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“Komm in unser stolzes Herz” - können wir auch so beten? - Kurzpredigt zur Christnachtfeier aus der Stiftskirche Stuttgart


Komm in unsre stolze Welt, Herr, mit deiner Liebe Werben.
Überwinde Macht und Geld, lass die Völker nicht verderben.
Wende Hass und Feindessinn / auf dem Weg zum Frieden hin.

Komm in unser reiches Land, Herr, in deiner Armut Blöße,
dass von Geiz und Unverstand / willig unser Herz sich löse.
Schaff aus unsrem Überfluss / Rettung dem, der hungern muss.

Komm in unsre laute Stadt, Herr, mit deines Schweigens Mitte,
dass, wer keinen Mut mehr hat, sich von dir die Kraft erbitte
für den Weg durch Lärm und Streit / hin zu deiner Ewigkeit.

Komm in unser festes Haus, der du nackt und ungeborgen.
Mach ein leichtes Zelt daraus, das uns deckt kaum bis zum Morgen.
Denn wer sicher wohnt, vergisst / bald, dass unterwegs er ist.

Komm in unser dunkles Herz, Herr mit deines Lichtes Fülle,
dass nicht Hochmut, Angst und Schmerz / deine Wahrheit uns verhülle,
die auch noch in tiefer Nacht / Menschenleben herrlich macht.

Hans Graf von Lehndorff konnte in der heiligen Nacht so beten. Dem Verfasser des bekannt gewordenen ostpreußischen Tagesbuches war die Weihnachtsgeschichte transparent für die Christusbotschaft. Diesem Arzt und Schriftsteller konnte Hochmut, Angst und Schmerz die Wahrheit des Christuskindes nicht verhüllen.

Können wir auch so beten? Wird uns die Weihnachtsgeschichte auch so transparent? Sind wir auch so frei zu bitten: “Komm in unser dunkles Herz, Herr mit deines Lichtes Fülle?”

Graf von Lehndorff schaute an diesem Abend nicht auf alle möglichen Dinge, die einem Sinne und Gedanken nehmen können, sondern er schaute auf eine Person, die im Mittelpunkt steht, nämlich Jesus Christus. Weihnachten ist Jesus Christus oder Weihnachten ist nicht. Die Engel weisen unüber­sehbar auf diese Mitte hin. Über dem Hirtenfeld singen sie nur von diesem Namen. Vielstimmig klingt es durch die Nacht: “Euch ist heute der Heiland geboren, der Heiland.”

Weihnachten ist Jesus Christus oder Weihnachten ist nicht.

Nun hätten sich diese Weideburschen fragen können: Brauchen wir den? Obwohl sie ganz sicher keine Tageszeitung abonniert hatten und kein Transistorengerät auf dem Feld hören konnten, wussten sie, dass sie im Friedensreich des römischen Kaisers Augustus lebten. Dieser glänzende Mann wird in der Geschichte als einer der ganz Großen gepriesen. Er unterwarf England, Spanien, Italien, das heutige Westdeutschland, Nordafrika, Palästina bis weit in den Orient hinein. Der Welt von der Themse bis zum Indus schenkte er den Frieden. Ein Gelehrter schrieb: “Das römische Reich und sein Kaiser werden zur ordnenden Macht und Mitte der damaligen Welt.” Poststraßen wurden gebaut. Eine gutgehende Verwaltung wurde aufgebaut. Die Räuberplage wurde beseitigt. Und die Diktatur hat er abgelehnt. Er wollte nur Präsident des römischen Senates sein. Bei einer Hungersnot in Kleinasien zum Beispiel griff er in die kaiserliche Schatulle und bezahlte die Steuern aus eigener Tasche, um so die erste Not zu lindern. Nicht umsonst ist Augustus hoch verehrt und tief geliebt worden.

Brauchen wir einen Heiland, hätten die Hirten fragen können, brauchen wir einen Christus, brauchen wir einen neuen Friedensbringer? Aber so haben die Hirten nicht gefragt. Sie brauchten mehr als dieses Friedensreich, das ihnen nur Menschenrechte 3. Klasse einräumte und ihnen etwa untersagte, überhaupt vor einem ordentlichen Gericht als Zeugen erscheinen zu dürfen. Maria brauchte mehr als dieses Friedensreich, das durch eine merkwürdige Volkszählung Menschen unbehaust machte und ihr etwa eine Geburt im Viehstall zumutete. Josef brauchte mehr als dieses Reich, das den Kindermord von Bethlehem ersann und ihn etwa zum Asylanten in Ägypten stempelte.

So sehen doch unsere Friedensreiche alle aus bis zum heutigen Tag, ob ihre Augustusse im Westen oder im Osten verehrt werden. Die glänzende Medaille hat immer eine pechschwarze Kehrseite. Nur Licht gibt es nicht.

Denken wir einen Augenblick an die Hungernden, die nach einem Ranken Brot gieren und von unserem Überfluss keine Brosame abbekommen. Denken wir einen Augenblick an die Coloureds, an die Farbigen, die in manchen Ländern ohne Pass leben und mit Menschenrechten 4. und 5. Klasse vorliebnehmen müssen. Denken wir einen Augenblick an die Verfolgten um ihres Glaubens willen, die in den Untergrund gegangen sind und dort ihres Glaubens leben. Denken Sie daran und dann frage ich Sie: Brauchen wir mehr als ein Friedensreich unter einem neuen Augustus?

Es ist die größte Illusion zu meinen, die Welt könne unter einem neuen Regime, zu irgend einer neuen Zeit Freude, Friede und Ruhe schenken. Die Bibel sagt, dass beim Sündenfall ein Damm gebrochen ist. Die Flut des Bösen ist hereingekommen. Nun ist die Welt geflutet mit Tod, Tränen und Schuld. Der Psalmist hat nicht übertrieben: “Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker.” Weil diese durch unsere Sünde und Schuld eine verlorene Welt ist und wir darin Verlorene sind, deshalb brauchen wir keinen Augustus, sondern einen Heiland, der die Sturzwelle des Bösen abfangen kann.

Und dieser Heiland ist geboren. Heute werden wir wieder unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht: “Euch ist heute der Heiland geboren.” Verstehen Sie, einer der heilt, wo Wunden bluten; einer, der hell macht, wo Dunkel ist; einer, der abtrocknet, wo Tränen fließen. Inmitten allen Wassern wird eine Insel sichtbar, die uns Schiffbrüchige aufnimmt und Schutz bietet bis zu jenem Tag, an dem sich alle Wasser verlaufen haben und er alles in allem ist. Seit Weihnachten haben wir Grund unter den Füßen und können deshalb trotz beängstigendem Wellenschlag jubelnd mitsingen: “Welt ging verloren, Christ ist geboren, freue dich o Christenheit.”

Weil dem so ist, deshalb lassen sie uns jetzt auch mit Graf von Lehndorff beten:

Komm in unser dunkles Herz, Herr mit deines Lichtes Fülle,
dass nicht Hochmut, Angst und Schmerz deine Wahrheit uns verhülle,
die auch noch in tiefer Nacht Menschenleben herrlich macht.

Amen


[Predigtmanuskript, nicht wortidentisch mit der Aufnahme]