
28: Sollten Christen TRENDS folgen? – mit Hanniel Strebel
Begrüßung und Einführung in die Podcast-Folge
Ja, hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von machbar, dem Podcast für Alltagsmissionare. Ich bin Christian, und mit dabei ist heute Haniel, Haniel Strebel. Hallo Haniel, herzlich willkommen.
Hallo Christian. Schön, dass ihr auch wieder zuhört, denn hier bekommt ihr erneut Tipps, wie ihr euren Nächsten einen Schritt näher zu Jesus führen könnt. Mit dem Podcast wollen wir möglichst vielen Christen in ihrer Alltagsmission helfen. Daher freue ich mich auch über die Podcast-Bewertungen, die hier reinkommen, sowie über eure Rückmeldungen zum Thema Alltagsmission und eure eigenen Erfahrungen. Das ist wirklich toll. Vielen Dank, dass ihr das teilt.
Wir nehmen auch immer wieder Storys mit in den Newsletter auf, damit auch andere etwas davon haben. Denn ihr wisst ja: Als Alltagsmissionare sind wir nicht alleine unterwegs, sondern gemeinsam. Ich freue mich natürlich auch, wenn ihr Fragen habt und diese gerne stellen möchtet.
In unserer heutigen Folge geht es darum, inwiefern wir die Kultur um uns herum wirklich verstehen müssen und welche Herausforderungen das vielleicht mit sich bringt.
Vorstellung des Gastes Haniel Strebel
Bevor wir mit dem Thema starten, möchte ich euch gerne Haniel vorstellen. Haniel, du bist Betriebswirt und Theologe und setzt dich begeistert für Erwachsenenbildung ein. Du machst Coachings, übernimmst Projektleitungen, bist ein sehr engagierter Leser und auch Schreiber.
Ich folge dir ja schon lange mit deinem Blog „Haniel blockt“. Ich glaube, du hast, ich weiß nicht wie viele tausend Blogartikel geschrieben. Weißt du, wie viele es genau sind, John?
Ja, über fünftausend.
Über fünftausend? Krass!
Ja, Aufsätze, E-Books – du schreibst gerne.
Welche Art von Büchern liest du denn persönlich am liebsten? Und wohin ziehst du dich zurück, wenn du in Ruhe lesen möchtest?
Also, ich lese am liebsten breit gefächert. Ich sage immer, meine Grundnahrung ist Gottes Wort, jeden Tag. Mindestens einmal im Jahr gehe ich die Bibel komplett durch. Dann zieht es mich manchmal mehr in den literarischen Bereich. Ich lese sehr gerne Detektivromane, auch Fiktion. Oft lese ich aber auch in Bereichen wie Psychologie, Soziologie und Geschichte.
Und natürlich gehört zu meiner Leidenschaft Theologie und alles, was damit zu tun hat. Das reicht von eher exegetischen Werken – also Fragen der Auslegung und des Hintergrundwissens – bis zu vielen Werken, die eher mit Philosophie zu tun haben. Dabei geht es um die Verbindung zur Systematik und die Frage, wie wir denken können.
Das Ganze möchte ich dann wieder weitergeben. Du hast es ja angesprochen: Pädagogik und Andragogik, also die Frage der Erwachsenenbildung, beschäftigt mich sehr. Wie kann man das Wissen gut vermitteln? In diesen Fächern lese ich sehr breit.
Und wohin ziehe ich mich zurück? Mein Prinzip ist, dass ich den ganzen Tag, wo ich bin, gerne vor Gott mit mir zusammen bin. Wenn ich ein schönes Plätzchen entdecke, nehme ich mir 15, 20 oder 30 Minuten Zeit, um mich an einen Fluss zu setzen, im Wald zu lesen oder manchmal auch mitten unter Menschen Ruhe zu finden – durch das Lesen.
Cool. Hast du dann immer einen Notizblock dabei? Oder kannst du dir alles merken? Wie machst du das?
Circa 2020 hatte ich noch Papier-Notizbücher. Dann haben mich meine Söhne ermutigt, quasi online zu gehen und papierlos zu werden. Das stand im Zusammenhang mit einer geschäftlichen Neuorientierung.
Seitdem nutze ich OneNote, also ein elektronisches Notizbuch. Ich bin dafür bekannt, dass ich auch in jedem Gottesdienst mitschreibe. Das mache ich aus dem einfachen Grund, dass ich sonst schnell abschweife oder gedanklich woanders bin. Das Notizbuch habe ich immer dabei.
Ja, danke dir für die ausführliche Antwort.
Bedeutung des Kulturverständnisses für die Alltagsmission
In unserem Podcast betonen wir immer wieder, wie wichtig es ist, die Umwelt und die Kultur um uns herum zu verstehen. Wir ermutigen unsere Hörer dazu. Wenn wir ihnen im Wort Gottes Begegnungen und Antworten geben wollen – auch auf falsche Vorstellungen und Glaubenssätze –, dann ist das unser Anliegen.
John Stott, ein bekannter Theologe, hat den Begriff des Double Listening eingeführt. Das bedeutet, dass wir einerseits auf Gott hören müssen. Unser Denken soll von den Wahrheiten des historischen biblischen Glaubens geprägt sein. Andererseits müssen wir auch in die Realitäten der gegenwärtigen Welt und der Kultur eintauchen, in der wir leben.
Haniel, was denkst du, wie wichtig ist es tatsächlich, in die Kultur um sich herum einzutauchen?
Manche Christen sagen: „Ja, das Wort Gottes wirkt. Wir müssen nur das Evangelium predigen. Mit der Welt haben wir nichts zu tun.“ Ich glaube, es gilt, zwei Dinge zu bedenken.
Das erste ist: Was verstehen wir überhaupt unter Kultur? Wir brauchen dafür eine Definition. Meine Arbeitsdefinition, etwas zusammengezogen, lautet: Kultur ist die Summe gemeinsam gelebter Gewohnheiten. Das kann eine bestimmte Zeit sein, manchmal auch eine bestimmte Gruppe, sogar eine Familie oder ein Clan.
Aber eigentlich tauchen wir gar nicht in die Kultur ein – wir sind von Anfang an schon Teil der Kultur. Wir sind ständig mittendrin.
Das beste Beispiel dafür ist unser Smartphone. Wir haben es meistens immer dabei, wir Schweizer sagen, im Hosen- oder Hosensack. Wir nehmen es zur Hand und empfangen nicht nur Botschaften in Form von Audio, sondern vor allem bewegte Bilder mit gefühlsmäßigen Botschaften. Das fühlt sich gut an, es tut uns gut, und wir nehmen das ständig in uns auf.
Damit ist die Hintertür weit offen, dass wir stark geprägt werden – vor allem unbewusst – von dieser Summe gemeinsam gelebter Gewohnheiten.
Das Verrückte ist, dass sich viele Menschen, ich auch, einige Lieblingsexperten zulegen, denen sie öfter zuhören. Oder sie bauen sich einen eigenen virtuellen Stamm auf, wo sie sich immer wieder Rat und Trost holen.
Wir sind also auf diese Weise ständig Teil der Kultur – vielleicht sogar viel stärker, als wir uns bewusst sind.
Das zweite ist: Wenn ich höre „nur das Evangelium“, dann denke ich, das ist ein viel zu enges Verständnis des Evangeliums.
Das Evangelium ist nicht nur der erste Tritt auf der Treppe der Wahrheiten. Es ist der Dreh- und Angelpunkt der Wahrheit schlechthin. Es ist nicht nur das ABC des Glaubens, sondern das A bis Z des Glaubens.
So verstanden ist das Evangelium auch nicht nur die minimal nötige Portion Lehre, um ins Reich Gottes zu gelangen. Es ist vielmehr der Weg, um zu wachsen.
Paulus sagt das ganz deutlich in Kolosser 1,6. Das Evangelium ist auch der Schlüssel, um erneuert zu werden. Es ist die Lösung für jedes Problem.
Es ist wie die Quelle, von der wir jeden Tag leben.
Jetzt merken wir, dass wir verschiedene Quellen haben. Wir brauchen die Quelle des Evangeliums, damit wir uns das täglich predigen, uns selbst zusprechen und von anderen Hörern in der Gemeinschaft leben können. So werden wir erneuert, weil wir sowieso Teil der Kultur sind und ständig andere, konkurrierende Botschaften auf uns einstürmen.
Quasi egal, wo ich stehe, wir brauchen das Evangelium bis zu unserem letzten Tag. Es ist ein großes Anliegen von mir, unser ganzes Leben mit diesem Evangelium in Verbindung zu bringen.
Ja, da bin ich absolut bei dir, was das Evangeliumsverständnis betrifft. Aber doch ist es ja irgendwie auch ein Entspannungsfeld. Damit verbunden ist die Frage: Wie weit bin ich denn Teil der Kultur?
Du sagst, natürlich leben wir in einer Kultur und werden in sie hineingeboren. Trotzdem kann ich mich unterschiedlich bemühen, zum Beispiel bei elektronischen Medien, Social Media und so weiter. Ich kann mich entscheiden, da einzutauchen oder mich zurückzuhalten.
Ich bin so ein richtiger News-Junkie. Ich muss immer alles wissen. Ich folge so vielen Leuten und sauge ihr Wissen auf.
Was ist da aber ein gesundes Maß, um diese Welt, in der wir leben, zu verstehen?
Grundsätzlich habe ich verstanden: Ohne Kultur lebst du nicht. Du hast immer eine Kultur und bist Teil von ihr. Sie prägt dich wahrscheinlich mehr, als du denkst.
Aber trotzdem bleibt die Frage: Wie weit öffne ich mich dem auch bewusst? Was sehe ich da? Was höre ich da? Wie prägt mich das auf meinem Denken und so weiter?
Können wir ein bisschen darüber reden? Was denkst du dazu?
Umgang mit Kultur und Medien im Alltag
Ja, sehr gerne. Also grundsätzlich arbeite ich gerne an den Grundlagen. Mein Auftrag ist es, als erneuerter Mensch – von Jesus erneuert – Gott mit ganzem Verstand zu lieben. Deshalb sage ich immer wieder: Harte, ausdauernde Denkarbeit ist Anbetung.
Ein anderes Beispiel ist der erste Korintherbrief. Dort wird deutlich: Der Gegensatz zur weltlichen Weisheit ist nicht Dummheit, sondern Gottes Weisheit.
Mir ist es ein großes Anliegen, gerade wenn du fragst, glaube ich, dass der unbewusste und nicht der bewusste Teil unseres Denkens der viel wichtigere ist. Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutlichen.
Das erste Beispiel ist, dass die meisten von uns unbewusst mit einem zweigeteilten Wahrheitsfeld leben. Was bedeutet das? Auf der einen Seite haben wir tief verinnerlicht, dass es etwas gibt, das öffentlich, sichtbar, messbar, objektiv und faktisch ist. Das ist die Welt des Berufs, der Ausbildung und alles, was man messen kann. Dafür holen wir uns Experten aus dem Internet – ich habe es schon oft gesagt – sogenannte YouTube-Experten, die für uns die Wissenschaft repräsentieren.
Auf der anderen Seite gibt es ein zweites Feld: die private Welt. Diese ist subjektiv, persönlich und gefühlsmäßig. Dort bin ich der Kapitän meines Schicksals. Dieses zweigeteilte Wahrheitsfeld prägt unser Denken und Handeln sehr stark – und zwar auf der unbewussten Ebene.
So können wir sagen: Auf der einen Seite holen wir uns YouTube- oder TikTok-Experten für die Wissenschaft. Das ist auch bei jungen Menschen, die ich frage, immer wieder so. Wenn ich frage, warum sie etwas glauben, antworten sie oft: „Das habe ich irgendwo gesehen.“ Das ist die Standardantwort.
Auf der anderen Seite haben wir für unseren Lifestyle, unsere persönliche und private Seite, ebenfalls Experten: unsere Peer Group und die Gruppe der Gleichaltrigen. Von ihnen übernehmen wir unbewusst viele Wertvorstellungen, die unser Denken beeinflussen.
Nun fragst du nach dem gesunden Maß. Ich glaube, es braucht – und wir werden sicher noch darauf zurückkommen – eine sogenannte Gegenkatechese. Das ist eine ganz einfache Rechnung: Studien aus den USA zeigen, dass ein Heranwachsender ungefähr 35 Stunden in der Schule oder Ausbildung verbringt. Dazu kommen oft noch mehr Stunden im Internet.
Außerdem verbringt er etwa 15 Stunden im Elternhaus und maximal drei bis vier Stunden im Gottesdienst. Wenn man dieses Verhältnis betrachtet, muss man nicht viel sagen, wie viel davon ein gesundes Maß sein kann.
Ich glaube, es braucht dringend eine Gegenkatechese. Das heißt, wir müssen auch die Zeiten, die dem faktischen, öffentlichen Bereich angehören – also die Ausbildung oder die Zeit im Netz – mit einer Art Führerschaft versehen. Diese Führerschaft kommt von Jesus und erneuert unsere Gewohnheiten.
Das ist ein ganz wichtiger bewusster Teil unseres Lebens. Wir müssen beginnen, unsere Tagesgewohnheiten neu zu ordnen und uns bewusst machen, dass eine Gewohnheit – zum Beispiel morgens als Erstes zum Handy zu greifen und zehn Minuten Nachrichten zu lesen – genau den primären Zugang zu dieser Gegenkatechese behindern oder verstopfen kann. Die Gegenkatechese besagt: Jesus gehört mein ganzer Tag, auch während der Arbeit, während der 24 Stunden und sogar während des Schlafes.
Es ist sehr entscheidend, was wir vor und nach dem Schlaf tun, denn nach dem Schlaf ist wieder vor dem Schlaf.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Ich glaube, wir Christen sollten sehr gut darüber nachdenken, was unser Begehren ist. Das ist ein zentrales Thema in der Bibel. „Du sollst nicht begehren“ – ich habe gerade einen Vortrag darüber gehalten. Die ganze Bibel ist voll davon, von A bis Z.
Es gibt richtiges, gutes, erfüllendes, befriedigendes und ewiges Begehren, das von Gott hergegeben ist. Und es gibt falsches, verdrehtes, nichtiges Begehren, das uns in die Irre führt. Unsere ganze innere Programmierung läuft darauf hinaus, zu unterscheiden: Was ist gutes, richtiges, Jesus-zentriertes Begehren? Und was ist billiger Ersatz davon?
Ich glaube, diese beiden Dinge sind entscheidend.
Ja, ich verstehe, was du meinst. Jetzt sind wir sehr bei mir, beim einzelnen Christen. Das umfasst das Thema des Christenlebens, der Heiligung und so weiter.
Kulturverständnis und Alltagsmission in der Gemeinde
Jetzt wenden wir uns ein wenig nach außen. Ich lebe in dieser Welt und habe einen Auftrag. Das Thema Alltagsmission liegt uns sehr am Herzen, besonders im Hinblick auf die Aussage von John Stott.
Was denkst du, brauchen wir noch mehr Kulturverständnis? Müssen wir wirklich, ich sage mal überspitzt, jedem Trend hinterherlaufen, um ihn zu verstehen und um ihn irgendwie umzusetzen – dieses Double Listening? Ich glaube, das ist nicht nötig. Wir müssen nicht jedem Trend hinterherrennen. Genau darin liegt oft das Problem: Wir springen zu sehr den einzelnen Dingen hinterher.
Mir geht es ums Grundsätzliche. Ich denke, wir brauchen viel mehr Grundlagenarbeit. Das betone ich hier auch bewusst. Eine sehr wichtige Überlegung für diese Grundlagenarbeit ist, dass wir uns nicht nur den Einzelnen ansehen, sondern uns im Rahmen einer Gemeinschaft, zum Beispiel einer Kirchgemeinde, betrachten.
Dabei fällt mir auf, dass sich viele nicht bewusst sind, wie sie kirchlich sozialisiert wurden. Ich nehme mein eigenes Beispiel. Jetzt gehen wir langsam nach außen, denn ich bin überzeugt: Ich bin mein wichtigstes Führungsinstrument – zuerst vor Gott, mit mir selbst und dann in einer Gemeinschaft.
Ich bin in einer total gegenkulturellen Kirchgemeinde groß geworden. Dort gab es ein klares Feindbild: innen – außen, Sonntag – Montag, geistlich – weltlich. Dieser Gegensatz war sehr stark geprägt. Daraus entstand ein Weltfluchtverhalten. Man zog sich in eine heimliche Atmosphäre zurück, und das waren oft auch die geistlich kostbarsten Momente.
Mit etwa 19 oder 20 Jahren lernte ich dann eine ganz andere Form der kirchlichen Sozialisierung kennen. Timothy Keller nennt dieses Modell das Relevanzmodell. Dort stand ein anderes Motiv im Vordergrund: möglichst sucherfreundliches Verhalten, auch als „sickersensitiv“ bezeichnet. Die Programme waren entsprechend ausgerichtet – Theater, Filme, im Grunde die Popkultur sollte in die Kirche hineingebracht werden.
Man versuchte, diese Kultur möglichst nachzuahmen. Ich erlebte, wie zwei Generationen von Jugendlichen dem kirchlichen Vokabular entfremdet wurden. Sie verschwanden in der Zeit von der Bildfläche. Sie tauchten in die säkulare Kultur ein oder wurden von ihr übernommen. Sobald sie erwachsen wurden, erfolgte diese Anpassung.
Während meines Zweitstudiums in Theologie lernte ich ein drittes Modell kennen: „Wir Christen verändern die Kultur.“ Das kannte ich bis dahin gar nicht. Dabei merkte ich schnell, wenn ich mit Exponenten sprach und auch in meinem eigenen Leben viel ausprobierte – in Familie und Beruf –, dass das sehr schnell zu einer Überforderung führen kann. Es besteht die Gefahr, die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen, denn Jesus hat viele Verheißungen erst für die Zukunft gegeben, nicht für die Gegenwart.
Das ist eine ganz andere Prägung. Jetzt, mit etwa 50 Jahren, lebe ich in einem, ich würde sagen, vielleicht etwas zu bequemen Zwischenmodell. Timothy Keller spricht von zwei Herrschaftsbereichen: dem kirchlichen, geistlichen und dem staatlichen. Luther nannte das „ein Herr, zwei Regimente“. Dabei entsteht oft ein getrenntes Leben. Beide Bereiche sind wichtig. Man sollte das eine nicht zugunsten des anderen abwerten, aber es gibt kaum noch Berührungspunkte.
Ich glaube, das ist eine wichtige Hilfestellung, wenn man etwas Abstand vom Persönlichen nimmt, um einen breiteren Blick zu bekommen: Wo stehe ich? Wie wurde ich geprägt? Warum wechsle ich vom gegenkulturellen Modell hin zu einem eher relevanzorientierten Modell? Das sind meiner Meinung nach sehr wichtige Ansätze.
Hoffnung und Herausforderungen der Evangelisation heute
Haniel, als Heukebach, als Missionswerk haben wir uns in den letzten Jahren damit beschäftigt, wie Evangelisation im 21. Jahrhundert noch gelingen kann. Wir glauben – das habe ich eben schon mal gesagt – dass das auf jeden Fall noch unser Auftrag ist. Der Herr ist noch nicht wiedergekommen, es gibt also noch viel zu tun. Außerdem sind wir überzeugt, dass das Wort Gottes immer noch Kraft hat und dass das Evangelium die Antwort auf die Nöte, Probleme und Fragen der Menschen in unserer heutigen Zeit ist.
Philipp Bartholomä hat das den „hoffnungsvollen Realismus“ genannt. Ich finde, das ist ein schöner Begriff, weil wir die Hoffnung haben, dass die Welt Christus braucht und die Menschen Christus brauchen. Bei unserer Recherche, die wir gemacht haben – Interviews mit Experten, Gemeindeleitern, Theologen und anderen Evangelisten – ist uns aufgefallen, dass viele Christen, zumindest im deutschsprachigen Raum, eher eine pessimistische Haltung haben. Sie haben wenig Hoffnung, dass wir heute noch Menschen mit dem Evangelium erreichen können. Man merkt immer mehr die Kulturentfremdung, wie du es eben beschrieben hast: Ich bin in meiner Bubble, und da draußen ist die Welt, die sich ständig verändert – und das auch immer schneller. Da komme ich mit meinem Denken einfach nicht mehr mit.
Was denkst du, woran liegt das, dass wir diese Hoffnung fast schon aufgegeben haben? Zumindest fühlt es sich so an. Oder nimmst du das ganz anders wahr? Ist das in der Schweiz anders?
Ich würde dir völlig zustimmen. Ich mache genau dieselben Erfahrungen. Ich kann es jetzt nicht umfassend beantworten, aber ich habe zwei Gedanken dazu. Das erste ist, dass wir viel zu individualistisch denken. Da bin ich fest überzeugt. „Mein Gott, ich hier heute“ – das ist sehr stark in unseren Köpfen drin. Stattdessen sollten wir die Perspektive einnehmen, die die biblische Heilsgeschichte vermittelt: Wir sind auf Gottes großer Bühne.
Ich bin dank Gottes Gnade Teil seiner großen Bühne. Und wer kümmert sich schon darum, in welchem Teil des Stücks ich mich befinde? In meiner Umgebung sind viele von dem christlichen Glauben entfremdet. Aber Gott hat mich auf seine Bühne gestellt. Jetzt bin ich Jesusnachfolger auf dem Marktplatz der Meinungen. Mein Stand auf dem Marktplatz hat oft keine Daseinsberechtigung, aber das ist seine Sache. Er hat mich dorthin gestellt.
Ich denke oft an die Blogartikel, die du angesprochen hast. Ich hätte sie nie mit einer pessimistischen Einstellung geschrieben. Ich bin mir zutiefst bewusst, dass ich vielleicht etwas vorbereite, das in der übernächsten Generation zum Blühen kommt. Oder dass es von jemandem gelesen wird, von dem ich nie gedacht hätte, dass er genau diesen Beitrag liest. Ich bin da total optimistisch, weil ich an Gottes Souveränität glaube. Ich bin dankbar, Teil seiner Geschichte zu sein – das genügt mir.
Natürlich bin ich auch Pessimist, was mich selbst betrifft. Wenn ich in mein Herz schaue, sagt Augustinus schon: Ich war mir gestern noch nicht so bewusst, wie sehr ich heute zu Fürsorge neige. Aber eigentlich sollten wir Christen pessimistische Optimisten sein. Optimisten sind wir im Blick auf das große Ganze, Pessimisten, wenn wir auf uns selbst schauen.
Der zweite Grund ist, dass wir viel zu stark in unserer säkular-westlichen Blase denken. Ja, es stimmt, der Anteil von Gnostikern und Atheisten ist sehr hoch. Ich denke zum Beispiel, dass das in Ostdeutschland noch viel mehr der Fall ist, auch in der Tschechischen Republik oder in Städten wie New York.
Aber wenn wir weltweit schauen – und da hatte ich die Freude, und Gott hat mich auch dorthin geführt, in Regionen, wo die Kirche verfolgt wird – dann sehen wir Länder wie den Iran oder China, in denen die Kirche wächst. Wir sind Teil einer Gemeinschaft von wohl über 600 Millionen erlösten Menschen, und diese Gemeinschaft wächst stark.
Wenn ich das einem Nichtchristen erzähle, sind sie oft erstaunt, weil sie das gar nicht wussten. Dann sage ich: Das wäre vielleicht mal ein guter Fokus, dass du dich damit auseinandersetzt. Ich glaube, es tut uns immer wieder gut, unseren Horizont zu öffnen und zu sagen: Nein, ich denke nicht nur an die Schweiz oder Deutschland, sondern ich sehe, wie Gott im Iran Wunder tut.
Das motiviert mich. Es ist auf jeden Fall sehr ermutigend, diesen Blick zu haben. Danke, dass du uns den so eröffnest.
Alltagsmission im lokalen Umfeld
Andererseits lebe ich hier in Deutschland, arbeite hier, habe Nachbarn in meiner Straße, in meinem kleinen Dorf. Vielleicht bin ich im Fußballverein aktiv oder engagiere mich bei „Unser Dorf soll schöner werden“ oder ähnlichen Aktionen. Ich komme mit Menschen in Begegnung und bin nicht im Iran oder in China unterwegs mit anderen Christen.
Was bedeutet das für mich hier, auch für meine Alltagsmission? Du sagst, wir sind zu sehr Individualisten und schauen viel zu klein. Aber was heißt das konkret für mich in meiner Kultur, den Glauben so zu leben, dass er eine Relevanz für mein Gegenüber hat, der Christus noch nicht kennt?
Diese Gedanken sind mir gar nicht fern. Mir persönlich sind sie vom Iran nicht weit entfernt. Oft denke ich gerade in Gesprächen an Jesus und bin dankbar, dass ich meinen Glauben frei äußern darf. Konkret in meinem Tagesablauf bete ich morgens für Menschen, mit denen ich Kontakt habe. Nicht immer gleich intensiv, aber ich gehe mit diesem Gebet in den Tag hinein.
Ich weiß, am Arbeitsplatz, unterwegs, in der Nachbarschaft oder wo auch immer ich bin – in den Feldern, in die mich Gott gestellt hat – wird er Gelegenheiten schenken. Ich bin eher der Typ, der sagt: Ich warte und freue mich auf diese Gelegenheiten, denn es gibt sie genug.
Dieses Zutrauen und der weltweite Blick sind mir dabei sehr wichtig – auch im ganz Lokalen. Wenn mich zum Beispiel mein Vermieter etwas fragt, mein Nachbar auf der Treppe weint oder eine Kollegin nach der Sitzung noch eine Stunde bleibt, weil sie ein persönliches Problem besprechen möchte, dann weiß ich: Jetzt, danke Jesus, jetzt! Heute bin ich Teil einer großen Gemeinschaft, die schon seit Pfingsten vor über 2000 Jahren besteht. Und du möchtest heute mich gebrauchen.
Diese Einstellung befreit mich sehr und macht mich freudig. Ich habe dabei nicht das Gefühl, dass unbedingt viele Leute zu einer Veranstaltung kommen müssen oder dass endlich in unserem Dorf etwas passieren muss, wenn ich mich dort engagiere. Nein, ich bin ja dort, wo ich bin. Und dort wird mir Gott, der souveräne Gott, heute hier und jetzt Gelegenheiten geben. Und er gibt sie.
Das ist ein anderes Mindset, und das tut uns irgendwie Not. Dieses Mindset durchdringt mich auch. Ich sage nicht, dass ich jeden Tag genau so bin, sondern ich falle oft in eine Lethargie zurück – diese „2 oder 3 Minderheit“ –, und denke: Ach, es ist ja so hart und so steinig.
Aber da bin ich bei Bartholomä, diesem hoffnungsvollen Realismus. Das sollte doch meinen Alltag durchdringen – und der Alltag meint wirklich jeden Tagesablauf.
Ich denke ganz stark daran, auch wenn ich mit Führungskräften arbeite oder mit Kindern und Heranwachsenden. Ich möchte meine Tagesgewohnheiten erneuern. Das ist in erster Linie eine Herzensangelegenheit, ein Mindset von innen nach außen. Ein tägliches Sich-bewusst-Machen und wirklich in der Gegenwart Gottes leben.
Dabei soll es keine abgeschlossene Glocke sein, sondern ich weiß: Ich bin in dieser Welt. Ich gehe gleich in meinen Job, und ich möchte, Herr, dass du mich dort führst.
Gleichzeitig habe ich den Blick – und das finde ich jetzt wirklich, jetzt verstehe ich, was du meinst – ich gehe einen Schritt zurück und darf diesen Blick haben: Du, ich bin hier nicht alleine.
Dieser harte, steinige Boden ist nicht überall. Menschen kommen zum Glauben, und das Evangelium hat vielleicht noch nie so viel Raum bekommen wie jetzt, wenn man sich die Weltbevölkerung und die Orte anschaut, an denen Dinge passieren.
Genau das hat mich auch in meinen Diensten angeregt. Ich habe wegen eines nichtgläubigen Kollegen den Blog begonnen. Er sagte: „Schau, ich bin das ganze Jahr über im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. Aber wenn du schreibst, würde ich das lesen.“
Über mehrere Jahre hat er jeden Beitrag gelesen. Erst nach ungefähr 500 Beiträgen wurde ihm langsam klar, in welcher anderen Welt ich lebe. Das war für mich sehr eindrücklich.
Einmal kam seine Frau zu mir und sagte, sie liest nicht so viel. Sie würde aber, wenn ich Podcasts machen würde, diese mit ihren Freundinnen übers Handy teilen.
Ich sagte: „Gut, dann produziere ich Podcasts.“ Ich habe inzwischen fast tausend Podcasts insgesamt. Alle möglichen Formate habe ich gemacht, einfach aus dem Herzen heraus.
Ich sage: Wenn Jesus durch mein Wirken wirken möchte, ist es so wie eine Fingerzeit – dann mache ich das einfach. Er schafft Gelegenheiten.
Was ich alles erlebt habe: Wer mich im Geschäft oder in der Öffentlichkeit anspricht, wer mich gegoogelt hat – ich sage dann: Offenbar hat Jesus diese Wege, und er kann mich so gebrauchen. Also: Go for it!
Spannungsfeld zwischen konservativem Glauben und kultureller Realität
Wir haben es anfänglich schon gesagt: Es gibt möglicherweise zwei Lager. Die einen sagen, wir müssen an Bord bleiben, konservativ sein und bleiben. Sicher gibt es auch manche, bei denen Traditionen eine Rolle spielen und die vielleicht einen traditionellen Glauben vertreten. Dabei besteht auch eine Gefahr.
Die andere Seite sieht da draußen die Welt – und meint, damit habe man nichts zu tun, obwohl man natürlich auch in dieser Welt lebt und von dieser Kultur geprägt wird. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es so zwei Welten sind. Wie der Herr auch sagt, glaube ich, in Johannes 17, wo er im hohenpriesterlichen Gebet betet: Wir sind in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Dort werden beide Positionen sichtbar.
Was bedeutet das für uns im praktischen Leben, auch als Gemeinde? Wie können wir – oder wie kannst du persönlich damit umgehen? Ich glaube, du bist oder warst auch Pastor in einer Gemeinde. Warst du nie einfach nur normales Gemeindemitglied?
„Nein, ich bin immer normales Gemeindemitglied geblieben.“
Okay, aber du hast Einfluss, mit deinen Blogs, mit denen du predigst, sicherlich auch durch deinen Lehrdienst und so weiter.
Wie ermutigst du gerade auch die jüngere Generation, die mit dem expressiven Selbst ihres Umfelds konfrontiert ist? Wie heißt der Autor noch mal von „Der Siegeszug des modernen Selbst“? Karl Truman, der das so ausdrückt in seinen Büchern. Er sagt, wenn junge Leute damit konfrontiert sind – wie ermutigst du sie? Wie ermutigst du Geschwister in der Gemeinde, andere Christen, nicht davor zurückzuschrecken, sondern sich mit dieser Denkweise auseinanderzusetzen?
Ich kann mich gut erinnern: Ich hatte einen Vortrag vor einem gefüllten Saal, einer sogenannten theologisch konservativen Gruppe. Nach der Diskussion war ich eigentlich erschüttert. Ich habe danach einen Beitrag geschrieben, den ich jetzt wieder hervorgeholt habe. Damals würde ich es heute noch genau gleich formulieren, wenn ich sage: Wir müssen aufpassen. Das würde ich auch jungen Menschen sagen, vor allem, wenn sie wirklich konservativ und treu sein möchten. Sie dürfen sich nicht über zweit- und drittrangige Fragen zerstreiten. Das ist eine enorme Problematik, gerade im Zeitalter von YouTube, wo jeder sich seine „Pockets“ oder seine Festplatte mit diesem „Groove“ füllen kann.
Sir Louis sagt es so treffend: Wer zweit- oder drittrangige Dinge an die erste Stelle setzt, verdrängt das Erstrangige. Das ist mal das Erste.
Das Zweite ist: Aufpassen mit dem Baden in negativen Gefühlen und dem Klagen. Die klagende Haltung vieler theologisch Konservativer ist auch eine Prägung, ein Reflex: „Ich nicht.“ Dabei müssen wir uns eingestehen: Gerade wenn ich klage, bin ich kein Deut besser. In dem Moment investiere ich meine ganze Energie ins Klagen, und das ist schade.
Das Dritte, was ich sagen würde, ist: Seien wir auch ehrlich zueinander. Das klingt vielleicht moralistisch, aber damit meine ich, dass wir manchmal diese christliche Frömmigkeit mit Freundlichkeit verwechseln und dadurch nicht mehr ehrlich sind. Wir beginnen, Dinge hinter dem Rücken zu sagen oder so um die Ecke herum, hinter vorgehaltener Hand. Das ist sehr schade.
Daher würde ich die expressiven, heranwachsenden Mutigen ermutigen, ehrlich ihre Fragen zu stellen und auch bei uns Eltern nachzufragen. Damit verbunden ist auch ein gewisses Harmoniegefühl. Ich weiß, manche Jüngere stören sich am Harmoniegefühl. Aber Achtung: Auch in ihrer Gruppe entsteht ein genau gleiches Harmoniegefühl, wenn es zwei Gruppen, Subgruppen oder Bubbles gibt, in denen sich jeder sehr harmonisch fühlt – nur in seiner eigenen Bubble. Das kann auch den Jüngeren passieren.
Ich würde sagen: Geh mal immer wieder in eine andere Bubble und fühle dich dort richtig unwohl und unharmonisch. Denn Gott möchte dir gerade dadurch etwas sagen.
Dann habe ich noch etwas, das ich für die neue Generation und auch für mich selbst als prägend empfinde: In unserer Zeit sind viele Beziehungen sehr belastet und zum Teil auch zerstört, gerade in meinem Umfeld in Europa, durch den Individualismus.
Was bedeutet es jetzt, diese Schönheit von Beziehungen zu leben? Es bedeutet eben genau nicht, immer darauf zu achten, dass ich nicht gestört werde oder dass ich mir das aussuchen kann, was mir gerade passt. Gerade durch diese Unwägbarkeiten, auch die gefühlsmäßigen, kann ich echt dazulernen, reifen und wachsen.
Genau das wird mir oft gesagt: „Ich erlebe Jesus nicht.“ Ich sage: Gerade wenn du herausgehst aus deiner Bubble – ob es dein eigener Online-Stamm ist oder deine Gruppe von Gleichaltrigen, in der du dich gerne aufhältst – gerade wenn du da herausgehst, gibt es eine große Chance, verändert und geheiligt zu werden. Und zwar geheiligt meine ich nicht nur im Denken, sondern gerade auch in unseren Gefühlen.
Es ist ganz wichtig zu sagen: Wir müssen in unseren Gefühlen geheiligt werden, weil das ja das dominante Kriterium dieser Generation ist, wie Entscheidungen getroffen werden. „Kockabock“, es passt mir gerade nicht – genau dort liegt die ganze Sache begraben.
Ich glaube, wir sind in herausfordernden Zeiten, auch unter theologisch Konservativen. Kevin DeYoung sagt zum Beispiel, es gibt vier Gruppen. Das fand ich sehr interessant. Es gibt die Typen, die zerknirschen und sagen: „Oh, wir haben uns schuldig gemacht, ja, wir müssen jetzt schon Kompromisse schließen.“ Das ist manchmal nicht bekannt, aber gefühlsmäßig in der Situation so.
Dann gibt es die Mitfühlenden, die sagen: „Schau mal, wie viele Menschen auf dieser Erde leiden und trauern. Jetzt ist es an der Zeit, zuzuhören und zu lernen.“ Vielleicht hören sie so viel zu, dass sie gar nicht mehr selbst Stellung nehmen.
Dann gibt es die Vorsichtigen, die sagen: „Achten wir auf unsere Sprache, wir müssen uns viel sauberer ausdrücken.“
Und schließlich gibt es die Mutigen, die sagen: „Ja genau, jetzt erst recht!“ und so richtig grüblerisch auftreten.
Was mich im Moment wirklich Sorge bereitet – seit Corona, seit dem Krieg in der Ukraine, seit Russland und solchen Dingen –, ist, dass wir uns endlos zerstreiten können, auch unter theologisch Konservativen. Wir stecken extrem viel Energie in Streitigkeiten, die in etwas viel Besseres investiert werden könnten.
Ich fürchte, dass wir beginnen, genau zwischen diesen unterschiedlichen Sichtweisen – also ich sage jetzt: zerknirscht, mitfühlend, vorsichtig, mutig, rüpelhaft – uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
Davor habe ich Angst. Und ich würde den Jugendlichen sagen: Macht das nicht! Geht raus aus eurer Bubble!
Erziehung und Leitlinien für Kinder in der heutigen Kultur
Jetzt gehe ich noch einen Schritt konkreter. Wir haben jetzt über Jugendliche und Gemeinde gesprochen. Ich bin Vater, du bist Vater. Ich habe vier Kinder, ich weiß nicht, wie viele du hast, aber fünf. Ja, das ist eine große Herausforderung, Kinder auch in dieser Zeit großzuziehen und sie in der Furcht und Ermahnung des Herrn zu erziehen. Das ist die große Aufgabe, die wir als Eltern, als Väter vor allem haben.
Was denkst du mit Blick auf diese Welt und die Kultur, in der wir leben? Welche Leitlinien sollen wir unseren Kindern mitgeben? Ganz konkret: Wie hast du das gemacht?
Ich bin gerade in der Phase, in der meine Kinder erwachsen werden. Das ist eine ganz schwierige Phase, weil sie eben einen radikalen, krassen Papi hatten oder haben. Aus dieser Sicht würde ich heute meinen Söhnen, die erwachsen werden, diese fünf Dinge sagen. Ich habe mir fünf Punkte überlegt.
Das Erste ist: Bewahre dir – oder ich sage es mir selbst – einen kritischen, kritisch heißt unterscheidend, vom Griechischen her, einen kritischen Blick auf die eigene Person. Auch auf Schwächen, auch auf Sünden. Ich würde noch weiter sagen: auf generationsübergreifende Sünden. Bewahre dir diesen Blick und lass es auch zu, wenn es dir die nächste Generation spiegelt. Das ist einmal das Eine, denn das hilft ihnen auch, nicht einfach alles über den sprichwörtlichen „Kind mit dem Bad auszuschütten“.
Das Zweite ist: Auch ein Überlegenheitsgebaren zu vermeiden. Das war für mich eine sehr, sehr schmerzliche Zeit, in der wir merkten, dass wir uns in unserer Familie immer sehr bemüht hatten, nicht schlecht über andere zu reden. Das haben wir sehr hochgehalten. Trotzdem haben wir gespiegelt bekommen, dass wir durch unsere Haltung und unseren Lebensstil ein gewisses Überlegenheitsgebaren an den Tag gelegt haben. Als Vater beschäftigt mich das andauernd. Ich merke, das ist wirklich Gift. Giftig, das ist einfach giftig. Es gibt einen giftigen Beigeschmack.
Auf der anderen Seite ist es unbedingt wichtig, wenn es um Kultur geht, im Sinne von: Was wird um uns herum geprägt? Ich habe immer gesagt, ich möchte alle möglichen Menschen an unseren Familientisch holen – wer es auch immer ist, jeden Alters, jeder Nationalität. Dann stellen wir Fragen, wir erzählen aus unserer Lebensgeschichte, sie erzählen mit der Zeit aus ihrer Lebensgeschichte. Das ist, finde ich, die beste Möglichkeit, um auch in der Familie mit anderen Überzeugungen, Sichtweisen, Perspektiven, Erfahrungen und Biografien vertraut zu werden. Das weitet den Horizont ungemein.
Das Vierte, was ich gesagt habe: Wir müssen uns vor allem in zwei Themen fit machen. Das eine ist die Medienethik. Das habe ich schon gesagt, weil das die größte soziologische Veränderung des 21. Jahrhunderts ist. Gerade am Sonntag habe ich einige Jugendliche, die bei uns am Tisch waren, gefragt: „Was denkt ihr in zehn Jahren?“ Sie sagen: „Auch in zehn Jahren werden wir immer am Handy hängen. Das wird vorläufig so bleiben.“ Das heißt, wir müssen uns dort Gedanken machen. Was heißt ein evangeliumszentrierter Lebensstil? Was bedeuten unsere Gewohnheiten? Was heißt Jüngerschaft im Zeitalter der sozialen Medien? Das wird wichtig bleiben.
Das andere ist sexuelle Ethik. Das heißt die ganze Frage von Mann und Frau, von Ehe, von Beziehung, von Kinderhaben und so weiter. Es gibt noch ganz viele Fragen. „Warum heiraten?“ – ich habe einen Vortrag gehalten zu solchen Themen. Das wird sehr, sehr relevant bleiben. Da bin ich gefordert, mich immer wieder abzudaten, ganz ehrlich. Ich habe manche Bewegungen jetzt gar nicht mehr so mitbekommen mit 50, und meine Kids sind völlig drin und damit konfrontiert.
Das Letzte noch: Ich glaube, dass ich auch als Vater gefordert bin, wenn ich zwischenzeitlich an Orientierungskraft verliere – und das ist im Moment bei mir sehr stark sogar der Fall –, dass in der Gemeinschaft, in der Kirchgemeinde, andere Männer diese Funktion übernehmen oder bei Frauen andere Frauen, ältere Frauen. Ich bringe meine Kinder in Kontakt mit Männern und Frauen, die Jesus lieben und ihm nachfolgen und die ihnen näher sind. Ich glaube, das hilft sehr. Und das hilft auch mir wieder, weil ich dann sehe: Ah, die machen ganz andere Überlegungen oder gehen ganz anders damit um. Das hilft mir auch, mich wieder etwas anders auszurichten. Sonst werde ich sehr eingefahren auf meinem Kurs.
Ja, sehr wertvoll. Vielen Dank für die fünf Tipps, sehr hilfreich.
Herausforderungen und Hoffnung in einer schnelllebigen Zeit
Wir haben festgestellt, dass wir in einer sich schnell verändernden Zeit leben. Was heute in ist, kann morgen schon wieder out sein. Besonders krass finde ich das Thema künstliche Intelligenz. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt und nutze sie auch für meine Arbeit.
In den letzten Tagen haben wir erlebt, wie die Börsen eingebrochen sind und eine große Unsicherheit herrscht. Viele fragen sich, wie sich alles entwickeln wird. Diese Unsicherheit spürt man auch im Gespräch mit Menschen. Was bleibt? Was hat Bestand? Gibt es eine hoffnungsvolle Perspektive, die wir haben dürfen? Natürlich als Christen. Aber was würdest du unseren Zuhörern dazu noch mitgeben?
Da gibt es eine ganze Menge, ich könnte kaum aufhören. Es beginnt bei uns im dreieinigen Gott. Er ist unwandelbar. Wir können uns auf seine Verheißungen verlassen, auch wenn die Welt um uns herum zusammenzubrechen scheint. Er selbst aber bricht nicht ein.
Das habe ich persönlich erlebt. 2018 hatte ich einen Herzinfarkt, und Gott hat mir ein drittes Leben geschenkt. Auch in anderen schwierigen Situationen wurde ich gestärkt. Ich bin auf der Intensivstation aufgewacht und habe mir von der Intensivschwester ein Handy geben lassen. Sie hat sogar noch das Ladekabel aus der Garage geholt und angesteckt. So konnte ich Psalm 121 Schritt für Schritt, Vers für Vers betend lesen. Das hat mir unglaublich geholfen. Ich musste meinen Blick nicht auf die Schläuche um mich herum richten, sondern auf den Gott, der sagt: „Ich wache über dir, jeden Moment.“
Das zweite ist sein Wort. Auch das ist unwandelbar. Wir haben es in menschlich verständlichen Worten. Es ist nicht so, dass Gott morgen sagen würde: „Familie ist jetzt out.“ Ich nenne das nur als Beispiel. Nein, ich glaube, weil die Familie eine göttliche Institution ist, wird sie überleben.
Es gibt auch soziologische Langzeitstudien, zum Beispiel bei den israelischen Sabras. Dort haben Mütter, die ihre Kinder von Geburt an weggegeben hatten, diese schrittweise zurückgeholt. Sie merkten, dass sie ihre Kinder brauchen und die Kinder sie. Diese Schöpfungsinstitution wird bleiben, weil Gott sie selbst geschaffen hat.
Das ist sehr wichtig. Auch die Form unseres Planeten ist bedeutsam. Manchmal lese ich gerne Fiktion, solche Vorstellungen. Doch ich atme heute Luft ein, bei der ich nicht sofort sterbe. Leider gibt es Menschen, die heute wegen der Luft sterben.
Ich kann sauberes Trinkwasser trinken, essen und habe ein Dach über dem Kopf. Ich weiß, dass das nicht für alle auf dieser Welt so ist. Aber in unseren Breitengraden ist das der Fall, und dafür können wir dankbar sein. Diese Selbstverständlichkeiten sind gar nicht selbstverständlich. Der Gott, der alles erhält, sorgt auch dafür, dass ich Luft, Wasser, Essen und Obdach habe.
Die Gemeinschaft, die Kirche, ist eine Weggemeinschaft. Sie streichelt mich nicht immer nur mit Gefühlen. Meist bin ich mit Menschen zusammen, mit denen ich sonst nie zusammengekommen wäre. Aber genau das tut mir gut. Die Kirche bleibt bestehen, sie wird auch bleiben. Sie ist ebenfalls eine Institution Gottes.
Und dann ist da noch die Sünde. Warum sage ich das? Chris Watkins schreibt in seinem ausgezeichneten Buch, dass die Sünde das wichtigste, aber meist vernachlässigte Diagnoseinstrument der säkularen Menschen ist. Wir können vieles wieder verständlich machen und Beziehungen herstellen.
In der Managementberatung muss ich das oft übersetzen, um im Kontext eines Unternehmens die Sünde wieder beim Namen zu nennen. Das hilft den Menschen und gibt Orientierung. Es ist eine Vorstufe, um dann auch zu sagen: Wir brauchen Hilfe von außen. Das ist das Evangelium.
Also haben wir eine ganze Menge. Herr, schön, vielen Dank für das Gespräch, Daniel.
Persönliche Herausforderungen und Buchempfehlungen
Ich habe zum Abschluss noch drei Fragen, die eher deine persönliche Meinung betreffen.
Was ist deine größte Herausforderung bei der ganzen Thematik, über die wir jetzt gesprochen haben? Das ändert sich immer wieder. Ich merke das auch lebensphasenbedingt. Ich habe über einen Niederländer, Herman Barwing, promoviert. Er hat es so gut gesagt, das ist mir von der ganzen Dissertation am meisten im Gedächtnis geblieben: Er sagt, du wirst immer wieder ins Ungleichgewicht fallen, je nach Lebensphase und Lebensalter.
Im Moment merke ich gerade, dass das Ungleichgewicht bei mir im geschäftlichen Bereich liegt. Ich bin beruflich unglaublich stark eingebunden. Leute von außen würden sagen, ich sei sehr erfolgreich, aber das hat seine Tücken. Man befindet sich unmerklich schnell an einem Ort, wie in einem reißenden Fluss, an dem man sagt: „Jetzt bin ich schon einen Kilometer weit, und ich habe es gar nicht bemerkt, weil der letzte Monat so schnell vergangen ist.“ Das ist die größte Herausforderung.
Das andere habe ich bereits erwähnt: Nicht so zu leben, als hätte man zwei Bereiche – ein geistliches und ein öffentliches Leben. Nicht, dass das Geistliche wegfiele, denn das ist wichtig, aber es sollte nicht nur nebenher laufen. Nein, ich möchte gern eines haben. Ich möchte einheitlich sein, egal wo ich bin, 24 Stunden am Tag.
Haniel, hast du eine Buchempfehlung für unsere Hörer, die sich mit dem Thema Kulturverständnis auseinandersetzen wollen? Ein Werk, das du unbedingt gelesen haben solltest?
Ich habe drei Empfehlungen, auf die ich mich beschränkt habe. Das erste ist von Timothy Keller: „Glauben, wozu?“ Es ist nicht sehr bekannt. Man kennt eher „Warum Gott?“. Timothy Keller hat sehr schnell erkannt, warum Gott für Christen wichtig ist. Aber „Glauben, wozu?“ ist eigentlich das Buch, das am Anfang stehen sollte. Dieses Buch macht etwas ganz Interessantes. Ich habe es gerade in einer Buchgruppe in unserer Gemeinde mit einigen Leuten gelesen.
Timothy Keller baut darin nicht die Brücke vom christlichen Glauben zur säkularen Kultur, sondern von der säkularen Kultur zurück zum christlichen Glauben. Das ist genau die Denkbewegung, die wir brauchen. Das ist ganz wichtig für die Alltagsevangelisation: die Brücke vom anderen her zurückbauen.
Das zweite Buch ist von Rebecca McLaughlin: „Zehn Fragen über Gott, die sich jeder junge Mensch stellen sollte“. Ich würde das „junge“ streichen. Jeder Mensch sollte sich diese Fragen stellen – auch Großeltern, auch wenn ich Tante bin oder Nachbarin eines Kindes. Wenn ich fit werden möchte für die Generation meiner Enkel, dann empfehle ich dieses Buch.
Das dritte Buch ist etwas ausführlicher und stammt von Nancy Pearcey. Es ist vor wenigen Jahren in deutscher Sprache erschienen und heißt „Die ganze Wahrheit“. Es beschäftigt sich sehr mit der Zweiteilung zwischen geistlichem und öffentlichem Leben. Man kann gut die ersten vier Kapitel lesen, das sind etwa hundert Seiten und die wichtigsten. Wenn man etwas Englisch kann, empfehle ich von derselben Autorin noch „Finding Truth“. Das ist kein Fünfschritte-Programm, sondern fünf Perspektiven, wie man in der heutigen pluralistischen Zeit, in der viele Ideen konkurrieren, auf die Spur der Wahrheit kommen kann.
Praktische Tipps für Alltagsmissionare
Alltagsmissionare, die Sie sofort umsetzen können – und zwar noch diese Woche. Zwei Dinge: beten und einladen.
Beten meine ich ganz konkret, ausdauernd und verbindlich für Menschen, mit denen wir zu tun haben. Ich erlebe immer wieder, dass Gott mir dadurch neue Menschen schenkt oder auch ein vertieftes Anliegen gibt. Denn das Anliegen muss wachsen. Vielfach haben wir sonst das Gefühl, wir müssten jemanden sympathisch finden, um für ihn zu beten. Aber das ist nicht nötig. Ich kann auch für Menschen beten, die mir gerade unsympathisch sind.
Ich erinnere mich gut an einen Vorgesetzten, mit dem ich in Glaubensfragen völlig unterschiedlicher Meinung war. Zum Abschluss schenkte ich ihm eine Bibel. Jahre später traf ich ihn auf einer Konferenz wieder – und Gott hatte ihn bekehrt. Er hatte sich Jesus zugewandt. Das vergesse ich nie.
Als Erstes können wir also beten. Das Zweite ist einladen. Was meine ich damit? Genau das, was ich schon gesagt habe: Gastfreundschaft ist der Schlüssel zum Herzen der Menschen in Westeuropa. Ladet Menschen jeden Alters zu euch nach Hause ein. Ihr könnt euch auch eine Liste machen – auch von Menschen, die ihr euch eigentlich nie trauen würdet einzuladen. Ich bin oft hartnäckig geblieben, habe sie mehrfach eingeladen, und manchmal führte allein die Einladung zu neuen Gesprächen.
Sehr schön, sehr praktisch. Vielen herzlichen Dank, es war mir eine Freude, dich als Gast dabei zu haben. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns noch einmal. Wir machen jetzt eine zweite Staffel im Herbst. Vielleicht haben wir dann wieder ein Thema, über das wir miteinander reden können.
Ich hoffe, ihr fandet die Folge genauso spannend wie ich. Zum Abschluss möchte ich euch noch einmal ermutigen: Teilt eure Erfahrungen als Alltagsmissionare gerne mit uns. Schreibt uns eure Fragen und Ideen, auch mit Blick auf die nächste Staffel. Den Machbar-Podcast erreicht ihr per E-Mail an machbar@heuckelbach.org. Auf jede Einsendung gibt es ein schönes Gebetstagebuch, das euch in der Alltagsmission eine Hilfe sein kann.
Wenn ihr uns auf YouTube schaut, klickt am besten auf die Glocke, damit ihr keine neue Folge verpasst. Ich sage Tschüss, bis zum nächsten Mal, und vielen Dank. Haniel, auch dir noch einmal liebe Grüße in die Schweiz, in die Schwyz. Danke auch an dich. Es regt mich an, in meinem Alltag die Mission wieder zu teilen.