Liebe Gemeinde, damals ging es im Grenz- und Durchgangslager Friedland bei Göttingen drunter und drüber. Täglich strömten Scharen von jungen Leuten in diese Notaufnahme. Moderne Glückssucher, die es den alten Goldsuchern nachmachten: Let's go west! An einen erinnere ich mich genau. Hans hat er geheißen, gerade 18 Jahre alt, schlank, groß, blond. Er hatte nicht aus Abenteurerlust die DDR verlassen. Wegen der nicht fortschrittlichen Einstellung seines Vaters war er vom Gymnasium geflogen. Irgendwo im Bundesgebiet wollte er seine Ausbildung fortsetzen, und er tat es auch. Aus Köln erhielt ich gute Nachricht. Eines Abends jedoch klopfte es an meine Barackentür. Hans stand vor mir. Ich erkannte ihn sofort an seinem Blondschopf. "Woher kommst du?", fragte ich ihn. "Von drüben", war seine knappe Antwort. "Was, von der DDR?" Er nickte. "Aber Hans", drang ich auf ihn ein, während er langsam auf einem Stuhl Platz nahm, "aber Hans, du warst doch in Köln und alles war ok; was ist denn passiert?" Langsam rückte er heraus: "Herr Pastor, ich bekam Heimweh, furchtbar Heimweh, dann kaufte ich eine Fahrkarte nach Hause und setzte mich in den Interzonenzug." "Ja", wollte ich wissen, "warum bist du nicht bei Muttern geblieben?". "Wollte schon", erzählte er stockend, "aber die Volkspolizei hat mich aus dem Zug geholt und mit dem Laster zurückgefahren. Ich bin aus der DDR ausgestoßen. Ich bin in den Westen abgeschoben. Ich habe keine Heimat mehr." Dann zeigte er mir seinen Ausweis mit dem fetten, roten Stempel: Republikverbot. Keinen Ort mehr haben, an dem man daheim ist, keinen Platz mehr haben, an dem man zuhause ist, kein Dach mehr haben, unter dem man geborgen ist, wohnungslos, staatenlos, heimatlos, das ist entsetzlich.
Leider gilt dies nicht nur für Hans, auch nicht nur für ein paar Obdachlose oder Flüchtlinge oder Asylanten, sondern für uns alle. Da mögen wir seit Generationen in diesem Landstrich beheimatet sein, da mögen wir schon immer in dieser Gegend verwurzelt sein, da mögen wir von Kindheitsbeinen an in diese Kultur hineinverflochten sein: Einmal werden wir herausgeholt. Einmal werden wir an die Grenze gebracht. Einmal werden wir über den Todesstreifen gejagt. Wir haben hier keine bleibende Stadt, auch wenn wir in der Stadt wohnen. Wir haben hier kein bleibendes Haus, auch wenn wir ein Eigenheim gebaut haben. Wir haben hier kein bleibendes Dach, auch wenn wir keine Obdachlose sind. Republikverbot, so steht es mit unsichtbarer Tinte auf jedem Ausweis. Letztlich und zuletzt wohnungslos, staatenlos, heimatlos, das ist entsetzlich, denn das letzte, und so hat es Franz Kafka einmal geschrieben, "das Letzte, das die Menschen in den Spiegelungen der Hoffnung überhaupt erstreben, ist Heimat." Oder so, wie es im alten Volkslied heißt: "Wenn er nun fragt, was drückt dich sehr? Ich kann nicht nach Hause, hab keine Heimat mehr!"
Weil das unsere wahre Lage ist, deshalb hören wir gespannt auf die Nachricht des Apostels. In seinem Brief an die Christen in Philippi schreibt er vom vorgesteckten Ziel, einer Stadt, nicht von Menschen am Reißbrett entworfen, einem Haus, nicht von Menschen mit Steinen erbaut, einem Dach, das allen Wettern trotzt. "Nicht dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach." Christen geben sich mit der sichtbaren Wirklichkeit nicht zufrieden. Christen wissen um den andern Ausweisvermerk, den Christus geben kann, nämlich Heimatrecht. Christen sind jetzt schon Bürger der neuen Welt. Expecto vitam venturi saeculi! Deshalb hören wir etwas von ihrer Bürgerschaft, von ihrem Bürgerrecht und von ihrer Bürgerpflicht.
1. Die Bürgerschaft
Wenn wir in Stuttgart geboren sind, dann haben wir die deutsche Staatsbürgerschaft. Und wenn wir in Cardiff geboren sind, dann haben wir die englische Staatsbürgerschaft. Und wenn wir in Marseille geboren sind, dann haben wir die französische Staatsbürgerschaft. Und wenn wir in Christus wiedergeboren sind, dann haben wir die himmlische Bürgerschaft dazu. "Unsere Bürgerschaft heißt Himmel", stellt Paulus wörtlich fest. Nun lesen wir im Faust: "Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt." Nun lesen wir bei Nietzsche im Zarathustra: "Glaubt denen nicht, die von überirdischen Hoffnungen reden, Giftmischer sind es." Nun lesen wir bei Bert Brecht in seinem Galileo Galilei: "Heute ist der 6. Januar 1610. Der Mensch trägt in sein Journal ein: Es gibt keinen Himmel mehr."
Wir müssen aber wieder bei den Evangelisten und Aposteln in der Bibel nachlesen. Dort heißt es bei der Geburt Jesu über dem Feld von Bethlehems: "Alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen." Und bei der Taufe Jesu am Jordanfluss wird berichtet, "dass sich der Himmel auftat und der Heilige Geist herniederfuhr wie eine Taube." Und bei der Speisung der 5000 am Seeufer lesen wir, dass er "Brot und Fische in die Hand nahm, aufsah zum Himmel und dankte." Und beim Passahfest in Jerusalem klingt es auf: "Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten." Und beim Abschied auf dem Ölberg geschah es, dass er seine Jünger segnete, von ihnen schied und auf gen Himmel fuhr. Jesu ganzes Leben war wie ein großer Bogen, der im Himmel begann, 33 Jahre lang die Erde berührte und dann wieder in den Himmel einmündete: Wunderanfang, herrlich Ende. Vom Himmel, zum Himmel. Auch wenn es kein Fernglas gibt, das diesen Ort ausmachen könnte, auch wenn es keinen Raumflug gibt, der diesen Ort erreichen könnte, auch wenn es keine Astronomie gibt, die diesen Ort erdenken könnte, so kann uns doch niemand und nichts die Gewissheit nehmen, dass es einen Himmel gibt, ein Aufatmen nach diesen Krämpfen und Kämpfen, ein Aufschnaufen nach diesen Mühen und Lasten, ein Aufrichten nach diesen Sorgen und Nöten, ein Ausruhen daheim beim Vater. Coniunctum esse cum deo, mit Gott ganz eng verbunden sein, das ist nach Luther der Himmel. Jesus Christus ist der Garant dafür. Nun liegt doch der Schwerpunkt unseres Lebens, der alles gewichtet, nicht mehr in unserem Geschäft, das wir umtreiben. Nun liegt doch der Richtpunkt unseres Lebens, der alles ausrichtet, nicht mehr in unserem Glück, das wir suchen. Nun liegt doch der Fluchtpunkt unseres Lebens, auf den alles hinflieht, nicht mehr in unserem Sterben, das wir erleiden. Unsere Bürgerschaft ist im Himmel. Daraus leitet sich das Zweite ab.
2. Das Bürgerrecht
An Paulus selbst können wir es verdeutlichen. Mit seiner Christusbotschaft brachte er den ganzen Klerus in Jerusalem auf die Palme. Hohepriester und Schriftgelehrte, Pharisäer und Saddduzäer schäumten vor Wut gegen diesen Gotteslästerer. Weil sie sogar Hand an ihn legen und kurzen Prozess mit ihm machen wollten, nahm ihn die römische Besatzungsmacht in Schutzhaft und bracht ihn per Schub nach Caesarea. Als er nun dort von Statthalter Festus gefragt wurde, ob er sich doch nicht der jüdischen Anklage in Jerusalem stellen wolle, sagte Paulus: "Caesarem appello!" "Ich berufe mich auf den Kaiser!" Seine römische Bürgerschaft gab ihm das römische Bürgerrecht, sein Recht bei der höheren Instanz zu suchen. Das jüdische Gericht war für ihn ohne Bedeutung.
Nun sind wir Gott sei Dank nicht vor ein jüdisches, römisches oder sonst ein weltliches Gericht geladen, wo wir uns in Sachen Glauben zu rechtfertigen hätten. Aber den penetranten Anklägern, die Hand an uns legen und mit uns kurzen Prozess machen wollen, können wir uns einfach nicht entziehen. Sie schleppen uns vor die Schranke und stellen uns unter Anklage. Rechtfertigungsgründe bleiben im Halse stecken. Da ist der Chefankläger unseres Gewissens, der dunkle Bilder unserer Vergangenheit ans Licht zerrt. Diese Lüge hat den Mann ruiniert und jene Untreue hat die Frau kaputtgemacht. Die Reue kommt zu spät und kann nichts mehr heilen. Und da ist der Ankläger der Sorge, der schwarze Bilder unserer Zukunft vor Augen malt. Dieser Schmerz wird sich zu einer gefährlichen Krankheit ausweiten und jener Konflikt wird die Erde in ein Chaos stürzen. Die Welt ist rettungslos verloren. Und da ist der Ankläger der Angst, der heillose Bilder unserer Gegenwart in den Blickwinkel rückt. Diese Ehe ist eine Last und jener Beruf eine einzige Anfechtung. Ich bin am Boden - aber nicht am Ende, wenn ich diese Epistel begreife. Wie Paulus muss ich mich nicht den teuflischen Anklägern stellen. Dem Gewissen gegenüber kann ich sagen: "Christum appello!" Der Sorge gegenüber kann ich sagen: "Christum appello!" Der Angst gegenüber kann ich sagen: "Christum appello!! Ich berufe mich auf Christus. Unsere himmlische Bürgerschaft gibt uns das himmlische Bürgerrecht, unser Recht bei der höchsten Instanz zu suchen. Und von ihr weiß ich, dass sie kein Interesse an meinem Untergang hat. Jesus will nicht vernichten, sondern verwandeln und verherrlichen. Dieser Richter ist immer Neumacher, nie Kaputtmacher. "Siehe, ich mache alles neu." So hat er es versprochen. Wenn also andere ihre Rechte an uns anmelden wollen, wenn sie gefährlich auf ihr Recht an uns pochen wollen, ja wenn sie ihr Recht bei uns durchsetzen wollen, dann ist es kraft unserer Bürgerrechte unser gutes Recht, uns auf diesen Herrn zu berufen, der es für uns recht und richtig machen wird. "Nichts, nichts kann mich verdammen, nichts nimmt mir meinen Mut, die Höll und ihre Flammen, löscht meines Heilands Blut." Das ist das Bürgerrecht der Bürgerschaft, und ..
3. Die Bürgerpflicht ...
... ist es, heute schon entsprechend zu leben. Noblesse oblige, Adel verpflichtet, und Himmelsbürgerschaft auch. Schon Jesus hat das Kreuztragen als diese Pflicht herausgestellt: "Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, ist meiner nicht wert."
Die aussagekräftige Petrus-Legende kann dies verdeutlichen. Im alten Rom wird dem Apostel geraten, aus dieser Stadt zu fliehen, Kaiser Neros Bluthunde sind auch ihm auf der Spur und wollen ihn zur Strecke bringen. Viele Gründe sprechen für Schonung, Zurückziehen, Flucht. So wandert Petrus in der Morgenfrühe zum Hafen Ostia. Im Nebel sieht er eine kreuztragende Gestalt. Petrus erkennt seinen Meister und fragt: "Wohin, Herr?" Und der sagt: "Ich gehe, um mich ein zweites Mal kreuzigen zu lassen." Dann kehrt Petrus um. Er will kein Feigling sein. Er will nicht den Drückeberger spielen. Er will kein Feind des Kreuzes Christi werden.
Feinde des Kreuzes Christi sind Christen, die das Kreuz als Norm und Form ihres Lebens ablehnen. Schone mich, sagen sie: Ich kann keine Schmerzen ertragen, ich kann meine Bequemlichkeit nicht aufgeben; ich kann mir nicht so viel zumuten, ich habe schon zu viel auf dem Kreuz. Aber Schonung, Selbsterhaltung, Selbstgenuss ist nicht die Lebensweise dieses Herrn. "Folgt mir, liebe Brüder", sagt Paulus, der vor Damaskus aufs Kreuz gelegt wurde, der von den Eigenen ins Kreuz getreten wurde, der mit seiner Kirche übers Kreuz kam und der mit Schwachheit, Krankheit und Leiden wahrlich sein Kreuz hatte. "Folgt mir und sehet auf die, die auch so leben!" Ein Martin Luther ist dabei, der ab dem 44. Lebensjahr ein kranker Mann war. Ein Johannes Hus ist dabei, der den Gang zum Scheiterhaufen angetreten ist. Ein Heinrich Wichern ist dabei, der von Jugend auf an Migräne litt. Ein Ludwig Hofacker ist dabei, der nach wenigen Dienstjahren mit 30 Jahren gestorben ist. Vielleicht ist Ihre Großmutter dabei, die mit wenig Geld und viel Kinder fröhlich ihren Glauben lebte, oder Ihr Vater, der sich selbst im Leiden vom Glauben nichts abmarkten ließ, oder Ihr Lehrer, der trotz persönlicher Anfeindungen auf diesen Weg wies. "Seht auf die, die auch so leben!"
Ein langer Zug geht durch die Geschichte. Sollte ich fehlen? Sollte ich ausscheren? Sollte ich meiner Bürgerpflicht des Kreuztragens nicht nachkommen? "Himmelan wallt neben dir, alles Volk des Herrn, trägt den Himmelsvorschmack hier, seine Lasten gern. O schließ dich an, kämpfe drauf, wie sich's gebührt, denke, auch durch Leiden führt, die Himmelsbahn." Vergessen wir es nicht, der Stempel auf dem Ausweis der Bürger einer zukünftigen Welt heißt Heimatrecht.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]