Die Öllampe

Konrad Eißler
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Am Ewigkeitssonntag gilt’s nicht nur der Toten zu gedenken, sondern vor allem die Himmelreichsgeschichte von der Öllampe zu bedenken. Sie möchte, dass wir sagen: “Steck mich an. Entzünde mich. Lass mich dabei sein, wenn das große Gloria gesungen wird und das Fest beginnt.” - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Gehen Sie mit mir auf den Friedhof, liebe Gemeinde. Viele machen sich heute auf. Viele haben heute dieses Ziel. Viele zieht es heute dorthin. Ewigkeitssonntag und Friedhofsbesuch gehören zusammen. Übrigens hieß das früher nicht Friedhof, sondern Gottesacker. Dieser Platz gehörte ihm. Dieses Stückchen Erde zählte zu seinem Grundbesitz. Der Gottesacker war seine Markung. Wer dort hineingebettet wurde, zählte zu seinem Eigentum. Wenn also der Sarg versenkt und Erde darüber geschaufelt war, dann falteten sie die Hände und sagten: “Der Mann, der mir gehörte, der gehört jetzt dir. Die Mutter, die uns gehörte, die gehört jetzt dir. Das Kind, das in unsere Familie gehörte, das gehört jetzt dir.” Auch und gerade für unsere Toten gilt Jesu Besitzanzeige: “Niemand wird sie aus meiner Hand reißen.” Jeder Gottesacker ist Vorplatz des Ewigen, oder so, wie es Fronsard gesagt hat: “Jeder Gottesacker ist Kleiderablage für die Ewigkeit.”

Wenn wir also dort über das Gräberfeld gehen und an dieser oder jener Ruhestätte stehen, dann sehen wir die ganz verschied­enen Ausgestaltungen. Hier ein Brocken Granit, ganz grob behauen, kantig und eckig, nur zwei Jahreszahlen drauf mit einem Bindestrich dazwischen. Dort ein teurer Marmor, geschliffen und poliert, abgerundet und eingefasst, der Name in goldenen Lettern. Drüben ein hölzernes Kreuz, einfach zwei Latten zusammengenagelt, etwas Farbe eingelassen und der Name draufgepinselt. Drunten, ein schlanker Obelisk, gemauert und gefugt, sich nach oben verjüngend, voll geschrieben mit rätselhaften Runen. Und zwisch­endrin, auf einem fast zugewachsenen und wenig gepflegten Grab eine Öllampe, aus Gusseisen natürlich, viel größer als ein Haushaltsgegenstand, etwas modern stilisiert: mit einem Henkel an der einen Seite, mit einem Loch in der Mitte zum Nachfüllen, mit einer Öse auf der andern Seite für den Docht. Schön ist sie, wunderbar gearbeitet, ein teures Stück für den Friedhof, aber was soll sie?

Ist die Öllampe ein Bild für das Leben, das sich verbraucht und dann nicht mehr gebraucht wird? Oder ist die Öllampe ein Bild für das Sterben, das sich langsam vollzieht und dann dem Leben das Licht ausbläst? Oder ist die Öllampe ein Bild für den Tod, der schwer und kalt und dunkel ist?

Ich weiß nicht, was sich der Künstler oder Käufer dabei gedacht hat, für mich aber wird diese Öllampe zum Hinweis, zum überdeutlichen und unübersehbaren Hinweis, jetzt nicht der Toten zu gedenken, sondern jene Geschichte zu bedenken, die der Lebendige selbst erzählt hat, jene Bildgeschichte, jene Gleichnisgeschichte, jene Himmelreichsgeschichte von der Öllampe. Und ich lade Sie dabei zum Mitbedenken ein.

1. Die Öllampe wird angesteckt

Normalerweise wird sie dann angezündet, wenn es dunkel wird. Dann trägt sie der Vater in die Werkstatt und benützt sie als Arbeitslampe. Üblicherweise wird sie dann angezündet, wenn es Nacht wird. Dann stellt sie die Mutter neben den Flickkorb und stopft unter der Tischlampe. Gewöhnlicherweise wird sie dann angezündet, wenn es finster wird. Dann hängt sie der Knecht an die Decke und versorgt die Tiere neben der Stalllampe.

Diesmal aber gibt es einen ganz anderen Anlass. Nicht dunkel, Nacht oder finster ist es im Haus geworden, sondern hell, taghell, sonnenhell. Hochzeit ist nämlich angesagt. Anni, Kati, Marie, Sophie, Vreni und fünf weitere Töchter kennen sich nicht mehr: “Hallo, wir sind zum Fest eingeladen.” Bis die Kleider den richtigen Sitz hatten! Bis die Haare die richtigen Schleifen haben! Bis die Ringe und Ketten farblich dazu stimmen! Endlich ist es so weit. Die festlichen Damen stehen bereit. Der Bräutigam soll laut Hochzeitsprotokoll nach Sonnenuntergang abgeholt werden. Deshalb werden die Öllampen angesteckt. Als Handlampen sollen sie die Schatten vertreiben. Als Weglampen sollen sie die Straße zeigen. Als Festlampen sollen sie die Hochzeit ankündigen. So sind diese Menschen mit dem Öllicht unterwegs, dem kommenden Bräutigam entgegen.

Und so, liebe Freunde, sind die Christen mit ihrem Glaubenslicht unterwegs, dem wiederkommenden Herrn entgegen. Es wird nicht nur deshalb angezündet, weil es in unserem Arbeitsraum dunkel wird und wir ohne Licht nicht mehr arbeiten können. Es wird nicht nur deshalb angezündet, weil es in unserem Wohnraum Nacht wird und wir der Schatten nicht mehr Herr werden. Es wird nicht nur deshalb angezündet, weil es in unserem Lebensraum finster wird und wir mit Todesängsten zu kämpfen haben. In Gottes Welt wird es nicht dunkel oder Nacht oder finster, sondern hell, taghell, sonnenhell. Hochzeit ist angesagt. Mit dem Sterben ist nicht alles gesagt. Hochzeit ist angesagt. Mit dem Tod ist nicht alles gesagt. Hochzeit ist angesagt. Mit der Beerdigung ist nicht alles gesagt. Hochzeit ist angesagt. Christen kennen sich nicht mehr: “Hallo, wir sind zum Fest eingeladen.”

Bis wir die richtigen Kleider haben, braucht es manche Reinigung. Bis wir den richtigen Schmuck haben, braucht es manche Bitte. Bis wir die richtigen Freude haben, braucht es manchen Zuspruch. Aber dann ist es so weit. Christen stehen bereit. Der wiederkommende Herr soll abgeholt werden. Deshalb wird das Glaubenslicht neu angesteckt. Die Vorfreude hat etwas Ansteckendes. Und angesteckter Glaube soll die Schatten vertreiben und die Straße zeigen und die Hochzeit ankündigen. Christen sind unterwegs zum Fest. Das ist die Botschaft zum Ewigkeitssonntag.

Also: Die Öllampe wird angesteckt.

2. Die Öllampe wird weggesteckt

… weil etwas völlig Unerwartetes passiert. Anni, Kati, Marie, Sophie, Vreni und die andern Fünf gehen im Sturmschritt durch die Straßen. “Haben’s die aber pressant!”, sagen sie auf dem Dorfplatz, wo der kleine Festzug vorbeikommt. “Auf, macht mit, schließt euch an!”, rufen die Lichtträger­innen: “Der Bräutigam kommt!” Aber der kommt eben nicht. Der bleibt lange aus. Der lässt sie hocken. Vor der Stadtmauer sitzen sie stundenlang. “Um 9 Uhr wird er da sein!” Aber die Zeit verstreicht. “Um 10 Uhr wird er auftauchen!“ Aber die Zeit vergeht. “Um 11 Uhr geht’s bestimmt los!” Aber die Zeit stimmt nicht. Deshalb werden sie traurig: “Der hat uns versetzt!” Dann werden sie bitter: “Der hat uns zum Besten gehalten.” Dann werden sie todmüde: “Der kommt ja doch nie wieder.”” Öllampen werden weggesteckt und Füße ausgestreckt.

Hochzeitsleute nicken ein, so wie viele Christen eingenickt sind. Damals ging es noch mit Sturm und Drang durch die Straßen, in die Kirche, zu dem Kreis. “Haben’s die aber wichtig!”, sagten die Kameraden in der Schule und die Kollegen im Geschäft. “Auf, macht mit, schließt euch an!”, riefen diese missionarisch engagierten Christen mit brennen­dem Glauben, mit loderndem Eifer, mit heißem Atem: “Der Bräutig­am kommt!” Aber der wiederkommende Herr kam eben nicht. Der ewige Herr blieb ewig aus. Jesus hat sie hocken lassen. Die angekündigten Zeiten verstrichen. Die vorausberechneten Zeiten vergingen. Die lang ersehnten Zeiten stimmten nicht. Deshalb ist so viel Traurigkeit unter uns: “Jesus hat uns versetzt.” Deshalb ist so viel Bitterkeit unter uns: “Jesus hat uns zum Besten gehalten.” Deshalb ist so viel Müdigkeit unter uns: “Jesus kommt nie wieder.” Zu viele strecken sich gemütlich aus und sagen: “Ich lass’s, ich schlaf, ich steck’s!” Die Öllampe wird weggesteckt.

Aber um Mitternacht erhob sich ein lautes Rufen. Aber um Mitternacht zerriss ein Schrei die große Stille. Aber um Mitternacht wurden sie aus dem Schlaf gerissen: “Siehe, er kommt!” Die Länge der Zeit ist keine Widerlegung der Wahrheit. “Siehe, er kommt!” Der Wiederkunftstag ist nicht der Sanktnimmerleinstag. “Siehe, er kommt!” Gottes Uhr hat einen eigenen Pendelschlag. Warten auf sein Kommen ist keine Vertröstung aufs Jen­seits, kein Vorstoß ins Nichts, kein Ausbruch ins Leere, sondern die Chance zum ewigen Leben.

Unsere alten Turmwächter hatten schon recht, wenn sie vom runden Stiftskirchenturm gesungen haben: “Zwölf, das ist das Ziel der Zeit. Mensch, bedenk die Ewigkeit!” Wo diese Hoffnung erstirbt, erlischt unsere Glaubenslampe und wird weggesteckt.

Aber nun, und das ist das Dritte:

3. Die Öllampe wird aufgesteckt

Anni, Kati, Marie, Sophie, Vreni fahren hoch. Im Nu sind ihre Lampen entfacht und an mitgebrachten Stecken festgemacht. Im hellen Licht geht es mit dem Bräutigam zur Hochzeit. Aber fünf bleiben zurück. Sie haben Lampen, aber sie sind leer. Sie haben Lampen, aber die bleiben kalt. Sie haben Lampen, aber die lassen sich nicht mehr anzünden. “Heda”, rufen sie den Davoneilenden nach: “Gebt uns: Borgt uns! Helft uns aus!” Aber sie hören nur: “Nein, das geht nicht.” Und die auf dem Dorfplatz lachen sie aus: “Brautjungfern ohne Flamme, wie Holzfäller ohne Axt, wie Schmied ohne Hammer, wie Schneider ohne Nadel, wie Fischer ohne Netz, Brautjungfer ohne Licht!”

Die Dorfjugend lacht, die Welt lacht über solche, die einen Glauben haben, aber der leer ist, die einen Glauben haben, aber der kalt ist, die einen Glauben haben, aber der sich nicht mehr entzünden lässt. “Heda, Mutter, gib mir von deinem Glauben. Heda, Tochter, borg mir von deinem Glauben. Heda, Freund, hilf mir mit deinem Glauben aus.” Aber das geht nicht. Glaube lässt sich nicht ausborgen. Auch die frömmste Großmutter mit ihrem tiefen und reichen Glauben kann mir nichts abgeben. Ohne eigenes Öl stehe ich draußen vor der Tür: “Ich kenne euch nicht.” Auch wenn wir resümieren: “Wir hatten so viel anderes im Kopf und konnten uns nicht auch noch um das Öl kümmern.” “Ich kenne euch nicht.” Auch wenn wir argumentieren: “Wir waren der festen Überzeugung, dass das, was wir bei der Taufe und Konfirmation mitbekom­men haben, reicht.” “Ich kenne euch nicht.“ Auch wenn wir lamentieren: “Auch du Himmel bist doch eine Republik der Freundlichkeit. Lasst bei uns Fünf fünfe grad sein.” “Ich kenne euch nicht.”

Einmal ist finis. Einmal ist Schluss. Einmal stehen wir draußen vor der Tür, wenn wir kein Öl haben. Wir kriegen es nicht von den Kameraden, von den Schul- und Arbeitskameraden. Wir kriegen es nicht von den Krämern, von den Sinn- und Unsinnverkäufern. Wir kriegen es nicht von den Propheten, von den Heils- und Unheilspropheten. Wir kriegen es allein von dem, der auf den Ölberg ging und dort unter Olivenbäumen, aus denen man das Lampenöl gewann, auf die Knie ging und im Grauen der Nacht betete: “Simon, ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.”

Dort will er auch für Sie knien. Dort will er auch für Sie flehen. Dort will er auch Ihnen ein Licht aufstecken. Nur bitten müssen Sie ihn: “Herr, mein Glaube will aufhören. Meine Lampe flackert nur noch. Mein Docht ist trocken, ausgedochtet bin ich. Steck mich an. Entzünde mich. Lass mich dabei sein, wenn das große Gloria gesungen wird und das Fest beginnt.”

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]