscheiden oder ob sie den Wehrdienst ganz verweigern sollen.
Wir halten daran fest, dass Christen auch in unserer Zeit trotz des erhöhten Risikos den Dienst in der Armee wagen können. Wir betonen, dass die jungen Christen in den Baueinheiten, ja auch die Wehrdienstverweigerer im Gefängnis, ein Zeichen für die Abrüstung und nicht gegen den Staat geben wollen.
Wir stehen zu den jungen Christen, die mit Worten oder Taten anzeigen, dass auch die Friedensbemühungen unseres Staates den christlichen Abrüstungsimpuls nicht erübrigen.
Wir werden nach Möglichkeiten für den Dienst im sozialen Bereich suchen. Die Bitte junger Menschen, solchen Dienst als Wehrersatzdienst ableisten zu können, ist bekanntlich abgelehnt worden. Dienst im sozialen Bereich ist jedoch dringend nötig.
Wir bemühen uns, in Zusammenarbeit mit der Inneren Mission und staatlichen Stellen hierfür konkrete Angebote zu machen. Wir denken an Einsätze in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens, in der Gemeindediakonie oder an die Zuwendung zu einzelnen Behinderten und Gefährdeten.
Das Friedensforum am 13. Februar 1982 in der Dresdner Kreuzkirche hat gezeigt, wie viele Menschen, auch Christen, von der Sorge um den Frieden bewegt sind und wie nötig das Gespräch mit der jungen Generation über die Bewahrung des Friedens ist.
In einem Gebet an diesem Abend hieß es: Christus, lass dich hereinziehen in unsere Angst, in unsere zögernden Schritte. „Du Christus, unser Friede, sei Frieden für uns!“
Soweit diese Kanzelabkündigung.
Kraftquelle im auferstandenen Jesus
Und ich denke, es ist uns allen klar, dass die staatlichen Maßnahmen gegen die Aufnäher Verbitterung und Resignation ausgelöst haben. Ich muss gestehen, dass ich selbst immer wieder alle meine Kräfte zusammennehmen muss, um gegen das Gift der Resignation, das in mir aufsteigt, und gegen die Verbitterung anzukämpfen.
Die Frage ist nur: Wo bekommen wir diese Kräfte eigentlich her? Ich möchte euch sagen, ich beziehe diese Kraft von dem auferstandenen Jesus. Das ist meine Kraftquelle. Und das kann auch deine Kraftquelle sein.
Um das zu erklären, möchte ich jetzt die Geschichte weiter erzählen, die ich angefangen habe – die Geschichte von Thomas. Thomas hatte keine Kraft mehr, er war resigniert. Er war einer von denen, die keine Hoffnung mehr sahen. Er war fertig, bei ihm lief nichts mehr.
Eines Tages kommt er bei seinen Kumpels vorbei. Er kann überhaupt nicht begreifen, warum alle so aus dem Häuschen sind. Sie schnattern alle auf ihn ein und sagen: „Mann, du hast was verpasst. Du kannst deinen Trauerflor abmachen, Jesus lebt! Er ist gar nicht tot, er war hier!“
Solche Augen macht Herr Thomas. „Ja, hier in dem Zimmer, wo du stehst, da hat Jesus gestanden, an der gleichen Stelle. Er hat mit uns geredet, wir haben es gehört, mit unseren eigenen Ohren.“
Thomas kann nur abwinken. Er sagt: „Ihr spinnt ja, ihr seht in eurer Angst schon Gespenster. Ich lasse mich doch von euch nicht auf den Arm nehmen. Ich glaube nur an Tatsachen“, sagt Thomas. „Ich glaube nur das, was ich sehe. Und gesehen habe ich mit meinen Augen, wie Jesus am Kreuz hing und begraben wurde. In sein Grab habe ich auch reingeguckt, mit meinen Augen.“
„Das war leer“, sagt Thomas. „Ich gebe zu, die Leiche war weg, aber was weiß ich, vielleicht hat sie einer geklaut. Das wird sich schon eine Erklärung finden. Aber von euch lasse ich mir doch nicht erzählen, dass Jesus herumläuft und redet. Wenn ich ihn nicht anfassen kann“, sagt Thomas, „wenn ich seine Hand nicht berühren kann und meine Hand nicht in seine Seitenwunde legen kann, wenn ich ihn nicht betasten und testen kann, dann glaube ich es nicht.“
Zweifel als Weg zum Glauben
Thomas möchte gerne glauben, aber er kann nicht, weil er zweifelt. Es gibt ja Menschen, die grundsätzlich alles in Zweifel ziehen – außer ihren eigenen Verstand. So jemand war Thomas jedoch nicht. Er war kein intellektueller Spinner, der grundsätzlich alles anzweifelt. Er wollte einfach Klarheit: Stimmt das nun mit Jesus oder stimmt es nicht? Täuschen die mich oder kann ich es wirklich glauben?
Für Thomas war der Glaube an Jesus nicht wie eine Anstecknadel, die man einfach ansteckt und bei Schwierigkeiten oder spätestens am Tag der Prüfung wieder abnimmt. Für ihn war Jesus Lebensinhalt, das war alles. Deshalb war es ihm wichtig, festzustellen: Entweder ist Jesus wirklich tot – dann ist für ihn alles sinnlos –, oder er ist lebendig. Dann kann er weitermachen, dann hat das Leben wieder einen Sinn.
Aber einfach blind glauben konnte Thomas nicht. Niemand verlangt von dir, dass du blind glaubst, wenn ich hier sage: Jesus lebt. Ich verlange nur, dass du, wenn dich die Sache wirklich ehrlich interessiert, sie testest. Und zwar so, wie jeder Wissenschaftler eine Sache testet, deren Wahrheit er erfahren will.
Zum Beispiel gehört zu einem ehrlichen Test, dass man sich der Sache, die man testen will, nicht entfernt, sondern möglichst nah herangeht. Angenommen, dir sagt jemand, die Buddies spielen in der Stadthalle. Du rennst ja nicht raus in den Zeisigwald. Die Buddies sind zwar ziemlich laut, aber bis dorthin hörst du sie bestimmt nicht. Wenn du sie erleben willst, musst du dorthin gehen, wo sie auftreten – eben in die Stadthalle, das ist klar.
Dir sagt jemand: Jesus lebt. Da hat es auch keinen Zweck, dass du rausrennst in den Zeisigwald, in die Natur, wo die Vögel zwitschern und die Schneeglöckchen ein neues Jahr einläuten. Dort hörst du die Stimme von Jesus nicht. Wenn du Jesus erleben willst, musst du dorthin gehen, wo er ist. Er hat nämlich gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.“
Thomas begreift: Es hat keinen Zweck, sich von den anderen abzusondern. Da wird er Jesus nicht finden. Um das nachzuprüfen, ob das stimmt, muss er mit den anderen leben. Um seinen Jesus-Test zu machen, kehrt er in den Kreis der Jünger zurück.
Es vergeht Tag um Tag, und es passiert überhaupt nichts. Kein Jesus zeigt sich. Allmählich verliert Thomas die Geduld. Er sagt: „Da habt ihr es. Ich habe es ja gleich gesagt. Das habt ihr euch alles nur eingebildet, das sind Illusionen. Jesus ist tot. Gebt es doch endlich zu, er kommt nicht wieder.“
Die persönliche Begegnung mit dem Auferstandenen
Nach acht Tagen kommen die Jünger wieder zusammen, so berichtet das Johannes-Evangelium Kapitel 20, Vers 26: „Und nach acht Tagen waren wieder seine Jünger drin, und Thomas mit ihnen.“ Jesus kommt, obwohl die Türen verschlossen sind. Er tritt in die Mitte und spricht: „Friede sei mit euch.“
Dann wendet er sich an Thomas und sagt: „Reiche deinen Finger her, und sieh meine Hände. Reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite. Sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“
Jesus verurteilt Thomas wegen seines Unglaubens nicht. Er ist kein Parteichef, der ängstlich um seinen Thron bangt und jeden Kritiker an die Wand stellt. Er wird nicht gleich nervös, wenn jemand Zweifel äußert. Jesus beantragt kein Disziplinarverfahren gegen Thomas wegen seines Zweifels an der Führungsspitze. Er schließt ihn nicht wegen mangelnder Linientreue aus.
Stattdessen tritt er ihm nicht mit geballter Faust entgegen, sondern mit ausgebreiteten Armen und sagt: „Friede sei mit euch.“ Wer das sagt, kann hinterher keinen Zweifler oder Abweichler fertig machen. Umgekehrt gilt: Wer Zweifler, Abweichler, Andersdenkende oder Abirrende fertig macht, der meint, wenn er von Frieden redet, etwas anderes als Jesus.
„Friede sei mit euch“, das sagt Jesus zu allen. Dann wendet er sich an den einen, den Zweifler, und richtet seine Aufmerksamkeit ganz persönlich auf ihn. Die anderen, die dabei stehen, spielen plötzlich keine Rolle mehr. Es geht jetzt nur noch um ein Zwiegespräch zwischen Jesus und diesem einen Menschen.
Jesus spricht jetzt nicht mehr zu allen. Die vielen unter euch, die Jesus schon begegnet sind, sind jetzt nicht mehr dran. Ihr gehört zu den Glücklichen, die wissen, dass Jesus lebt. Ihr braucht jetzt nur noch für diejenigen zu beten, die das noch nicht wissen.
Und an diese wendet sich Jesus jetzt. Er wendet sich an die unter euch oder an den einen unter euch, der heute Abend hier sitzt und denkt: „Mensch, erzählt der mir Unsinn, oder ist das wahr? Sind die alle verrückt, spinnen die, oder lebt dieser Jesus wirklich?“
Zweifel als Teil des Glaubensweges
Ich möchte dir zunächst sagen: Du brauchst dich wegen deiner Zweifel nicht zu schämen. Zweifel sind normal. Es ist besser, ehrlich zu zweifeln, als fromm zu heucheln.
Es wurde einmal gesagt, dass man niemals wirklich überzeugt sein kann, wenn man nicht auch mit Vernunft gezweifelt hat. Gerade durch das Zweifeln und das Stellen von Fragen kommst du Jesus näher. Wenn du zweifelst, bist du der Wahrheit ganz nahe.
Hinter dem Zweifel von Thomas steckt ein Glaube. Da ist mehr Glaube dahinter als bei den Lippenbekenntnissen von Menschen, die nur nachplappern, was andere sagen.
Zweitens: Jesus kennt deine Zweifel und hält sie aus. Nur die Lüge fürchtet den Zweifel, weil sie eine Entlarvung befürchten muss. Die Wahrheit hingegen braucht den Zweifel nicht zu fürchten – einfach deshalb, weil sie die Wahrheit ist. Jesus hat von sich selbst gesagt: „Ich bin die Wahrheit.“ Deshalb kann er es sich leisten, Zweifel mit großer Gelassenheit auszuhalten.
Noch bevor Thomas auch nur einen einzigen Ton gesagt hat, sagt Jesus zu ihm: „Thomas, komm näher, komm ruhig an mich heran. Ich lasse dich ganz nah an mich heran. Bitte, fass mich doch an, du kannst es nachprüfen. Du darfst mich erfahren, du darfst mich fühlen.“
Im Johannesevangelium steht nicht, ob Thomas Jesus wirklich angefasst hat. Aber das ist für uns nicht entscheidend. Jedenfalls steht hier, dass als Jesus zu ihm sagte: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig“, Thomas antwortete: „Mein Herr und mein Gott.“
Das Osterbekenntnis und seine Bedeutung
Das ist das eigentliche Osterbekenntnis. Mit diesem Satz ist aus dem ungläubigen Thomas ein Gläubiger geworden.
Glauben bedeutet nicht einfach, für wahr zu halten, dass Jesus lebt – das glauben die Teufel auch. Glauben heißt vielmehr, dass ich Jesus als den Herrn meines Lebens annehme, anerkenne und anbetete als meinen Herrn und meinen Gott. Es bedeutet, dass ich ihm jetzt gehorche, ihm vertraue und mit ihm lebe. Das ist Glauben.
Thomas wollte erst etwas fühlen und dann glauben, aber so funktioniert es nicht. Für dich gilt die umgekehrte Reihenfolge: Erst glauben und dann fühlen.
Wenn du Jesus dein Leben gibst und an ihn glaubst, wirst du mindestens drei Dinge fühlen. Erstens wirst du seinen Frieden spüren. Wir leben in einer äußerst gefährdeten Welt mit viel Unfrieden. Trotzdem ist es möglich, in einer solchen kaputten Welt als Mensch zu leben, der Frieden im Herzen hat. Das, wonach du dich ein Leben lang gesehnt hast – bewusst oder unbewusst –, nämlich Frieden in deinem Leben, das findest du bei Jesus.
Zweitens wirst du seine Freude spüren. Das bedeutet nicht, dass du immer lachend durchs Leben gehst – ganz im Gegenteil. Der Weg mit Jesus ist ein Weg des Leidens. Das wird heute immer mehr Menschen klar. Aber weißt du, wenn ich wissen kann, dass ich ein gutes Gewissen habe und auf der Seite der Wahrheit stehe, dann ist das eine Freude, eine sagenhafte Freude.
Drittens wirst du Kraft spüren. Du wirst die Kraft fühlen, gegen die Resignation anzukämpfen. Du bekommst die Kraft, die Sinnlosigkeit auszuhalten und mit der Angst fertig zu werden. Die Lage in unserer Welt ist beängstigend, und es gibt Menschen, die einem Angst machen. Jesus hat einmal gesagt: „In der Welt habt ihr Angst.“ Das wird uns wohl nie ganz genommen.
Aber verstehst du, wie du mit der Angst fertig wirst? Was machst du denn? Alkohol hilft dir dabei nicht, ebenso wenig wie all die vielen anderen Mittel, die viele Menschen anwenden. Eine Kraft zu bekommen, die dir hilft, mit der Angst fertig zu werden – das wäre etwas. Ich habe diese Kraft in Jesus gefunden.
Du bekommst die Kraft, aufzustehen, dem Unrecht zu widerstehen und für die Wahrheit einzustehen. Überhaupt bekommst du die Kraft, das Leben zu bestehen. Wenn du diese Kraft haben willst, dann nimm Jesus als den Herrn deines Lebens an. Mach es wie Thomas: „Mein Herr und mein Gott.“
Aus diesem lahmen Pessimisten hat Jesus einen äußerst aktiven Menschen gemacht. Bei ihm ist wirklich etwas losgegangen. Er ist losgegangen bis nach Indien und hat dort den Menschen das Evangelium von Jesus gepredigt.
Auch in deinem Leben kann echt etwas losgehen, wenn du Jesus reinlässt und ihm dein Leben gibst. Sag jetzt nicht: „Na ja, Thomas hatte es immerhin besser als ich. Er konnte Jesus sehen, aber ich kann ihn nicht sehen.“ Das stimmt schon, du kannst Jesus nicht sehen. Der Jock hat Jesus auch nicht sehen können und glaubt trotzdem an ihn.
Aber ich möchte dir sagen, was Jesus noch zum Thomas als allerletztes gesagt hat. Er hat dabei von dir gesprochen, an dich gedacht und dich gemeint. Als Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott“, spricht Jesus zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“
