Was steht uns bevor? Was kommt auf uns zu? Was bringt die Zukunft?
Auf diese bange Frage, liebe Gemeinde, gibt der zeitgenössische und zeitkritische Dramatiker Friedrich Dürrenmatt eine bedrängende Antwort. In einer weit bekannt gewordenen Kurzgeschichte mit dem Titel "Der Tunnel" erzählt er von jenem vierundzwanzigjährigen Studenten, der am Sonntagabend den überfüllten Zug besteigt, um in zweistündiger Fahrt wieder an seine Universität zurückzufahren. Er kämpft sich durch das Wirrwarr von Familien, Rekruten, Studenten und Liebespaaren und findet im hintersten Wagen noch einen Fensterplatz. Während er sich genüsslich eine Brasil ansteckt und den Rauch in die Luft bläst, huschen draußen freundliche Städtchen, schmucke Dörfer und gepflegte Wiesen vorüber. Die Sonne lacht von einem wolkenlosen Himmel herunter mitten ins Abteil. Aber dann geschieht das Unheimliche. Kurz nach Burgdorf fährt der Zug in einen Tunnel, den er normalerweise in wenigen Augenblicken passiert. Nur diesmal rast die Eisenbahn mit steigender Geschwindigkeit in eine sich nicht mehr aufhellende Nacht hinein. Einige bemerken es gar nicht und blicken schlaftrunken in ihre Lektüre. Andere sitzen im Speisewagen und prosten sich fröhlich zu. Und die Dritten starren erschrocken in das Dunkel und verdrängen ein lähmendes Entsetzen. Den Vierundzwanzigjährigen hält es nicht mehr auf seinem Platz. Im Gepäckraum trifft er auf den Zugführer, der lapidar feststellt: "Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muß irgendwo hinführen." Gemeinsam erreichen sie die Zugmaschine. Der Führerstand ist leer. Die Geschwindigkeit nimmt zu. Der Zug rast in den Abgrund, "Was sollen wir tun?" schreit der Zugführer in den Höllenlärm. Nichts! antwortet der andere unbarmherzig, nichts! Das Unheil bricht herein.
Dürrenmatt meint, in diesem Zug sitzen wir alle. Keiner ist auf dem Bahnsteig zurückgeblieben und winkt gemächlich den abfahrenden Waggons nach. Jeder hat sein Plätzchen im Zug der Zeit gefunden. Tage, Wochen, Jahre huschen an uns vorüber. Die Sonne lacht über einem Geschlecht, das nach Goethe vom Dunklen ins Helle strebt. Aber dann geschieht das Unheimliche: Das Licht verschwindet. Es wird dunkel wie in einem Tunnel. Der Zug rast mit zunehmender Geschwindigkeit in die Nacht des Krieges, des Hungers, der Unterdrückung, der Quälerei, der Leiden hinein. Einige bekommen gar nichts mit und vertiefen sich in ihr Geschäft. Andere schenken die Gläser randvoll und spülen die Angst mit Alkohol hinunter. Und die Dritten starren ins Ungewisse und verdrängen jedes Entsetzen. Nur wenige reißt es vom Stuhl. Sie ahnen die Gefahr. Sie zeigen Initiative. Sie wollen den Zug stoppen. Aber der Führerstand ist leer. Das Tempo ist nicht zu drosseln. Der Zug rast in das Verderben. Nichts ist mehr zu tun. Die Katastrophe ist unvermeidlich. Dürrenmatt sagt es mit vielen Politologen, Ökologen und Soziologen: Das Unheil bricht herein.
Nur Jesaja sagt es anders. Er ist kein Politologe, auch wenn er die Gewaltpolitik eines Sanherib wohl einzuschätzen weiß. Er ist kein Ökologe, auch wenn er die judäischen Umweltprobleme von Kindesbeinen an kennt. Er ist erst recht kein Soziologe, auch wenn er die Gesellschaftsschichten seines Volkes genau beurteilen kann. Jesaja ist Theologe, der im Auftrag Gottes einem verunsicherten, verängstigten und verzweifelten Volk diese Botschaft der Hoffnung ausrichtet: Nicht das Unheil bricht herein, sondern das Heil steht bevor. Er sagt es denen, die im Dunkel sitzen: Es wird nicht Nacht, sondern Tag. Er sagt es denen, die vor Angst zittern: Es geht nicht aus, sondern es geht an. Er sagt es denen, die am Unheil leiden - und das ist das Erste-:
Jesaja sagt es konkreter, weil Gottes Heil nie abstrakt ist. Wir müssen zum Beispiel an Elternhäuser denken. Väter und Mütter gaben sich die größte Mühe, um ihre Kinder recht und christlich zu erziehen. Sie investierten in diese Aufgabe ihre ganze Liebe und Fürsorge. Aus den Jungen sollten etwas Rechtes werden. Aber schon mit 14 gab es die ersten Verstehensschwierigkeiten. Zwei Jahre später redete man nur noch aneinander vorbei. Kaum 18 tauchte der Sohn in der Drogenszene unter und die Tochter zog zu ihrem Freund. "Sie hören und glauben nichts mehr" klagt die Mutter, und Jesaja sagt es in alle Elternhäuser hinein: "An jenem Tag werden die Tauben die Worte der Bibel hören." Nicht ewig werden sie ihre Ohren verstopfen können. Einmal werden alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.
Wir müssen an Hochhäuser denken. Irgendwo im 10. Stock lebt sie allein. Zuerst fiel der Mann in Russland, dann starb der einzige Sohn und jetzt wurde sie auch noch arbeitsunfähig geschrieben. Durchs Fenster sieht sie im Park, wie sich junge und alte Leute gesund ihres Lebens freuen. Einen Gott der Liebe kann sie schon lange nicht mehr ausmachen. "Mich mag niemand" bekennt sie, und Jesaja sagt es in alle Hoch- und Mietshäuser hinein: "An jenem Tag werden die Augen der Blinden aus Dunkel und Finsternis sehen!" Keiner ist unheilbar blind für die Liebe Gottes. Einmal werden alle zur Erkenntnis der Liebe kommen.
Wir müssen an Krankenhäuser denken. Der Arzt diagnostizierte ein schweres Leiden und ordnet die Überführung ins Hospital an. Eine Untersuchung jagt die andere. Die Fachleute scheinen im Dunkeln zu tappen. Keiner findet den Herd. Der Kranke wird immer elender und zuhause wartet die Familie, die Arbeit, die Aufgaben. Ob es überhaupt noch eine Genesung gibt? Leid und Schmerzen sind ständige Begleiter. "Ich kann nicht mehr" seufzt der Kranke und Jesaja sagt es in alle Krankenhäuser hinein: "An jenem Tag werden die Elenden wieder Freude haben." Auch als Todkranke haben wir die Gesundung vor uns. Einmal werden wir alle zur Erkenntnis der Güte kommen.
Wir müssen an Armenhäuser denken. Sie stehen nicht nur in den Favelas von Rio und in den Slums von New York, sondern auch in den Neubaugebieten und Altstadtquartieren unserer Städte. Selbst hinter den Mauern herrlicher Bungalows und aufwendiger Villen häuft sich die Zahl der Depressiven, die mit Todesgedanken spielen, weil sie die Freude am Leben verloren haben. "Es hat ja doch alles keinen Sinn" meinen sie und Jesaja sagt es in alle Armenhäuser hinein: "An jenem Tag werden die Ärmsten unter den Menschen fröhlich sein." Die tiefste Tiefe ist überwunden. Einmal werden alle zur Erkenntnis der Freude kommen.
Wir müssen an das Haus dieser Welt denken, das immer mehr einem Tollhaus gleicht, weil sich Fanatiker und Skrupellose die Macht unter den Nagel reißen. Und Jesaja sagt es: "An jenem Tag wird es mit den Tyrannen und Lügnern und Unheilstiftern ein Ende haben." Das Selektieren und Inhaftieren und Exekutieren wird nicht ewig dauern. Einmal werden alle zur Erkenntnis des Friedens kommen.
In welchem Haus wir auch jetzt sitzen, in welcher Lage wir uns auch im Moment befinden, an welchem Unheil wir auch gegenwärtig am meisten leiden, diese Botschaft ist unüberhörbar: Das Heil steht bevor.
Aber, liebe Freunde, ist diese Botschaft glaubhaft? Hat nicht das alte Sprichwort recht: "Hoffen und harren macht manchen zum Narren"? Müssen wir nicht Reiner Maria Rilke recht geben, der sagte: "Welch ein Wahnsinn, uns nach einem 'danach' abzulenken!" Stehen wir nicht dem Philosophen Feuerbach viel näher, der argumentierte: Das alles ist nur ein Spiegelbild unserer Wünsche? Ist dieses Wort wahr? Ist diese Verheißung richtig? Stimmt diese Botschaft? Die Bibel sagt uns - und das ist das Zweite:
Unsere Botschaften sind Wunschvorstellungen. Unsere Verheißungen sind Utopien. Unsere Worte sind wie der Wind, der vergeht. Aber Jesajas Wort ist Fleisch geworden. In Bethlehem ist der geboren, der Menschen erlöst und Freude auslöst. Jesus Christus ist diese Hoffnung in Person. Er vertauschte sein Vaterhaus im Himmel mit unserem Tollhaus auf Erden. Und hier spielte er sich nicht als Hausbesitzer auf, der auf den Tisch haut und nur an hohen Mieteinnahmen interessiert ist. Er spielte auch nicht den Hausbesetzer, der eine Fahne heraushängt und eine Zweckentfremdung verhindern will. Und er spielte erst recht nicht den Hausmeister, der mit stählernen Besen sauber macht und für Ordnung sorgt. Jesus war von allem Anfang an der Heiland, der sagte: "Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist." Ihn zog es in die verlassenen Winkel, in die vergessenen Kammern, in die feuchten Souterrains. Treppauf, treppab war er unterwegs, um nach den Vergessenen und Verzweifelten zu schauen. Wir sehen ihn bei dem Tauben, der seit Jahren von seiner Umwelt abgeschnitten ist. Er legt ihm den Finger in die Ohren, so als wollte er fragen: Tut’s da weh? Ja, da sitzt es, was diesen Behinderten von Kind an schmerzt. Und dann findet ein Wort durch den bis dahin verschlossenen Gehörgang: Hephata! Werde aufgetan! Ein Mensch erlebt die neue Wirklichkeit. Wir sehen Jesus bei dem Blinden, der medizinisch und menschlich ein hoffnungsloser Fall ist. Er legt ihm die Hände auf die Augen und sagt: Geh hin zum Teich Siloa und wasche dich! Der Mann gehorcht und bekommt sein Augenlicht zurück. Wir sehen Jesus bei dem Elenden, der hilflos auf seiner Matratze liegt. Er befiehlt ihm: Steh auf und geh! Dieser Langzeitkranke richtet sich auf und schultert sein Bett. Wir sehen Jesus bei dem Armen, der vom Teufel geplagt ist. Er befiehlt diesen Mächten: Fahr aus! Und der Freigewordene bittet: Herr, ich möchte bei dir bleiben! Überall wird das Heil sichtbar, denn Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören und den Armen wird das Evangelium gepredigt. Trotzdem verweigern sie diesem Herrn schließlich das Hausrecht, schleppen ihn zur Stadt hinaus und beseitigen ihn am Schandpfahl. Aber selbst dann hört er nicht auf, der Heiland zu sein. Sein Tod ermöglicht die Vergebung der Schuld. Und Auslöschen der Vergangenheit, Tilgung unseres Sündenregisters, Neuanfang, das ist unsere größte Heilung, das ist unsere beste Medizin. Mit Jesus hat die Zukunft schon begonnen. In Jesus ist das Kommende schon gegenwärtig. Durch Jesus haben wir teil an der Hoffnung. Liebe Freunde, der Heiland steht dafür, dass das Heil bevorsteht. Deshalb - und das ist das Dritte und Letzte:
Diese Hoffnung soll unseren Alltag heiligen. Diese Aussicht auf das Morgen muss unser Heute heilig, das heißt neu machen. Ein Schüler, der in den vergangenen Tagen seinen Schulsack gepackt hat, freut sich schon auf die Herbstferien: Nur 7 Wochen, dann ist der Stress vorbei. Der Camper, der nach dem Urlaub seinen Wohnwagen eingemottet hat, freut sich schon auf den Winterurlaub: Nur vier Monate, dann rollen die Räder wieder. Ein junger Mann, der sich ein Mädchen angelacht und mit ihr verlobt hat, freut sich schon auf die Hochzeit: Noch ein Jahr, dann gehört sie mir ganz! Die Spannung auf die Zukunft liefert die Energie für die Gegenwart. Und wenn dies bei Herbstferien und Winterurlaub und Hochzeitsfeier schon so ist, wie viel mehr muss dies bei Gottes Heil so sein? Wenn er morgen auch meinen Kindern die Ohren für sein Wort öffnen wird, dann muss ich doch heute nicht an diesen Tauben irre werden! Wenn er morgen auch mir den Star für seine Liebe stechen wird, dann muss ich doch heute über meiner Blindheit nicht verzweifeln? Wenn er morgen auch diesem Kranken seinen Krebs heilen wird, dann muss ich doch heute über diesem Elend nicht zerbrechen? Wenn er morgen auch diesem Schwermütigen die Last abnehmen wird, dann muss doch heute dieser Ärmste nicht vom Glauben kommen? Auch eine zerrissene und zerstrittene Welt ist des Jammers nicht wert, weil dies Wort gilt: Siehe, ich mache alles neu!
Liebe Gemeinde, die Kurzgeschichte Dürrenmatts endet schrecklich. Die Zugmaschine senkt sich immer weiter hinab und rast nun in fürchterlichem Sturz dem Innersten der Erde entgegen. Der Zugführer stürzt auf das Schaltbrett und bleibt blutüberströmt liegen. Der Student reißt entsetzt die Augen auf und brüllt, und das ist der Schlusssatz dieser Erzählung: "Gott ließ uns fallen, und so stürzen wir denn auf ihn zu."
Wir wissen’s jetzt anders: Gott hält uns fest und so gehen wir denn auf ihn zu. Doch, das Heil steht bevor.
Amen