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Das Volk Gottes, die Gemeinde Jesu Christi, ist unterwegs. Gott sei Dank wird immer wieder gelagert. Der Gottesdienst ist Sammelplatz, Lagerplatz und Aussichtsplatz. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Evans, Professor Sir Arthur Evans in Oxford, war nicht nur ein gelehrter Archäologe, sondern auch ein glänzender Schriftsteller, liebe Gemeinde. Vor Jahren schon kam mir eines seiner weit verbreiteten Bücher in die Hände. “Der Zug der Rentiere” hat mich so fasziniert, dass ich es gleichsam in einem Zug verschlungen habe. Obwohl ich es seither nie wieder vor die Augen bekam, ist es mir in wacher Erinnerung geblieben. Der Lappe Jon sollte auf Regierungsbefehl eine ganze Sippe seines Volkes von einem Landstrich in den andern führen. Viele tausend Kilometer lagen zwischen der alten und neuen Heimat. Ein gewaltiges Unternehmen, dieser Marsch der Lappensippe. An der Buckland-Bai, hoch im Norden des Landes und hart am Rande des Eis, wurde zum Sammeln geblasen. Von überall her kamen sie her, die Alten und Jungen, Männer und Frauen, Wagen und Tiere. Aus vielen einzelnen Familienkreisen und Verwandtengruppen wurde eine große, fast unübersehbare Gemeinschaft. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, immer Richtung Osten. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat kämpften sie sich durch die Polarnacht. Gott sei Dank wurde immer wieder gelagert, Pause eingelegt, Kraft getankt, Mut zugesprochen. Mit einem Gewaltmarsch wäre diese Strecke nicht zu bewältigen gewesen. Jeder war bei solchem Zug auf neue Energie angewiesen. Schließlich und endlich, fast am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte, standen sie auf einem Hügel. Die gerade wieder aufgehende Sonne tauchte das Mackenzie-Territorium in einen goldenen Glanz. Eine herrliche Aussicht auf die neue Heimat, die auch dem Jüngsten und Schwächsten neuen Auftrieb gab, die allerletzte Wegstrecke mit neuem Mut unter die Füße zu nehmen. Der Zug der Rentiere endete im Jubel.

Wirklich, eine Geschichte voller Leben, eine Geschichte voller Leiden, eine Ge­schichte voller Liebe. Diese Wandergeschichte ist eine Lebensge­schichte, eine Leidensgeschichte, eine Liebesgeschichte, mehr: Sie ist eine Bildgeschichte für das, was der Hebräerbrief, der Apostel sagen will. Das Volk Gottes, die Gemeinde Jesu Christi soll auf Befehl des Allerhöchsten von einem Land in ein anderes geführt werden. Viele tausend Lebensschritte liegen zwischen der alten und ewigen Heimat. Ein gewaltiges Unternehmen, dieser Marsch des Got­tesvolkes. Im Gottesdienst, unter diesem Dach inmitten der Stadt, wird zum Sammeln gerufen. Von überall her kommen sie, die Alten und Jungen, Männer und Frauen, Einheimische und Auswärtige. Aus vielen Kreisen und Gruppen wird eine große, fast unübersehbare Gemeinschaft. Dann setzt sich der Zug in Bewegung, immer Richtung Morgen. Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat müssen wir uns durch manch eisige Nacht kämpfen. Gott sei Dank wird immer wieder gelagert, im Gottesdienst, unter diesem Dach inmitten der Stadt, wird Pause eingelegt, Kraft getankt, Mut zugesprochen. Mit einer Gewaltanstrengung ist der Himmel nicht zu stürmen. Jeder ist bei diesem Zug täglich, spätestens wöchentlich, auf Energie angewies­en. Wenn wir dann trotzdem und immer wieder an den Rand unserer physischen und psychischen Kräfte kommen, dann werden wir auf den Hügel geführt. Im Gottesdienst, unter diesem Dach inmitten der Stadt ist Aussicht auf die neue Heimat, die auch dem Jüngsten und Schwächsten unter uns neuen Auftrieb geben will. Der Zug des wandernden Gottesvolkes endet im Jubel. Seht zu, mahnt der Apostel, dass dieser Zug nicht ohne euch abgeht. Seht auf, mahnt der Apostel, dass keiner den Anschluss verpasst. Seht hin, mahnt der Apostel, dass nur so das letzte Ziel erreicht werden kann. Seht ein, und das ist das erste, was dieser Text sagt:

1. Gottesdienst ist Sammelplatz

Natürlich hatten die Nordländer einen Essplatz. In ihren grob gezimmerten Hütten wurde kräftig und nahrhaft aufgetischt. Natürlich hatten die Nordländer auch einen Schlafplatz. Auf ihren harten Grasmatten schliefen sie unter dicken Fellen. Natürlich hatten die Nordländer auch einen Arbeitsplatz. Entweder fischten sie im Meer oder jagten in den Wäldern. Trotzdem machten sie sich zum Sammelplatz auf, weil nur dort Bewegung ent­stand, ein neuer Zug in ihr Leben kam, ein gewaltiger Horizont die ganze Welt veränderte.

Ist es uns noch klar, dass man am Eckplatz in seiner Sesselecke alles mögliche tun kann, Zeitung lesen, Kaffee trinken, Patiencen legen, aber keinen Glauben leben? Christen sind keine frommen Privatiers. Ist es uns noch bewusst, dass man am Vorplatz seines Häuschens alles mögliche pflanzen kann, Schneeglöckchen, Osterglocken, Rosenstöcke, aber keinen Glauben züchten? Christen sind keine frommen Schrebergärtner. Ist es uns noch klar vor Augen, dass man im Schrankplatz seines Buffets alles mögliche sam­meln kann, Goldservice, Spieluhr, Traubibel, aber keinen Glauben aufbewahren? Christen sind keine frommen Archivare. Nach dem He­bräerbrief sind sie Aufbrechende, Losziehende, Wanderer zwischen zwei Welten, Marschierer zur Ewigkeit. “Wir kommen zusammen”, schrie der karthagische Rechtsanwalt Tertullian schon im Jahre 198: “zur Gemeinschaft, um gleichsam im geschlossenen Trupp Gott zu ehren und zu folgen”.

Und wer der Meinung ist, dass er für solchen Marsch nicht tauge, und wer der Ansicht ist, dass er für solchen Weg nicht die richtige Kondition mitbringe, und wer der Überzeug­ung ist, dass er als Fußkranker lieber gleich am warmen Ofenplätz­chen sitzen bleibe, der schaue sich diese müde Truppe an. Er­mattete sind dabei, also solche, die nie ihre Hände in den Schoß gelegt haben, die keine Angst vor schmutzigen Händen hatten, die jahrelang mit ihren Händen geschafft und gewühlt haben, aber die nun müde geworden sind, einfach nicht mehr können, die Hände und Köpfe hängen lassen. Solche Ermattete sind dabei und Beladene, also solche, die sich nicht den Rücken freihielten, die nicht nichts von der Last der andern wissen wollten, die immer Größeres auf dem Buckel und immer Schwereres ins Kreuz bekamen, aber die nun matt geworden sind, weich in den Knien, kurz vor dem Zusammenbruch. Solche Beladene sind dabei und Entkräftete, also solche, die einmal vor Gesundheit strotzten, die gar nicht wussten, was sie mit ihrer Kraft anfangen sollten, die Schmerzen nur vom Hörensagen kannten, aber die jetzt leiden, die Glieder kaum regen können und die Schmerzen ihnen die Nächte stehlen. Solche Entkräftete sind dabei und Resignierte und Verletzte und Kaputte auch. Der gottesdienstliche Sammelplatz ähnelte noch gar nie einem imponierenden Aufmarschplatz, sondern schon immer einem bedrückenden Verbandsplatz. Wer also verwundet ist und nicht mehr kann, der ist hier am richtigen Platz. Wer also beladen ist und unter seiner Last schwankt, der ist hier am richtigen Platz. Wer also entkräftet ist und sogar Todesgedanken hat, der ist hier am richtigen Platz. Gerade hier heißt es im Namen des Herrn, der selbst ermattet und beladen und entkräftet seines Weges zog: “Stärkt die müden Hände! Festigt die wankenden Knie! Tut feste Schritte.” Gottesdienst ist Sammelplatz.

2. Gottesdienst ist Lagerplatz

Der Weg durch die Polarnacht war alles andere als ein Spaziergang. Die Nordländer litten unerhört unter der Finsternis. Hass, Zank und Streit keimten auf. Welches Aufatmen ging durch die Reihen, wenn immer wieder ein Lagerplatz erreicht war. Lasten wurden abgelegt, Bürden wurden weggelegt, Speisen wurden aufgelegt. Verschnaufen konnte man, Atem holen, Kraft tanken, Mut gewinnen, einfach Pause machen. Was für ein Geschenk!

Und das will der Gottesdienst auch. Welches Aufatmen müsste durch unsere Reihen gehen, wenn dieser sonntägliche Lagerplatz erreicht ist? Ängste werden abgelegt, Sorgen werden weggelegt, Speisen werden auf dem Abendmahlstisch aufgelegt. Wer in aller Welt will den Kirchgang zur leidigen Pflichtübung degradieren? Wer auf Gottes Erdboden will diese Versammlung zur lästigen Winkelmesse herunterwirtschaften? Wer unter uns will diese Gemeinschaft der Heiligen zum Zirkel von Scheinheiligen verkommen lassen? Gottesdienst ist Lagerplatz. Und hier wird im Lagerbuch der Gemeinde, so hat Albrecht Bengel die Bibel einmal bezeichnet, das notwendige Wegzeichen für den weiteren Marsch beschrieben. Es besteht aus einem Längsbalken, und einem Querbalken, und das Kreuz, das so entsteht, weist in Richtung Heiligung und Frieden. Jagt der Heiligung nach, das ist die Vertikale, die unbedingte und ausschließliche Abhängigkeit von dem heiligen Gott, der uns nicht zu sonderbaren Heiligen, sondern zu besonders Geheiligten machen will. Und jagt dem Frieden nach, das ist die Horizontale, die warme und wohltuende Herzlichkeit mit allen, die auch auf dem Wege sind. Jagt dem Kreuz nach, so wie Paulus, der einmal geschrieben hat: Ich vergesse, was dahinten ist und jage nach dem vorgesteckten Ziel. Jagt dem Kreuz nach, so wie Petrus, der einmal gesagt hat: Wohin sollen wir gehen? Du bist der Christus! Jagt dem Kreuz nach, so wie Johannes, der einmal ge­rufen hat: Selig sind, die auf dem Weg des Lebens gehen. Jagt dem Kreuz nach, nicht wie Esau, der wegen eines Linsengerichtes, das ihm in die Nase gestochen hat, den Marsch abgebrochen hat. Viele Jünger dieses ersten Wendehalses blasen deshalb zum Rückzug, weil ihnen das Brot des Lebens nicht mehr schmeckt und sie Appetit be­kommen auf eine billige Linsensuppe. Es tut schon weh, wenn der oder jener seinen Hunger an andern Tischen stillen will, französischen Abschied nimmt und nicht mehr dabei ist. Meiden wir den Wendeplatz. Gottesdienst ist Lagerplatz.

3. Gottesdienst ist Aussichtsplatz

Im Zug der Rentiere gab es auch die bange Frage: Reichen die Kräfte? Schaffen wir das? Kommen wir ans Ziel? Aber eines Tages geschah es so. Einer kam aufgeregt ins Biwak gelaufen und schrie: Ich habe sie gesehen! Das Leben um die Schneehütten verwandelte sich. Die Leute rannten zum nächsten Hügel und schauten nach Südosten. Dort fing es an zu glühen. Rote Strahlen schossen empor, Lanzen gegen die Nacht. Und dann kam die Sonne. Atemlos standen die Menschen. Zuerst war nur eine schmale Messer­klinge wie aus Feuer zu sehen. Sie hob sich, wurde breiter und höher. Die Lappen schrien und winkten. Ihre harten Gesichter wurden fröhlich. Selbst die Hunde wurden angesteckt und bellten wie toll. Im Morgenglanz lag das Ziel, die Berge des Mackenzie-Territoriums, die neue Heimat. Sicher, die Scheibe sank wieder rasch. Aber sie wussten: sie wird wiederkommen und stärker werden. Da mögen noch Stürme brausen und Winde toben, der Sieg des Sonnenlichtes ist nicht aufzuhalten und der Sieg des Gotteslichtes auch nicht. In Jesus Christus ist es mitten in der Finsternis aufgegangen. Ich habe es gesehen, hat Johannes gesagt, dann Andreas, dann Simon, dann Philippus, dann Nathanael, dann viele, viele andere, die alle gelaufen sind bis zu dem Punkt, an dem sie nicht nur die Vorberge des Sinaistockes ausmachten, sondern darüber den alles überragende Gipfel des Berges Zion. Im Morgenglanz der Ewigkeit leuchtet das Panorama des himmlischen Jerusalems, in dem Gott zwischen Engel­scharen und vollendeter Gemeinde alles in allem sein wird. Das ist keine Fata Morgana über dem Dunst unseres Lebens. Das ist kein Luftschloss über den Dächern der Wirklichkeit. Das ist keine Utopie in menschlichen Gehirnen. Das sind im wahrsten Sinne schöne Aussichten derer, die sich an diesem Platz versammeln: “O wär ich da, o stünd ich schon, ach süßer Gott vor deinem Thron und trüge deine Palmen.” Sicher geht es vorher noch durch tiefe Täler hindurch, aber “ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürcht ich kein Unglück”. Ganz bestimmt geht es vorher noch durch manche Ströme hindurch, aber “wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein.” Ohne Zweifel geht es noch vorher manche Steigungen hinauf, aber “die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft”. Wer lange in den Abgrund schaut, in den schaut der Abgrund, hat Nietzsche gesagt. Wer aber lange in das Licht schaut, in den schaut das Licht und gibt ihm die Gewissheit, dass es einmal unseren ganzen Jammer der Wanderschaft und unsere ganze menschliche Unzulänglichkeit eintauchen wird in den gleißenden Schein seiner Herrlichkeit. Der Zug des wandelnden Gottesvolkes endet im Jubel.

Liebe Gemeinde, manche verwechseln diesen Gottesdienst mit der Mitgliederversammlung eines frommen Vereins. Weit gefehlt. Hier ist Sammelplatz, Lagerplatz und Aussichtsplatz auf dem Weg zur himmlischen Festversammlung. Was für eine Perspektive!

Amen