
Herzlich willkommen zu einem weiteren Abendvortrag des Bibelstudienkollegs. Heute geht es um ein Thema, das meiner Meinung nach recht herausfordernd ist: psychisch krank als Christ.
Kann man als Christ psychisch krank sein, oder stimmt dann mit dem Christsein etwas nicht? Liegt eine Störung im Glauben vor, oder was ist los mit jemandem, der als Christ psychisch krank ist? Ich bewege mich manchmal – oder immer noch manchmal – in Kreisen, in denen gesagt wird: Wenn du psychisch krank bist, dann kannst du nicht mehr richtig Christ sein.
Das wird vielleicht in anderen Kreisen nicht so deutlich ausgesprochen, aber gedacht, und man spürt es. Deshalb habe ich mich intensiver mit dieser Thematik beschäftigt. Und zwar nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch.
Das heißt: Ich bin chronisch psychisch krank. Das merkt man mir vielleicht auf den ersten Eindruck nicht an. Vielleicht merke ich es selbst auch noch nicht. Andere sagen: „Das merken wir tagtäglich“, so meine Kollegen oder so. Ich weiß es nicht genau. Aber es ist tatsächlich so: Ich bin psychisch krank und nehme täglich Medikamente, damit das nicht durchbricht, nicht eskaliert.
Ich weiß, wovon ich rede, wenn es darum geht, als Christ psychisch krank zu sein. Ob mich das unbedingt qualifiziert, weiß ich nicht. Aber ich glaube, ich spreche nicht nur wie der Blinde von der Farbe, sondern wie jemand, der beide Seiten kennt.
Ich kenne die Seite eines Betroffenen. Ich würde mich gar nicht als Kranken bezeichnen, sondern als jemanden, der eine besondere psychische Eigenart hat. Und ganz ehrlich: Ich finde diese gar nicht schlimm, sondern sogar positiv. Dazu werde ich im Laufe dieses Vortrags noch ein bisschen mehr sagen.
Das Bild, das wir hier sehen, zeigt einen psychisch Kranken. Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass die Straße, die ihn fast erdrückt, eigentlich ein Kreuz ist. Dieses Kreuz drückt ihn fast nieder und macht ihm Angst. Er sitzt wie in einem Käfig, einem Käfig, der ganz rot ist. Alles um ihn herum ist rot – so wie er die Welt sieht, geprägt von seiner psychischen Erkrankung.
Wenn man noch genauer hinsieht, entdeckt man hier drüben eine offene Gruft. Ich weiß nicht, ob die Figur in diese Gruft hineingeht oder aus ihr herauskommt. Vor der Gruft liegt ein Stein, und wenn man genau hinschaut, sieht man darin einen Bock – ein Opfertier, wie es im Alten Testament beschrieben wird. Über der Straße ist alles schwarz, der Blick nach oben ist verstellt. Die Hände sind gebunden und nach oben gehoben, und das Gesicht erinnert an das berühmte Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch.
Meiner Ansicht nach stellt dieses Bild sehr gut dar, was ein psychisch Kranker empfindet. Es mag etwas befremdlich wirken, dieses Bild. Vielleicht wirkt es auch befremdlich, dass das Kreuz ihn erdrückt. Man könnte denken: Wenn ihn das Kreuz erdrückt, kann er ja gar kein Christ sein. Doch das stimmt nicht. Das Kreuz kann erdrückend sein, aber es ist gleichzeitig auch eine Straße, ein Weg, der aus der Gefangenschaft und Bedrängnis herausführt, in der sich dieser Kranke befindet.
Dieses Bild habe ich gemalt, deshalb weiß ich genau, was es bedeutet. Mir ging es dabei nicht um die Schönheit des Bildes – es ist nicht schön, es ist hässlich. Mir kam es darauf an, dass dieses Bild für mich zu einer Zeit, in der ich schwer psychisch krank war, eine Ausdrucksform wurde. Es war eine Möglichkeit, das, was ich nicht in Worte fassen konnte, durch etwas Gestalterisches darzustellen.
Dieses Bild ist nicht in einer Klinik entstanden, sondern in meinem Arbeitszimmer zu Hause. Ich habe dort einen Maltisch. Leider male ich heute viel zu selten. Wenn ich mich mal austoben will oder in einer Predigt nicht weiterkomme, stehe ich an diesem Tisch und male. Nicht schön, aber für mich ist das nach wie vor eine Art Sprache, um eine psychische Erkrankung auszudrücken und zu kanalisieren – jenen Sturm, der manchmal im Kopf herrscht.
Was ist meine psychische Erkrankung? Ich leide an zwei chronischen Formen der Depression. Manche sprechen auch von Burn-out, aber eigentlich gibt es kein Burn-out als eigenständige Diagnose. Es gibt nur Depressionen.
Da Männer oft ungern zugeben, an Depressionen zu leiden, verwenden sie stattdessen den Begriff Burn-out. Das wirkt dann fast wie ein Orden, den man sich ansteckt. Tatsächlich handelt es sich aber um eine klassische Depression, eine Erschöpfungsdepression oder eine andere Form der Depression.
Das nur als persönlicher Einstieg, damit Sie beziehungsweise ihr wisst, mit wem ihr es hier zu tun habt.
Jetzt zwei Dinge: Was ist los? Am Irrliegzeit. Was erwartet Sie heute Abend und was nicht?
Heute Abend erwartet Sie ein subjektiver Vortrag eines Betroffenen. Das ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Als Psychotherapeut oder jemand, der das Ganze von außen und objektiv betrachtet, wäre der Vortrag wahrscheinlich anders. Aber ich habe das subjektiv erlebt, und diese Subjektivität soll auch in diesem Vortrag zum Ausdruck kommen.
Es gibt danach die Möglichkeit für Rückfragen.
Was es nicht gibt: keine Diagnose für psychische Probleme. Wenn jemand kommt und sagt, ich meine, auch psychisch krank zu werden, könnte ich nicht sagen, welche psychische Erkrankung vorliegt. Ich bin kein Arzt, sondern Seelsorger. Ich unterrichte hier am Bibelstudienkolleg auch Seelsorge, aber ich darf keine Diagnosen über psychische Erkrankungen stellen.
Es gibt auch keine individuelle Seelsorge, denn das kann ich nicht leisten und will ich auch nicht. Die Schwierigkeiten einer psychischen Erkrankung oder Disposition sind komplexer, als man sie nach einem Vortrag am Abend erklären kann.
Außerdem gebe ich keine Therapeutenempfehlung oder Klinikempfehlung. Ich war schon in Kliniken, auch in sehr guten Kliniken. Aber niemand weiß, nicht einmal meine Kollegen, welche Klinik die letzte war. Ich glaube, Sie wissen es, aber ich war dort nicht wegen einer psychischen Erkrankung.
Die anderen Kliniken habe ich bisher nicht genannt, weil ich nicht möchte, dass ich dort als Vorbild genommen werde. Das muss jeder für sich selbst herausfinden.
Und damit sind wir auch beim Ersten, was ich sagen möchte. Ich möchte zunächst einige Dinge abarbeiten, die wir als Tipps mitnehmen können.
Ich werde oft gefragt: Wie finde ich einen Psychotherapeuten oder nicht mal das, sondern eine Seelsorgerin oder einen Seelsorger? Ich kenne niemanden in meinem Umfeld, der auf christlicher Basis praktiziert. Wo gibt es denn so etwas? Im Internet gibt es eine recht praktische Möglichkeit, auch wenn die Internetadresse etwas sperrig ist.
Man kann dort Suchbegriffe eingeben, zum Beispiel Psychotherapeut, Seelsorger, Psychologe oder Psychiater, und dann die Postleitzahl eingeben, um den Umkreis zu bestimmen. Das System sucht dann einen Helfer, Betreuer oder Berater, der auf einer christlichen Basis arbeitet. Nicht unbedingt in dem Frömmigkeitssystem, in dem wir uns befinden, aber es gibt gewisse Standards, die erfüllt werden müssen – auch geistliche Standards. Nach meiner Erfahrung ist das nicht das Schlechteste.
Die sperrige Internetseite heißt derberatungsfuera.de, wobei das Ü als Umlaut geschrieben wird. Natürlich gibt es unzählige Bücher über psychische Erkrankungen, auch im christlichen Bereich. Manche behandeln, wie man ohne Psychotherapeuten wieder gesund wird, nur durch Seelsorge. Ich sage schon jetzt: Das kann vorkommen, aber es ist relativ unwahrscheinlich, wenn man wirklich psychisch krank ist, psychisch angeschlagen oder in einer psychischen Episode steckt.
Dann kann Seelsorge durchaus helfen, das werde ich nachher noch zeigen. Vor allem habe ich zwei Bücher, die ich für sehr hilfreich halte. Beide sind eigentlich für Patienten oder Ratsuchende gedacht, aber auch für Berater oder Angehörige.
Das eine Buch gefällt mir besonders. Es ist von Manfred Lütz. Er war Psychiater in einer Klinik in Köln, ist gleichzeitig Philosoph, Theologe und Kabarettist. Dementsprechend ist das Buch auch geschrieben. Seine Werke, auch die theologischen, lässt er von Fachkollegen lesen, damit sie ihm sagen, was falsch ist oder verbessert werden muss. Außerdem gibt er die Bücher seinem Metzger und Friseur zum Lesen, damit sie für jedermann verständlich sind und nicht zu kompliziert.
Das Buch ist wirklich gut verständlich. Es gibt es auch als Hörbuch. Ich würde die zweite Auflage empfehlen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, welche Auflage ich habe, aber ich glaube, es ist noch die alte. Es gibt eine neuere Auflage, in der manches aktualisiert wurde.
Der Titel des Buches ist ganz einfach: „Irre“. Der Untertitel finde ich interessant: „Wir behandeln die Falschen, unser Problem sind die Normalen.“ Darf ich einmal böse sagen: Alle, die außer mir normal sind – ich bin nicht normal. Ich bin einer, der „irre“ ist.
Aber wen muss man eigentlich behandeln? Ich habe es in letzter Zeit nicht mehr so erlebt, aber bei meiner ersten schweren Depression habe ich es noch erfahren. Ich gehe sehr offen mit dieser Erkrankung um. Bei meiner ersten Depression habe ich unglaublich viele Ratschläge bekommen. Ich unterstelle, dass sie ernst gemeint waren, aber sie waren oft völlig falsch und haben manchmal sogar wehgetan, weil sie so unsensibel waren.
Wenn ihr eines mitnehmt: Ratschläge sind auch Schläge. Jemand, der wirklich in einem Loch sitzt und dann kluge Ratschläge bekommt, empfindet das teilweise körperlich wie Schläge.
Das ist der erste Punkt, den wir mitnehmen können. Er taucht später noch einmal auf. Psychisch Kranke, die in Behandlung sind, medikamentiert sind und vielleicht auch noch in Seelsorge sind, brauchen keine Ratschläge aus dem christlichen Lager. Das brauchen sie nicht. Sie sind äußerst gut beraten.
Was sie brauchen, sage ich nachher noch.
Das andere Buch stammt von Samuel Pfeiffer. Er ist ebenfalls Psychiater und war viele Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, in einer psychiatrischen Klinik sowie in einer Reha-Einrichtung in Basel tätig. Er ist gläubiger Christ und Psychiater – was manche für unmöglich halten, aber es geht.
Er hat speziell für Seelsorger und Menschen, die mit psychisch Kranken umgehen, auch im Gemeindekontext, das Buch „Die Schwachen tragen“ geschrieben. Das finde ich sehr schön. Dieses Bild ist vermutlich an die Geschichte der fünf Freunde angelehnt, die ihren Freund vor Jesus tragen. Sie reden nicht lange, sondern tragen ihn einfach vor Jesus, lassen ihn hinunter und zerstören sogar ein Haus dafür.
Und Jesus – was macht er? Er heilt ihn von seiner Schuld. Das ist das Erste, was Jesus kann.
Aber zu einem psychisch Kranken zu sagen: „Du musst erst deine Schuld loswerden, bevor du wieder gesund wirst“, wäre ich zurückhaltend. Ja, bei nicht wenigen psychischen Erkrankungen spielt Schuld eine Rolle. Das würde ich auch bei mir nach einer chronischen Erkrankung nicht mehr unbedingt sagen, aber sicher war da auch Schuld dabei.
Das muss aber jemand sagen, der den Erkrankten kennt, der ihn begleitet und im wahrsten Sinne des Wortes mitträgt. Der kann es sagen. Von außen zu behaupten, bei dir müsse irgendeine Schuld verborgen sein, ist der falsche Weg.
In diesem Buch sind auch noch weitere sehr interessante Gedanken enthalten, die helfen können.
Das sind also die zwei Buchempfehlungen, die ich geben möchte.
Was erleben psychisch erkrankte Menschen? Ich spreche dabei nicht nur vom Gemeindeumfeld, sondern auch von der Gesellschaft insgesamt. Psychisch Kranke haben eine relativ geringe Lobby. Man schiebt sie in die Klinik, wo sie gut aufgehoben sind, aber man meidet sie. Je sichtbarer die psychische Erkrankung ist, desto mehr wird die betroffene Person gemieden.
Ein klassisches Beispiel ist das Tourette-Syndrom. Ich würde das nicht unbedingt als psychische Erkrankung bezeichnen, sondern eher als eine Mischung verschiedener Symptome. Wenn jemand dabei immer wieder Kraftausdrücke von sich gibt und seine Artikulation nicht steuern kann, macht man lieber einen Bogen um diese Person, anstatt mit ihr zu reden. Man lässt sich nicht auf sie ein, weil einem das ein bisschen gefährlich erscheint.
Oder wenn jemand schizophren ist und Dinge sagt, die wirr sind oder verletzend wirken, die aus einer anderen Welt zu kommen scheinen – im wahrsten Sinne des Wortes –, dann meidet man diese Menschen gerne. Ich kann das sogar verstehen, denn es ist natürlich schwierig, mit solchen Menschen zu kommunizieren oder Umgang zu haben. Trotzdem kann der Kontakt sehr wichtig sein.
Ich möchte nun den Fokus auf die Gemeinde legen. Das Erste, was immer noch deutlich in den Vordergrund tritt, ist, dass psychisch kranke Menschen oft als okkult belastet, als vom Teufel besessen oder vom Teufel benutzt angesehen werden. Vielleicht kommt das in den Kreisen, aus denen Sie oder Ihr kommt, nicht so häufig vor. Aber ich habe schon Leute in der Seelsorge erlebt, die berichteten, dass bei ihnen schon über hundertmal Dämonen ausgetrieben wurden, weil sie angeblich okkult belastet waren.
Ich erinnere mich sehr gut an ein Gespräch, das auf einer Busfahrt von einer Freizeit zurück stattfand. Es brauchte nur ein Wort oder einen Satz aus der Bibel, und ich sah diese Frau strahlend. Sie war plötzlich befreit. Komisch, obwohl ich nur gesagt hatte: „Weißt du, was Jesus zu dir gesagt hat? Wer Jesus Christus frei macht, der ist wirklich frei.“ Bei dieser Frau löste sich ein Pfropf. Es waren keine Dämonen, sondern einfach die Zusage Jesu, dieses Gewissmachende Jesuswort, das ihr half.
Sie war damit nicht vollständig geheilt, denn sie hatte viele Probleme. Sicherlich brauchte sie noch einige Psychotherapiesitzungen und Seelsorge. Ich habe ihr geraten, nicht in der Gemeinde zu bleiben, in der sie bisher war. Psychisch Kranke werden oft gemieden.
Übrigens glaube ich, dass es okkulte Belastungen gibt, aber man sollte sehr vorsichtig damit umgehen. Ich mache jetzt seit 40 Jahren ehrenamtlich Seelsorge und seit 30 Jahren hauptberuflich. Ich würde mir nicht unbedingt zutrauen, scharf zu unterscheiden, was okkulte Belastung und was psychische Erkrankung ist. Dafür bräuchte ich einen Fachmann. Ich bin zwar mit beidem konfrontiert worden – nicht als Betroffener, sondern als Seelsorger.
Man sollte hier sehr vorsichtig sein. Unter Fachleuten haben wir vor einiger Zeit auf einem Kongress die Frage gestellt: „Wer von euch hatte schon massiv okkult Belastete in der Seelsorge oder Psychotherapiepraxis?“ Die Teilnehmer waren Psychiater, Psychotherapeuten und Seelsorger. Nur ganz wenige meldeten sich zögerlich. Ich glaube, dass es solche Fälle gibt, und dass es regional unterschiedlich ist.
Zum Beispiel denke ich, dass okkulte Belastungen in Afrika deutlich häufiger vorkommen. Ich habe das dort selbst auf krasse Weise erlebt. Bei uns in Europa glaube ich, dass der Teufel manchmal andere Wege findet – aber nicht bei psychisch Kranken, sondern bei gesunden Menschen.
Oft ist die Reaktion auf psychische Erkrankungen: „Du bist selbst schuld“ oder „Du hast etwas falsch gemacht.“ Man hört Sätze wie: „Du hast nicht die Pausen eingehalten“, „Du hast dich falsch ernährt“, „Du musst auf diese Ernährung umsteigen“, „Du brauchst dieses Nahrungsergänzungsmittel.“ Ich könnte eine ganze Liste solcher Ratschläge aufzählen. Bitte lasst das bleiben! Das verunsichert Betroffene nur noch mehr und treibt sie in einen Tunnel, aus dem sie glauben, nicht mehr herauszukommen.
Auch Literatur und Zeitungsartikel, die mir zugeschickt wurden, drücken oft Freundlichkeit und Fürsorge aus, aber sie belasten psychisch Kranke zusätzlich. Ich hatte einen Psychotherapeuten, Atheisten und einen sehr interessanten Mann. Sein Vater war General Bastian – manche Ältere werden ihn noch kennen –, der seine Freundin Kelly umgebracht hat und sich danach selbst das Leben nahm. Der Sohn war nicht in der seltsamen Psychotherapie.
Dieser Psychotherapeut Bastian hatte eine Art, die mich heute noch frösteln lässt, wenn ich daran denke. Beim Verabschieden legte er einem immer die Hand auf die Schulter. Das tat so gut. Einfach nur eine Hand auf der Schulter und ein Handschlag.
Was will ich damit sagen? Oft sind es die kleinen Gesten, die jemand, der in einem psychischen Tunnel steckt, helfen. Nicht die großen Worte, Predigten oder Bibelsprüche. Wobei ich glaube, dass die Bibel eine unglaublich heilende Wirkung haben kann. Vielleicht sogar noch mehr, wenn man sie selbst liest oder wenn ein naher Angehöriger einem daraus vorliest, wenn man selbst nicht mehr lesen kann.
Man kann durchaus noch Buchstaben aneinanderreihen – das kann ich ziemlich lange – aber die Frage ist: Lässt man es auf sich wirken?
Last not least werden psychische Erkrankungen oft mit Sünde in Verbindung gebracht. Es wird gesagt: „Du hast das schon lange, also musst du irgendwie einen sündhaften Lebensstil gehabt haben. Du hast zu viel gearbeitet, hast nicht auf die Mahnungen gehört.“ Ich spreche hier bewusst nicht von großen Sünden, wie „Du hast zehn Frauen verführt“, sondern von Bereichen wie Beruf, Dienst oder Einsatz für Jesus. Man hat es übertrieben, sich zu stark getrieben.
Das stimmt oft, aber die Frage ist: Wer hat die Kompetenz, so etwas zu sagen? Wer ist berechtigt dazu? Ich glaube, da sollte man sich zurückhalten.
Ich vergleiche das gern mit körperlichen Krankheiten. Stellen wir uns vor, man würde so etwas einem Krebskranken sagen: „Bei dir muss Sünde vorliegen, du bist selbst schuld an deiner Krebserkrankung.“ Wie unbarmherzig wäre das! Oder man meidet den Krebskranken, redet nicht mehr mit ihm, wechselt die Straßenseite. In manchen Gemeinden habe ich erlebt, dass niemand mit mir gesprochen hat.
Ich verstehe, was man denkt: „Was willst du dazu sagen, der hat doch einen an der Klatsche?“ Aber stellen wir uns vor, man würde das mit einem körperlich Kranken machen. Oder zu einem Krebskranken sagen: „Ah, du bist bestimmt okkult belastet.“ Das kann natürlich sein, ich schließe es nicht aus.
Wenn wir das parallel sehen – körperliche und psychische Erkrankungen –, merken wir, wie unterschiedlich die Reaktionen oft sind. Oder wenn ein Krebskranker Zeitungsartikel, Bibelsprüche, Bücher und Nahrungsergänzungsmittel bekommt, dann ist das ähnlich wie bei psychisch Kranken. Ich weiß das aus der Seelsorge. Aber wir merken, dass hier etwas aus dem Ruder läuft.
Bin ich psychisch krank oder befinde ich mich in einer psychischen beziehungsweise spirituellen Krise? Was als normal gilt, also noch im Rahmen einer psychischen Krise liegt, unterscheide ich hier klar von einer Erkrankung. Bei einer Erkrankung stellt ein Arzt eine Diagnose. Diese Diagnose kann man nachlesen, und auf ihrer Grundlage folgt dann eine Therapie. Das macht aber ein Arzt, kein Seelsorger.
Ein Seelsorger kann eine Vermutung äußern, zum Beispiel über eine Depression. Doch das Erste, was er tut, ist, den Betroffenen zum Hausarzt zu schicken. Dort soll ein körperlicher Check gemacht werden. Ist alles körperlich in Ordnung oder liegt zum Beispiel eine Schilddrüsenerkrankung vor, die eine Depression verursacht, muss diese Schilddrüsenerkrankung behandelt werden.
Anschließend stellt entweder der Hausarzt oder, noch besser, ein Psychiater die Diagnose: „Nein, der Betroffene ist wirklich depressiv“, mit einer mittelschweren oder schweren Depression.
Jeder von uns kennt depressive Phasen oder Niedergeschlagenheit. Das ist noch keine depressive Erkrankung. Ebenso ist es normal, wenn jemand mal melancholisch ist oder euphorisch, oder wenn jemand emotional übers Ziel hinausschießt. Das macht ihn noch lange nicht manisch. Manie ist eine Form der Depression, die sich in Übersprungsreaktionen äußert.
Es gibt einfach psychische und spirituelle Krisen, die wir erleben, und dabei kann Seelsorge sehr gut helfen. Doch das Normale ist schwer definierbar – eigentlich gar nicht. Was ist schon die Norm? Was ist Norm bei einer psychischen Erkrankung oder eben nicht?
Es gibt eine interessante Definition, die ich hier weitergebe: Wenn der Betroffene nicht darunter leidet, ist er auch nicht krank. Wenn er also nicht leidet, ist er nicht krank. Diese Definition ist wackelig, und ich muss immer wieder darüber nachdenken. Aber ein Stück weit stimmt sie.
Ich darf komisch sein und bin noch lange nicht krank. Wenn ich extrem von der Norm abweiche, bin ich noch lange nicht psychisch krank. Hier muss man wirklich vorsichtig sein.
Wenn aber jemand leidet oder sein Umfeld massiv darunter leidet, zum Beispiel Angehörige, dann sollte man darüber nachdenken. Nicht jeder, der von der Norm abweicht, ist auch psychisch krank.
Es gibt psychische Irritationen – so habe ich das mal genannt – wie zum Beispiel Trauer nach dem Verlust eines Menschen oder eine spirituelle Krise. Das kann auch überschwänglicher Glaube sein. Wenn jemand enthusiastisch glaubt, lasse ich das zu. Er ist noch lange nicht psychisch krank, wenn er herumhüpft.
Oder Zweifel am Glaubenssystem: Wenn jemand in tiefe Zweifel verfällt, alles in Frage stellt, die Glaubenssätze, die er bisher reproduziert hat und die in seiner Gemeinde gültig sind, dann ist er noch lange nicht besessen oder psychisch krank. Es kann einfach sein, dass er gerade völlig durcheinander ist in seiner Gottesbeziehung. Dann muss man ihm helfen.
Wichtig ist, dass der Betroffene, also derjenige, der die Glaubenskrise oder psychische Irritation hat, diese in den allermeisten Fällen reflektieren kann. Er kann sagen: „Ich habe jetzt ein Lied gehört, das mich so nah zu Jesus gebracht hat, dass ich wie ein junges Kalb durch mein Zimmer hüpfe.“ Das kann er reflektieren.
Oder jemand mit einer Glaubenskrise kann das ebenfalls reflektieren. Diese Zustände sind meist nur vorübergehend und beeinflussen den Alltag nur zeitweise.
Das ist bei psychisch Kranken anders. Ein psychisch Kranker kann das unter Umständen gar nicht reflektieren. Er weiß oft nicht, wie krank er ist. Manchmal wissen das nur die Angehörigen.
Meine Frau hat mir im Nachhinein erzählt, wie sie das wahrgenommen hat, ebenso meine Kinder. Sie waren damals bei meiner ersten Depression im Teenageralter dabei. Ich selbst habe nur wahrgenommen, dass ich müde war, von niemandem etwas wissen wollte und immer wie in einem dunklen Dunstloch war. Ich hätte nie gesagt, dass ich meine Familie belaste. Doch es war gravierend, wie meine Frau mir später berichtete.
Was sind die Kriterien einer psychischen Erkrankung? Es gibt natürlich verschiedene Raster und unterschiedliche Diagnoseschemata. Ich habe mich für das von Stolz-Ingen-Latz entschieden. Dieses umfasst, glaube ich, drei Kriterien, die man berücksichtigen kann.
Das erste Kriterium ist, dass der psychische Zustand oft – aber nicht immer – mit einem subjektiven Leidensdruck einhergeht. Zum Beispiel ist das bei einem manisch-euphorischen Zustand etwas anders. Der Mensch leidet also in der Regel. Ein manisch-depressiver Patient, der auf dem Dach herumtanzt, leidet im Moment vielleicht nicht. Aber die Menschen unten leiden unsäglich, weil er jeden Augenblick abstürzen könnte. Er selbst hat keinen Leidensdruck, erzeugt aber massiven Leidensdruck bei anderen. Somit liegt doch Leidensdruck vor, weil er so gefährlich am Rande des Todes herumtanzt. Der Leidensdruck ist also ein sehr wichtiger Indikator für eine psychische Erkrankung.
Das zweite Kriterium betrifft die Beeinträchtigung der normalen Alltagsbewältigung. Das objektiv normale Funktionieren und damit die Teilhabe an der Gesellschaft sind beeinträchtigt. Ich erinnere mich daran, dass ich zwei bis drei Stunden gebraucht habe, um meine Autoreifen zu wechseln. Das Problem war nicht, dass ich die Werkzeuge nicht hatte oder es noch nie gemacht hatte. Sondern immer wenn Leute vorbeigingen – sei es im Haus, auf der Straße oder beim Spaziergang – habe ich mich zurückgezogen. Das passierte an diesem Tag relativ häufig. Deshalb dauerte es so lange.
Oder ich bin in eine größere Versammlung des Christusbundes gegangen. Als ich hineinging, hat sich alles komplett gedreht. Ich war wie in einem Trancezustand, habe niemanden wahrgenommen. Es war, als wäre ich in ein Horrorkabinett eingetreten. Zum Glück hat das damals jemand bemerkt, Heiko Grimmer, und mich zur Seite genommen. Das war eines der besten seelsorgerlichen Gespräche, die ich je erlebt habe, weil er sich Zeit für mich genommen hat.
Man kann also nicht mehr am Alltag teilnehmen. Man kann unter Umständen nicht mehr aus dem Haus gehen, nicht mehr mit Menschen in Kontakt treten. Dinge, die zum christlichen Alltag gehören, wie Bibellesen oder Beten, sind nicht mehr möglich. Das hat nichts mit einer Glaubenskrise zu tun, sondern ist ein Symptom der Erkrankung – so wie ein Blinder vermutlich auch keine gedruckte Bibel mehr lesen kann.
Das dritte Kriterium lautet, dass Erkrankte oft nicht mehr verstanden werden, selbst wenn man sich sehr bemüht. Man kommt mit ihnen ins Gespräch, möchte ihren Zustand oder ihre Erkrankung begreifen und verstehen. Doch oft kann man ihnen nicht einmal folgen, weil sie wirr und durcheinander reden, sich alles überschlägt oder sie unterschiedliche Dinge erzählen. Vielleicht berichten sie sogar von Dingen, die sie gesehen haben, oder von Stimmen, die sie hören. Dann sagt man sich: Ich verstehe dich nicht, ich kann mit dir nichts mehr anfangen.
Wenn jemand so eine Erfahrung zum ersten Mal macht, ist es verständlich, dass er den Kontakt meidet. Die Gedanken- und Vorstellungswelten der Betroffenen sind oft nicht mehr durch Einfühlung zu erfassen. Es kann sein, dass liebe und einfühlsame Geschwister sich aufopfern, indem sie Karten schreiben oder sich anderweitig kümmern. Doch als Erkrankter reagiert man manchmal barsch oder abweisend. Man dankt nicht oder meldet sich nicht. Das führt zu bösen Rückmeldungen: „Du bist ein unmöglicher Mensch, wir wollen uns um dich kümmern, und du meldest dich nicht.“ Genau das ist dieser Punkt.
Das vierte und letzte Kriterium – es waren doch nur drei, das ist ein Schreibfehler – ist, dass die Patienten meist felsenfest von ihrer eigenen Deutung ihres Zustands überzeugt sind. Wer Stimmen hört, sagt: „Ich höre diese Stimmen doch.“ Wenn man ihm sagt, dass er sie nicht hört, ist man aus seiner Sicht falsch. Ich habe mit psychisch Kranken zu tun gehabt, die mir ins Gesicht gesagt haben: „Ich bin absolut gesund, der Kranke bist du, weil du mich nicht verstehst. Ich rede klar, aber du bist zu blöd, um mich zu verstehen.“
Das führt im christlichen Kontext natürlich zu manchen Irritationen. Zum Beispiel, wenn der Erkrankte eine Sicht der Bibel hat, die man als hanebüchen empfindet. Es steht so einfach nicht in der Bibel, das sieht doch jeder, der den Wortlaut kennt. Doch der Erkrankte bringt eine Deutung vor, die extrem abstrus ist. Man versucht, sie zu verteidigen und ihn zu überzeugen, es doch so zu verstehen. Doch er kann es nicht. Er sieht die Dinge durch eine andere Brille mit einem anderen Verständnis.
Der Betroffene kann sich nicht mehr von außen sehen oder reflektieren. Er nimmt sich nicht mehr wahr, sondern bezieht alles auf die eigene Person. Er ist der Mittelpunkt. Er sieht sich als den Gesunden oder als den Leidenden, um den sich alle kümmern sollen. Es gibt ganz unterschiedliche Varianten.
Zu psychischen Erkrankungen – und ich weiß ganz ehrlich nicht genau, wie ich das sagen soll – hatte ich eine gewisse Vorbildung. Natürlich hatte ich davor schon Vorträge über Seelsorge gehalten. Ich besaß also eine gewisse Kenntnis und auch Selbstreflexion darüber, was mit mir los ist.
Als mein Arzt zu mir sagte: „Sie sind depressiv, Sie müssen krankgeschrieben werden“, antwortete ich: „Höchstens 14 Tage.“ Er war ein wenig gekränkt, stellte mich aber trotzdem für 14 Tage krank. Danach kam ich zu einer Versammlung des Christusbundes, den Brütertagen für die Insider. Mein Arzt wusste, dass ich daran teilnehmen würde und dass sich bei mir alles drehen würde, dass ich absolut zusammenbrechen würde.
Und genau das ist passiert.
Trotzdem habe ich das immer noch nicht eingesehen. Als Heiko Grimmer zu mir sagte: „Ich nehme dich jetzt ein Vierteljahr aus dem Job“, antwortete ich im Originalton, da ich ein sehr gutes und langjähriges Verhältnis zu ihm hatte: „Heiko, du spinnst, du hast keine Ahnung, was ich für Arbeit habe.“ Genau das ist es: diese mangelnde Einsicht.
Das macht es manchmal auch schwer. Du sagst vielleicht etwas, weil du Seelsorger bist oder in der Gemeinde eine verantwortliche Position hast und dich wirklich um den offensichtlich psychisch Angeschlagenen bemühen willst. Doch dieser sagt dir: „Ich weiß nicht, wovon du redest, mir geht es gut, mir geht es immer gut.“
Diese Krankheitsuneinsichtigkeit und die Unfähigkeit zum Perspektivwechsel, also sich selbst zu reflektieren, fehlen häufig. Das sind drei Kriterien, die relativ eingängig sind. Vielleicht kann man sie nicht sofort nach einem Vortrag auswendig lernen, aber ich glaube, es ist wichtig, die Grundprinzipien zu verstehen.
Deshalb bringe ich auch diese Beispiele aus meinem Leben. Nicht, weil ich damit angeben will oder um aufzutrumpfen – das soll auf keinen Fall falsch verstanden werden.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage – und das ist ein großes Thema innerhalb der christlichen Gemeinschaft: Darf ein Christ zum Psychiater gehen? Und wie ist das, wenn der Psychiater auch noch Tabletten verschreibt? Tabletten, die einen ja total... unfähig machen zu denken, die einen in eine Richtung „beamen“, in der man nicht mehr normal denken kann, wo man nur noch schläfrig ist und taub im Sessel sitzt.
„Ja, keine Medikamente! Und Psychiater, ganz schlimm!“ Das ist ja oft das Bild: Der Psychiater ist derjenige, der einen in die „Glapse“ schickt. Apropos „Glapse“: Niemals in eine Klinik, denn dort betäuben sie dich nur, und dann kommst du nie mehr raus. Das ist tatsächlich das historische Langzeitgedächtnis, das wir haben. Früher war das tatsächlich so, dass man die Leute dort eingewiesen hat, und sie sind dann für lange Zeit geblieben.
Und wie findet man den richtigen Psychotherapeuten? Das muss ja mindestens ein dreimal so guter Christ sein, wie ich es bin. Denn nur ein guter Christ kann mich ja therapieren. Das gilt ja auch für einen Krankengymnasten. Der Krankengymnast muss ja auch gläubig sein, sonst nützt die Krankengymnastik nichts, oder? Hier merken wir schon, dass da etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Zunächst einmal muss ich das erklären: Oben haben wir den Normalzustand. Wenn jemand hundert Prozent normal ist – was auch immer das genau bedeutet – und dieser Mensch hat Lebensprobleme, dann glaube ich, dass Seelsorge helfen kann.
Psychiater und Psychotherapeuten sagen übrigens, dass sie sehr darunter leiden, überlaufen zu sein. Wer einmal einen Termin braucht, wartet momentan oft dreiviertel Jahr bis zu einem Jahr. Man stelle sich vor, dieser Mensch ist suizidgefährdet – der überlebt das nicht. Die Psychiater sagen, sie sind so voll, weil zum Beispiel Seelsorger nicht mehr ihre Aufgabe machen oder weil die Leute sofort zum Psychiater oder Psychotherapeuten gehen, aber nicht zum Seelsorger.
In vielen Fällen kann der Seelsorger bei Lebensfragen helfen, bei Anpassungsschwierigkeiten oder wenn jemand in Trauer ist, die vielleicht vier Wochen zu lange dauert. Auch bei einer sogenannten Erschöpfungsdepression kann der Seelsorger bis zu einem gewissen Punkt helfen. Es gibt dafür ein Diagnosetool, und bei diesem Tool kann der Seelsorger noch relativ gut unterstützen.
Wir sollten auch überlegen, ob es nicht gut wäre, einen Seelsorger zu haben – nicht erst, wenn Lebensprobleme oder Anpassungsstörungen auftauchen, sondern als eine ganz normale Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die einen kennen und begleiten können. Vielleicht begleite ich sogar jemanden im Sinne einer Zweierschaft. So etwas ist einfach eine wunderbare Sache, wenn man das hat.
Ihr seht also hier unten wieder den Seelsorger. Wenn jemand aber 20 Prozent von der Normalität abweicht – und das ist eine Angabe aus einem Fachbuch, die natürlich mit Vorsicht zu genießen ist – dann sinkt die Kompetenz des Seelsorgers gravierend ab. Denn dann geht es in den wirklichen Krankheitsbereich, in dem man Fachkenntnisse braucht, zum Beispiel psychotherapeutische oder psychiatrische. Der Seelsorger begleitet dann noch, aber er therapiert nicht. Das ist eine wichtige Unterscheidung.
Ein Seelsorger begleitet übrigens länger als der Psychotherapeut und länger als der Psychiater. Beim Psychologen sieht das etwas anders aus. Psychologen sind sozusagen an die Stelle der Seelsorge getreten und arbeiten ähnlich. Was sie aber nicht haben, ist eine Antwort auf die Frage, wenn jemand mit Schuld kommt.
Keiner der psychologischen Berufe – weder Psychiater, noch Psychotherapeuten, noch Psychologen – hat eine Antwort auf die Frage: „Wohin mit meiner Schuld?“ Das sagen sie auch offen, selbst Professoren. Sie sagen ganz eindeutig: „Ich kann dir vielleicht sagen, du hast dir die Schuld nur eingeredet oder deine religiöse Gemeinschaft hat dir das eingeredet, oder du hast einen Schuldkomplex.“ Aber wenn du wirklich sagst: „Nein, ich weiß sicher, ich habe Schuld – wohin damit?“ – dann können sie dir nicht helfen. Das können Seelsorger.
Und wenn ein Psychiater oder Psychotherapeut helfen kann, dann tut er das auf der Basis seines eigenen religiösen Systems, was eigentlich nicht vorgesehen ist.
Der Seelsorger bietet eine Langzeitbegleitung – das ist der Vorteil der Seelsorge. Beim Psychologen ist das ähnlich, aber die Langzeitbegleitung hat irgendwann ein finanzielles Ende, denn das wird teuer.
Seelsorge ist übrigens eine Frage, bei der wir oft denken, dass sie nichts kostet, weil uns die Kosten jeden Monat vom Lohnzettel abgezogen werden. Ob wir Hilfe in Anspruch nehmen oder nicht, zahlen wir mit – Ausnahmen gibt es vielleicht, wenn man Freigriffe hat oder so. Aber dass Seelsorge nichts kostet, ist ein Irrtum. Der Seelsorger muss sich genauso Zeit nehmen, er muss auch sein Brot kaufen, tanken, Gas und Strom bezahlen.
Deshalb kostet Seelsorge in vielen Fällen etwas. Daran müssen wir uns gewöhnen, auch weil es weniger Seelsorger geben wird. Ich bin der Meinung, Seelsorge und Seelsorger sollten vor allem über die Gemeinde finanziert werden. Das heißt, die Gemeinde stellt einen Seelsorger an – oder wie auch immer – und Seelsorge ist dann für diejenigen, die sowieso in Not sind, kostenlos.
Eine Sitzung bei einem Psychologen kostet dagegen günstigstenfalls 80 Euro, kann aber auch 150 bis 200 Euro pro Stunde kosten.
Psychotherapie kann sehr stark helfen, wenn es noch nicht so eskaliert ist, also wenn es noch nicht so pathologisch ist, dass es zum Beispiel eine stationäre Behandlung erfordert. Psychotherapie kann relativ früh beginnen, aber nicht jeder braucht eine Psychotherapie. Die Psychotherapieplätze sollten wirklich denjenigen vorbehalten sein, die psychisch krank oder zumindest schwer angeschlagen sind.
Es gibt aber einen Punkt, an dem auch Psychotherapie nicht mehr hilft – dann braucht es unbedingt einen Psychiater.
Was ist der Unterschied? Ein Psychologe hat Psychologie studiert, darf aber keine Medikamente verschreiben. Hat er eine psychotherapeutische Zusatzausbildung, darf er auch Psychotherapie machen. Psychologen arbeiten oft in der Werbung, in Betrieben, wo sie Abläufe optimieren, oder in Schulen als Schulpsychologen. Das sind nicht per se Leute, die sich um Kranke kümmern. Mit einer Zusatzausbildung können sie das, ohne diese Zusatzausbildung nicht.
Psychotherapeuten sind anders. Ein Psychologe kann auch Psychotherapeut sein. Die meisten Psychiater sind auch Psychotherapeuten, brauchen aber ebenfalls eine Zusatzausbildung.
Ein Psychiater hat Medizin studiert und darf Medikamente verschreiben. Ein Psychotherapeut darf keine Medikamente verschreiben, aber mit der Zusatzausbildung therapieren. Das ist manchmal verwirrend.
Oft sagt jemand: „Ich gehe zu meinem Psychologen, und er meint dann zum Psychotherapeuten.“ Oder in Gemeinden gibt es oft den Irrtum: „Du gehst in die Psychotherapie, aber nimm bloß nicht die Medikamente, die du dort bekommst!“ Dabei bekommt in der Psychotherapie niemand Medikamente, das dürfen sie gar nicht.
Hier müssen wir also klarer abgrenzen.
Was an dieser Grafik wirklich beeindruckt, ist, wie stark Seelsorge helfen kann. Ich glaube, jeder Christ kann Basisseelsorge machen – also die Seelsorge vom „Gartenzahn“, im Hauskreis, nach dem Gottesdienst oder einfach, wenn jemand sagt: „Komm mal bei mir vorbei, wir trinken zusammen Kaffee und reden über das Leben, über Gott und die Welt, über Probleme, die man hat, über die Ehe, über die Kinder und so weiter.“ Das ist Basisseelsorge, und dafür braucht man keine Ausbildung.
Ich frage mich sowieso, ob es wirklich eine Seelsorgeausbildung gibt. Aber das darf ich gar nicht so in Frage stellen, weil ich ja selbst in der Seelsorgeausbildung am BSK mitarbeite.
Apropos BSK: Wir haben am BSK Seelsorgekurse. Die helfen, eine strukturierte Seelsorge innerhalb der Gemeinde zu machen. Dort bekommt man solche Grundlagen vermittelt, wie ich sie hier ansatzweise dargestellt habe.
Es gibt ein Grund-Basisseminar Seelsorge, dann ein Seminar Psychologie und Seelsorge. Dieses Seminar hält derjenige, der das Standardwerk in dieser Frage in Deutschland geschrieben hat, Dr. Rolf Sohns. Seine Promotion ist über Psychologie und Seelsorge, und sie wird überall zitiert.
Dann gibt es noch Seelsorgekurse. Ich selbst mache das etwas dilettantisch im Praxisseminar Seelsorge, wo ich aus meiner Seelsorgepraxis plaudere. So schlimm ist das auch nicht. Ich klappere die unterschiedlichen Bereiche der Seelsorgepraxis ab, berichte von meinen Erfahrungen und bringe viele Fallbeispiele.
Außerdem gibt es ein Seminar, das „Fallbeispiele“ heißt. Dort werden Fälle, vor allem aus der Seelsorge, aber auch aus dem praktisch-theologischen Bereich behandelt und diskutiert. Es wird um Lösungen gerungen und Tools entwickelt, wie man solche seelsorgerlichen Probleme oder Fälle begleiten und vielleicht lösen kann.
So etwas ist durchaus eine Hilfe. Man weiß dann ein bisschen, was eine Depression ist, wo die eigenen Grenzen sind und wann man weitervermitteln muss.
Ich würde das dringend empfehlen.
Seelsorge kann so viel helfen und begleiten. Vor allem haben wir den besten Arzt an Bord. Ich gehe nie in die Seelsorge ohne Jesus. Auch wenn ich nicht explizit sage: „Herr Jesus, jetzt musst du bei mir sein“, ist er doch da. Wenn ich es nicht sage, ist er trotzdem da und hilft mir.
Das merkt man in der Seelsorge. Man spürt, wie er einem Gedanken gibt, wie er einem Antworten gibt – es ist unglaublich.
Manchmal sind das, unter uns gesagt, fast charismatische Erlebnisse. Ich sehe manchmal, wenn jemand in die Seelsorge kommt, schon bevor er einen Satz gesagt hat, was sein Problem ist. Das hilft mir, und ich kann schon einordnen, was auf mich zukommt.
Der Smalltalk am Anfang ist dann gut, und ich erschrecke nicht, wenn er wirklich sein Problem sagt, weil ich es ja schon ahne.
Aber das sind nicht die großen Probleme. Manchmal denke ich, dass es einfach nur Intuition ist, wahrscheinlich eine Mischung aus verschiedenen Dingen.
Man macht tolle Erfahrungen in der Seelsorge – sowohl als derjenige, der in die Seelsorge geht, als auch als derjenige, der Seelsorge anbietet.
Die Frage „Bin ich psychisch krank?“ habe ich mal anhand von drei Fragen aufgelistet. Diese Fragen stimmen teilweise mit dem vorherigen Schema überein, sind aber nicht vollständig.
Bist du plötzlich ganz anders als zuvor, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gibt? Findest du dich plötzlich in einer Depression wieder, ohne zu wissen, wie das geschehen ist? Hast du plötzlich Panikattacken, obwohl du sagst, dass du eigentlich keine Angst hast? Hörst du auf einmal Stimmen und fragst dich: „Woher kommen die jetzt? Ich kann doch nicht so blöd sein, ich bin doch bei Verstand, aber ich höre Stimmen.“ Es gibt oft Gründe für solche Symptome, aber diese sind häufig nicht sofort erkennbar.
Eine Erschöpfungsdepression kann sich zum Beispiel auf ungewöhnliche Weise zeigen. Ich gehe jetzt mal vom Mann aus, um es drastisch zu verdeutlichen: Eine Erschöpfungsdepression kann sich darin äußern, dass der Mann fremdgeht. Man denkt dann: „Huch, das ist ja schlimm.“ Die Ursache ist vielleicht sekundär Lustbefriedigung oder Abenteuerlust. Doch der Hauptgrund ist, dass er sich in einer Phase der Erschöpfungsdepression befindet, in der er einen ethischen Kontrollverlust hat.
Trotzdem stellt sich die Schuldfrage. Deshalb war mir das so wichtig. Die Schuldfrage blockiert oft auch die Betrachtung des eigentlichen Problems. Wir müssen sie thematisieren, aber sie ist nicht die allererste Frage.
Oder jemand vernachlässigt seine Familie – ein typisches Anzeichen einer Erschöpfungsdepression. Er geht nicht mehr in die Gemeinde. Das muss nicht immer so sein, denn es ist natürlich viel komplexer. Aber ich gehe jetzt in Gedanken dieses Schema durch. Und der Betroffene merkt es oft gar nicht. Er sagt: „Das ist doch normal, ich lebe halt jetzt mein Leben aus.“
Zweitens: Ist es aufgrund deines Leidens in mehreren Bereichen deines Lebens zu Problemen gekommen? Hast du keine Zeit mehr für deine Familie? Schaffst du es nicht mehr, zeitig aufzustehen? Ich selbst bin kein Frühaufsteher, ganz ehrlich. Aber ich habe auch einen Job, bei dem man bis halb zehn oder noch länger arbeitet. Da stehe ich morgens nicht um sechs auf. Das liegt daran, dass ich zu viel Adrenalin in den Adern habe.
Aber wenn du feststellst, dass du in verschiedenen Bereichen deines Lebens Probleme hast – nicht nur in einem –, dann ist das ein Warnsignal. Wenn morgens dein Auto nicht anspringt, bist du nicht gleich psychisch krank. Das liegt wahrscheinlich an der Batterie oder einem anderen technischen Problem. Aber wenn du beruflich, familiär und in anderen Bereichen Schwierigkeiten hast, ist das ein anderes Bild. Ich werde euch gleich ein Beispiel geben.
Drittens: Wie sehr hält dich dein Leben davon ab, für dich selbst zu sorgen und das zu tun, was du gerne tun würdest, um glücklich zu sein? Bei einer Erschöpfungsdepression ist zum Beispiel ein Kennzeichen – das klingt jetzt vielleicht etwas trivial und despektierlich –, dass du keine Zeit mehr hast, auf die Toilette zu gehen. Du kommst abends nach Hause und denkst: „Jetzt muss ich aber trinken“, weil du den ganzen Tag keine Zeit dazu hattest. Oder du vergisst das Essen oder die Körperpflege. Oder du kommst tagelang nicht mehr nach draußen, weil du keine Zeit hast, auch nur einen Spaziergang zu machen.
Das sind manchmal Dinge, bei denen man sich selbst vernachlässigt. Und genau dieses: „Mein Leiden hält mich davon ab, für mich zu sorgen“, gilt auch für das Bibellesen. Es muss nicht unbedingt ein Indikator für eine beginnende psychische Erkrankung sein, wenn ich meine stille Zeit nicht mehr einhalte. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Aber für mich ist es ein Warnsignal, und man braucht diese Zeit.
Ich mache das mal deutlich an einer psychischen, aber auch körperlichen Erkrankung. Manfred Lütz beschreibt in seinem Buch die sogenannte 3F-Diagnose. Diese ist relativ leicht zu stellen, wenn jemand alkoholkrank ist – also wirklich erkrankt, nicht wenn jemand einmal im Monat ein Gläschen Wein trinkt.
Man kann solchen Menschen manchmal sagen: „Du hast Probleme in der Familie, bei der Arbeit gibt es Schwierigkeiten, und hast du noch den Führerschein?“ Und bei allem sagt er: „Oh, woher weißt du das?“ Die 3F-Diagnose ist die klassische Diagnose für eine Alkoholerkrankung.
Bitte vermutet nicht bei jedem, der den Führerschein nicht mehr hat, automatisch Alkoholismus. Aber dieses Beispiel soll uns zeigen, wie so etwas funktionieren kann.
Was kann zu psychischen Problemen führen? Ich fasse mich hier kurz, da ich noch einen anderen Punkt ansprechen möchte und die Zeit plötzlich sehr schnell vergeht.
Zunächst ist es wichtig zu verstehen, dass psychische Probleme nicht unbedingt etwas sind, was der Erkrankte willentlich verursacht. Natürlich kann es sein, dass jemand willentlich dazu beiträgt, aber das ist nicht die Regel.
Ein wesentlicher Faktor ist die Anlage, die ein Mensch mitbringt. Jeder hat ein bestimmtes Temperament und bestimmte Erbanlagen sowie eine individuelle Hirnbiochemie. Der eine schüttet schneller Adrenalin und Cortisol aus als der andere. Es gibt auch körperliche Gebrechen, die zu psychischen Erkrankungen führen können. Anlagebedingte Faktoren spielen also eine große Rolle.
Dann kommt die Umwelt ins Spiel, zum Beispiel die Kindheit. Früher habe ich oft gesagt: „Irgendwann ist die Hebamme nicht mehr schuld.“ Das stimmt zwar, aber es ist erstaunlich, wie viel die Kindheitsprägung ausmacht. Das zeigt die große Verantwortung, die wir haben, uns um Kinder zu kümmern und ihnen ein geschütztes Umfeld zu bieten. Das ist enorm wichtig.
Ich habe von Menschen gehört, die mir erzählten, wie schlimm das war, was sie als Kinder erlebt haben. Und das war keine Ausnahme in der damaligen Zeit. Die Langzeitfolgen der beiden Weltkriege zeigen sich deutlich: Die Kinder der Kriegskinder – also die Enkel der Kriegsteilnehmer – haben teilweise noch schwere psychische Probleme, obwohl sie selbst nie Krieg erlebt haben.
Kindheit und Familie können also sehr belastend sein. Belastende Ereignisse, schwere Umstände und natürlich auch Stress spielen eine Rolle. Ein ungesunder Lebensstil gehört ebenfalls dazu. Stress kann vieles sein: ein großer Schicksalsschlag, eine Ehescheidung – all das verursacht Stress.
Aus christlicher Sicht, also aus unserem biblischen Verständnis, gibt es auch das, was die Bibel unter Trübsal beschreibt. Wenn das Leben trübe wird, wenn schwere Ereignisse eintreten und man keinen Ausweg mehr sieht, wenn Anfechtungen im Glauben, Lasten und Versuchungen das Leben belasten, dann bewegen wir uns auch im Bereich der Angriffe von Satan, des Feindes Gottes.
Dann gibt es die sogenannte Reaktion auf all das: Wie reagiere ich auf meine Anlage und auf meine Umwelt? Jeder verarbeitet das anders. Wie nehme ich das gefühlsmäßig wahr? Wie verarbeite ich es kognitiv? Was will ich? Habe ich den Willen, dagegen anzukämpfen?
Manche Menschen können hervorragend gegen Stress ankämpfen, andere nicht. Wie handle ich? Bin ich trotz allem handlungsfähig? Der eine läuft unter Stress zur Höchstleistung auf und kann handeln ohne Ende.
Ich erinnere mich an ein Seminar über Burnout und Erschöpfungsdepression, das ich zusammen mit Martin Daum gehalten habe. Weiß jemand, wer Martin Daum ist? Er ist der Chef von Daimler Trucks, also der Vorstandsvorsitzende dieser neuen AG.
Ich werde nicht vergessen, dass er sagte, wenn es in seiner Firma, damals noch Daimler, extrem stressig ist – insbesondere im Lkw-Bereich –, führt das bei ihm zu Höchstleistungen. Ich hingegen bin genau der andere Typ.
Ich fand es sehr interessant, dass zwei so gegensätzliche Typen zusammen dieses Seminar gemacht haben. Jeder verarbeitet Stress eben anders.
All diese Faktoren und diese Komplexität führen letztlich zu psychischen Problemen.
Psychisch krank – was nun?
Was passiert, wenn ich psychisch krank bin oder wenn ich jemanden in der Gemeinde habe, der psychisch krank ist? Bei jedem psychisch Kranken kommt, glaube ich, irgendwann die Frage auf: Bin ich selbst schuld? Habe ich etwas falsch gemacht? Warum komme ich da nicht mehr heraus? Diese Fragen sind schwer zu beantworten.
Schlimm wird es, wenn diese Fragen auch von außen verstärkt werden. Stattdessen sollte man Wege finden, um dem Betroffenen zu sagen: Du hast eine Krankheit, ähnlich wie eine Krebserkrankung. Depression ist tatsächlich vergleichbar damit.
Die Scham vor sich selbst und anderen ist groß. Ich konnte plötzlich nicht mehr mit Menschen reden – damals, als ich noch Pastor war. Dann kommen Existenzängste auf. Wird das jemals wieder anders? Es entsteht Scham. Du kommst in eine Gemeinde, kannst nicht mehr kommunizieren und rennst davon. Das Stigma ist groß: Ist das jetzt lebenslang mein Schicksal? Komme ich jemals wieder raus?
Oder der Arztbesuch: Das ist ein Bereich, mit dem wir alle nicht so vertraut sind. Wenn ich wegen eines Schnupfens zum Arzt gehe – dem typischen „Männerschnupfen“ – weiß ich ungefähr, was er mir rät und verschreibt. Meist muss ich die Medikamente selbst bezahlen, zum Beispiel Sprays. Dann weiß ich, was mit mir los ist.
Wenn ich aber wegen eines psychischen Problems zum Arzt gehe, weiß ich nicht einmal, ob er mich kritisch oder freundlich anschaut. Wie soll ich seine Einschätzung verstehen? Er macht Untersuchungen, stellt Fragen – was macht er mit mir? Ich weiß es nicht. Das alles geht in einem Menschen vor. Viele meiden deshalb den Arzt – das verstehe ich.
Als Christen sollten wir sie nicht darin bestärken, sondern ermutigen. Unter Umständen können wir sie sogar in die Arztpraxis begleiten. Wir sollten aber nicht versuchen, mit in die Sprechstunde zu gehen. Wenn der Arzt das nicht möchte, sollte man das respektieren.
Dann die Medikamente: Das ist etwas ganz Schlimmes in christlichen Kreisen. Es entsetzt mich immer wieder, wie Mitchristen einem psychisch Kranken, der medikamentös behandelt wird, raten: „Setz das sofort ab, das schadet deinem Glauben und dir.“ Und dann setzen Betroffene die Medikamente ab – das darf man niemals tun! Psychopharmaka darf nur ein Arzt absetzen, und niemals von jetzt auf gleich.
Wenn sie die Medikamente absetzen und vier Tage später Suizid begehen, wer trägt dann die Schuld? Derjenige, der sich aufgehängt hat? Meine Ethik ist da anders. So dramatisch ist vieles nicht, aber ich höre solche Geschichten oft.
Im christlichen Bereich haben wir über Medikamente nichts zu sagen – außer wir sind Ärzte. Alle anderen sollten sich da raushalten. Auch bei Nahrungsergänzungsmitteln ist Vorsicht geboten. Manche nehmen sie und glauben, dadurch von ihrer psychischen Krankheit geheilt zu werden. Das passiert manchmal durch den Placeboeffekt. Doch oft entstehen dadurch noch größere Probleme.
Dann gibt es dieses Gefühl, in der Gemeinde ein drittklassiger Christ zu sein. Ich gehe mit Menschen, die psychisch krank sind, eigentlich ganz normal um. Ich sage: „Ich bin auch einer, herzlich willkommen im Klub.“ Ich weiß, dass das schwer ist, aber wir sollten es schaffen, uns zumindest näher aneinander heranzutasten.
Auch im Beruf gibt es Ängste: Man fürchtet, auf das Abstellgleis zu geraten, einen Karriereknick zu erleiden oder aus dem System herauszufallen.
Die Familie wird oft stigmatisiert. „Dein Papa ist immer noch psychisch krank. Dein Papa hat immer noch Depressionen. Hört dein Papa immer noch Stimmen?“ Was sagt da der Neunjährige? Oder: „Dein Papa ist Alkoholiker, gell?“
Bonhoeffer bringt das Beispiel eines Jungen, der vor der Klasse gefragt wird: „Ist dein Papa Alkoholiker?“ Der Junge antwortet: „Nein, sein Papa ist aber Alkoholiker.“ Bonhoeffer fragt, wer schuld daran sei, und kommt zu dem Ergebnis: Der Lehrer, weil die Frage die Sünde war, nicht die Antwort. Das ist etwas Interessantes.
Und dann gibt es die Vorstellung, dass psychische Krankheiten unheilbar seien. Ich weiß, dass meine chronischen Depressionen wahrscheinlich unheilbar sind. Ich lebe mit ihnen und bin sogar glücklich damit.
Gut, ich bin medikamentiert, aber ich kenne meine Grenzen – darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Jesus und die Kranken
Es ist ganz interessant, dass Jesus nicht zwischen körperlich und psychisch Kranken unterscheidet. Manche sagen oft, bei psychischen Erkrankungen handele es sich um Besessenheit. Das möchte ich jetzt nicht vertiefen. Aber Jesus nimmt die Not eines Menschen einfach an, ohne zu differenzieren. Er hilft in der Not und aus der Not heraus.
Dabei stellt er auch keine Fragen wie „Bist du selbst schuld?“ oder Ähnliches. Er hilft ohne solche Vorwürfe. Bei manchen sagt er: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Das kann eine unglaubliche Erleichterung sein. Doch er tut dies ohne Vorwürfe oder eine unsensible Haltung. Das hat mich immer wieder erstaunt und auch näher zu Jesus gebracht, glaube ich.
Er ruft die Mühseligen und Beladenen zu sich. Er sagt nicht: „Du hast bei mir nichts zu suchen.“ Das tut er nicht einmal in diesem deutlichen Maß gegenüber den „Normalen“. Jesus sagt: „Die Kranken brauchen den Arzt, nicht die Gesunden.“ Dabei bezieht er sich auf sich selbst.
Jesus kann Schwache gebrauchen. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, sagt unser Herr zu Paulus in 2. Korinther 12. Diese Worte sind eine große Ermutigung. Sie machen einen sehr glücklich, wenn man sich in einer solchen Situation befindet – mit Begrenztheiten, Schwäche, Krankheit oder wenn man mühselig und beladen ist.
Das sind großartige Verheißungen, gerade für Menschen, die Schwäche haben und sich belastet fühlen.
Was sind das für Verheißungen? Toll! Das ist vielleicht noch wichtig zu den Verheißungen.
Ich glaube, es ist wichtig, dass der Erkrankte sich selbst entdeckt – also eine Hilfe zum Entdecken dieser Verheißungen.
Ich konnte das während oder auch nach meiner ersten großen Depression erleben. Ich hatte ja noch eine zweite, so einen richtigen Knaller. Damals konnte ich keine Bibel mehr lesen. Die Bibel sagte mir nichts mehr.
Aber ich habe mir eines vorgenommen: Ich wusste, dass Bibellesen gut für mich ist. Deshalb habe ich mir Bibellesen verordnet, so wie Übungen aus der Krankengymnastik. Ich habe gesagt: Es interessiert mich gar nicht, was da steht. Ich weiß, dass Bibellesen gut für mich ist. Also reihe ich einfach zehn oder fünfzehn Minuten lang Wörter aneinander.
Ich wollte Gott die Chance geben, zu mir zu reden. Ich glaubte zwar nicht, dass er redet, aber ich wollte ihm wenigstens die Chance geben. So habe ich zehn Minuten lang Wörter aus der Bibel aneinandergereiht.
Oft hat es mir überhaupt nichts gesagt. Ich habe auch nicht theologisch analysiert oder irgendetwas dergleichen. Ich habe einfach gelesen und gedacht: Bibellesen hilft mir.
Ich wusste auch, dass Beten gut ist. Aber ich konnte nicht mehr beten. Deshalb habe ich mir vorgenommen, es auf einen Minimalsatz zu reduzieren. Ich sagte einfach: "Herr, ich habe keine Lust" oder "Herr, ich kann nicht beten, Amen." Das wollte ich ihm wenigstens sagen: "Lass mich in Ruhe, Amen."
Ja, das verkraftet Gott, glaube ich, da bin ich mir sicher.
Irgendwann hast du gemerkt, dass er doch zu dir redet. Dir fällt eine Verheißung wirklich ins Herz. Er nutzt es, um dich anzusprechen – aber nicht automatisch im Sinne davon, dass er dir jedes Mal einen wichtigen Kernsatz zeigt oder einen neuen geistlichen Gedanken gibt. So billig ist Gott nicht.
Aber er hilft. Bibellesen ist gut, und Beten auch.
Wohin bei psychischen Erkrankungen? Das habe ich auf einer anderen Folie bereits deutlich gemacht. Hier kann man es noch einmal sagen.
Bei schweren Leiden wie Schizophrenie, endogenen Depressionen – also Depressionen, die von innen kommen – sowie bei psychotischen oder früher sogenannten exogenen Depressionen und hirnorganischen Störungen sollte man besonders vorsichtig sein. Wenn zum Beispiel jemand fantasiert und plötzlich eine Wesensveränderung zeigt, ist Vorsicht geboten.
Letzte Woche bin ich mit so einem Fall konfrontiert worden. Eine Frau zeigte eine deutliche Wesensveränderung. Der Rat war, unbedingt ins Krankenhaus zu gehen und ein MRT machen zu lassen. Das war der erste Schritt. Man dachte, es handele sich um eine psychische Erkrankung. Doch was war es tatsächlich? Ein Hirntumor, der auf ein bestimmtes Zentrum gedrückt hatte und dadurch die Wesensveränderung verursachte. Nach vier Tagen Cortisonbehandlung war das alte Wesen wieder da. Die Behandlung ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber solche Fälle können vorkommen.
Ich habe schon öfter erlebt, dass ein organisches Leiden zugrunde liegt und durch entsprechende Maßnahmen beseitigt werden kann – zum Beispiel bei einer Wesensveränderung.
Bei leichteren Leiden wie Ängsten, Zweifeln, Minderwertigkeitsgefühlen, Lebensproblemen, Eheschwierigkeiten oder auch Problemen im Bereich der Sexualität, etwa Pornografie und Ähnlichem, kann die Seelsorge deutlich helfen. Es gibt jedoch Schnittstellen, die beachtet werden müssen.
Ich bin immer dafür, dass es idealerweise sowohl einen Psychiater oder Psychotherapeuten als auch einen Seelsorger gibt. Deshalb haben wir als Gemeinde und als Christen eine sehr wichtige Funktion.
Ich weiß nicht, ob diese Zahl stimmt, deshalb nenne ich keine genaue Zahl: Ein großer, erschreckender Teil der Kinder, die zur Schule gehen, hatten oder haben eine psychische Erkrankung – nicht nur eine psychische Störung, sondern eine Erkrankung.
Wer kümmert sich um diese armen Kinder? Das ist wirklich brutal. Die Klassen sind völlig überfüllt, die Lehrer sind komplett überfordert – das ist furchtbar.
Diese Kinder könnten in der Gemeinde aufgefangen werden. Dort könnten sie eine Heimat finden, Ersatzoma und -opa, Ersatzmama und -papa bekommen, wenn sie diese nicht mehr haben.
Doch wir sind oft beschäftigt mit den Aktionen, die wir in der Gemeinde machen. Ich sage das zynisch.
Ein paar Kernsätze
Ich habe das Aufklicken nicht wegbekommen. Ich weiß nicht, woran es liegt. Ehrlich gesagt habe ich mich auch nicht allzu sehr bemüht, weil ich dachte: Dann ist es halt so.
Das, was geschrieben steht, ist mir aber ganz wichtig: Gott ist verliebt in Schwache. Und das einmal einem psychisch Kranken vielleicht auch mal zuzusprechen – ohne die Bibelstelle –, Gott ist verliebt in Schwache. Vielleicht auch mit dieser Bibelstelle: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Aber das atmet das ganze Evangelium, das Verliebtsein Gottes in Schwache.
Ich habe mir das oft gesagt, wenn ich dachte: So einen wie mich kann Gott doch nicht mehr lieb haben. Das kommt auch in einer psychischen Erkrankung vor, diese Gedanken: Gott kann mich doch nicht lieb haben. Doch! Gerade wenn du denkst, Gott kann mich nicht lieb haben, hat er dich am meisten lieb. Gottes Kraft wirkt in und durch Schwache.
Ich bin nichts mehr wert, weil ich nicht mehr so viel leisten kann wie meine anderen Pastorenkollegen, weil ich Dinge absagen muss, weil ich nicht mehr seelsorgerlich helfen kann, weil ich nicht mehr die Bibel lesen kann. Mich kann Gott doch nicht mehr gebrauchen! Doch! Gott baut sein Reich mit Schwachen, mit Versagern. Guck dir mal die Bibel an: Das sind doch lauter Chaoten und Versager, von Adam angefangen und seiner Eva.
Also Gottes Kraft wirkt in und durch Schwache. Deshalb ist da jemand, der eine psychische Erkrankung hat, eine psychische Einschränkung, der vielleicht chronisch psychisch krank ist. Er kann bei Gott eingesetzt werden – vielleicht nicht in irgendeiner weltlichen Sache. Wobei ich manchmal denke, das sind die Erfolgreichen, die haben am meisten eine oder die Glatze. Aber das nehme ich sofort wieder natürlich zurück.
Bei Gott ist das anders. Gott wirkt und handelt durch Schwache. Jesus gibt psychisch Kranken auch den anderen natürlich, aber wir haben ja dieses Thema: Gott gibt psychisch Kranken Ruhe für die Seele. So steht es drin in Matthäus 11,28-30, diese berühmte Stelle mit dem Heilandsruf. Das müssten wir öfter sagen: Jesus gibt psychisch Kranken Ruhe für die Seele.
Und zwar nicht, indem sie viel religiöse Leistung bringen, indem sie möglichst viel Bibel lesen, möglichst viel beten oder möglichst viel glauben. Der Schrei eines psychisch Kranken: „Herr, ich kann jetzt nicht beten, Amen“ kann für Gott wichtiger sein als das lange Gebet in einer Gebetsgemeinschaft. Das kann große, beruhigende Wirkung auf einen Kranken haben. Ich habe das erlebt in meinem seltsamen Beten und Bibellesen.
Ehrlich gesagt habe ich nicht so schnell eine Stelle gefunden. Vielleicht fällt euch eine ein, dann übernehme ich sie gern schnell und gern. So dieser Satz: „Meide Richter, suche den, der es wieder richtet.“ Richter kommen oft in christlichen Gemeinden vor – Leute, die ein schnelles Urteil raushauen. Ich gehöre vielleicht sogar partiell dazu.
Ich lerne das mit der Zeit: Erst mal hören, noch mal hören, dann noch mal hören. Dann nach Hause gehen und denken: Da muss ich etwas sagen dem Kranken. Oder habe ich ihm schon kolossal geholfen, indem ich zugehört habe? Vielleicht ein x-tes Mal seine Krankheitsgeschichte angehört habe.
Das kann unglaublich nervtötend und kräftezehrend sein, die endlosen Krankheitsgeschichten nicht nur von psychisch Kranken anzuhören. Aber es tut dem psychisch Kranken so gut. Und da höre ich gern mal das zehnte Mal eine Krankheitsgeschichte. Ich sehe, wie er danach leuchtet und vielleicht mal wieder ein Lächeln auf dem Gesicht hat oder keine Stimme mehr hört – ich weiß es nicht.
Aber: Meide Richter, suche den, der es widerrichtet. Ich kann das nur sagen. Und ich glaube, da müssen wir auch vielleicht noch deutlicher ein Jesusbild bekommen, das sich um die Schwachen und um die Verzweifelten, um die Ausgestoßenen und um die Kranken kümmert. Das hängt mit dem Jesusbild zusammen.
Wir haben oft so ein forderndes Jesusbild. Wenn du an die Grenze kommst, wenn du nichts mehr tun kannst, wie zum Beispiel in einer schweren Depression, dann merkst du auf einmal: Wenn das nicht ein Jesus wäre, bei dem diese Leistung keine Rolle spielt und der es richtet, wenn du ganz unten bist und der dich nicht richtet – das kann so etwas von, ich würde sagen, schön sein in diesem Leiden.
Und der Schrei, den wir in Markus 9 lesen: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Ja, das kann sein, dass man von einem psychisch Kranken tatsächlich hört: „Ich kann nicht mehr glauben.“ Ich höre dann immer den Schrei mit: „Hilf meinem Unglauben“, auch wenn er ihn nicht gesagt hat. Ich habe mir das angewöhnt.
Wenn zu mir einer kommt, der sagt: „Ich kann nicht mehr glauben“, oder auch dem du anmischt, der zwar sagt: „Ich glaube“, aber der damit Schwierigkeiten hat, ich höre es mit „Hilf meinem Unglauben“ und weiß, dass Jesus dann aktiv wird.
Jesus wird nicht nur aktiv, wenn wir sagen: „Ich habe Glauben wie ein Senfkorn und ich sehe schon, wie die Bäume sich versetzen“, sondern er handelt auch, wenn wir sagen: „Ich kann nicht glauben, hilf meinem Unglauben“ oder „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“.
„Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ Wer ist der Kranke? Auch! Aber das ist etwas, wo ich sage: Gibt es eigentlich so etwas wie eine Fürhoffnung? Es gibt eine Fürbitte, aber gibt es nicht auch eine Fürhoffnung oder ein Fürgeduldigsein oder ein Fürbeharrlichbeten?
Der Kranke kann es oft nicht mehr. Aber wir haben doch die Gemeinde, wir haben doch unsere Geschwister. Was für ein wertvolles Kapital haben wir! Ich weiß, die beten für mich. Ich weiß das bis zum heutigen Tag. Ich kann Namen nennen, vor allem von älteren Geschwistern, die jeden Tag für mich beten.
Ich hatte nicht wenige Tage, auch heute nicht, an denen ich mich total gesund fühle. Also ja, ein bisschen Long Covid, aber das ist nicht so schlimm. Ich weiß um Leute, die jeden Tag für mich beten. Und wenn ich nicht beten kann, dann weiß ich, sie beten.
Das entschuldigt mich nicht, dass ich sage: „Okay, sie beten ja genug für mich, warum muss ich da Gott auch noch belasten mit meinem Gebet?“ Nein, so herum nicht. Aber wenn ich in der Tiefe sitze und nicht mehr beten kann oder auch wenn ich mal in dem ganzen Stress – auch des frommen Stresses – vergesse zu beten, dann beten Leute für mich.
Zu welchen gehörst du? Zu denen, die kontinuierlich für andere Leute beten, die beharrlich beten? Gehörst du zu denen? Gehörst du zu denen, die für andere hoffen? Vor wem hoffst du momentan? Und vor wem bist du fröhlich? Vielleicht indem es der gar nicht so sieht, aber indem du nicht in das Gejammer einstimmst, das andere tun, und indem du eine fröhliche Ausstrahlung hast und vielleicht auch mal etwas Fröhliches tust, etwas Fröhliches bringst.
Ich könnte ja da Geschichten erzählen, wie Leute mir ein Lächeln abgerungen haben und ein Fröhlichsein. Mir kommt da jetzt das Lächeln, wenn ich an die Situation denke.
Jetzt muss ich auch wieder einmal ganz praktisch werden. Die Fragen sind: Darf und soll ich Psychopharmaka nehmen? Die Antwort lautet ganz einfach: Wenn es der Arzt sagt, dann ja. Er wird es wissen. Natürlich kann es vorkommen, dass er sich verschätzt, überdosiert oder unterdosiert. Das passiert in jedem Beruf.
Darf ich also Psychopharmaka nehmen? Ja, wenn der Arzt es empfiehlt. Ich sage dir weder das eine noch das andere.
Verliere ich in der Psychotherapie den Glauben? Nein, denn der Glaube hängt nicht von Psychotherapeuten ab. Der Glaube hängt an Jesus Christus und an seinem Geist. Wir dürfen Psychotherapeuten nicht zu hoch bewerten.
Es gibt immer noch Ewiggestrige, also Therapeuten, die den Glauben schlechtmachen. Aber es wurde bereits viel in psychologischen und psychotherapeutischen Fachzeitschriften veröffentlicht, die betonen, dass man den Glauben unbedingt einbeziehen muss. Und zwar jeden Glauben.
Wenn ein Psychotherapeut merkt, dass er Buddhist ist, dann muss er diesen Glauben in seinem System lassen. Er sollte nach Mechanismen suchen, wie er sein Glaubenssystem für die Psychotherapie fruchtbar machen kann – genauso wie Christen das tun.
Ich hatte eine nichtgläubige Psychotherapeutin, die mich auf einen Stuhl setzte. Hinter mir stellte sie ein Holzkreuz auf und sagte: „Jetzt wissen Sie, was Ihr Rückhalt ist – das Kreuz.“ Ich saß da und rang nach Luft vor Berührtsein. Sie war irgendetwas mit Anthroposophie, glaube ich, aber sicherlich keine Christin. Trotzdem hat sie in meinem System geholfen – und zwar gewaltig.
Es kann trotzdem hilfreich sein, einen Psychotherapeuten zu haben, der Christ ist. Nicht einen „christlichen Psychotherapeuten“, sondern einen Psychotherapeuten, der Christ ist. Hoffentlich praktiziert auch ein Schreiner, der Christ ist, anders als ein Schreiner, der nicht Christ ist. Ist das so? Hoffentlich.
Wie finde ich den richtigen Therapeuten? Dabei sollten Seelsorger behilflich sein beziehungsweise ein Beratungsführer, der mir eine große Hilfe war. Erfahrene Seelsorger haben meistens Kontakt zu Christen, die Therapeuten sind.
Wem soll ich von meiner Erkrankung erzählen? Boah, schwierig, wirklich schwierig. So wenig wie möglich und so viel wie nötig. Aber was ist nötig?
Nötig sind Menschen, die ein Stück weit jene Charakterzüge besitzen, die ich in diesem Vortrag versucht habe zu beschreiben. Menschen, die nicht mit der Gabe der Geschwätzigkeit ausgestattet sind, sondern eher mit der Gabe des Gebets und des Tröstens.
Ich glaube, eine der wichtigsten Gaben ist die Fähigkeit zuzuhören und schweigen zu können. Das scheint mir hier das Richtige zu sein. Sie sollten auch nicht mit der Gabe – oder besser gesagt der Ungabe – ausgestattet sein, ständig Ratschläge zu geben. Das kann sehr schädlich sein.
Jetzt habe ich meine Folie verloren. Woher bekomme ich einen Seelsorger? Das ist eine ganz schwierige Frage. Es gibt momentan viel zu wenige Seelsorger. Wie sage ich das ehrlich? Die Lage ist dramatisch, und sie wird noch dramatischer. Das sehen wir schon jetzt.
Ich sage euch etwas ganz Offenes: Das wird unter anderem dramatisch, weil wir die Seelsorge professionalisiert haben. Man muss erst eine Seelsorgeausbildung machen, bevor man Seelsorger sein darf. So ein Unfug! Wir haben doch den Geist Gottes, das Wort Gottes und auch ein bisschen normalen Menschenverstand.
Ein weiterer Grund ist, dass es zu wenige Menschen gibt, die sich für eine kompetente, strukturierte und qualifizierte Seelsorge ausbilden lassen.
Ich habe vorhin gesagt, dass es unter Umständen gar nicht so viel braucht. Ich würde sagen, die Seminare, die das BSK anbietet – dort gibt es auch Mentoring und Jüngerschaft. Schaut euch das Programm mal an! Die Seminare, die das BSK anbietet, sind hervorragend geeignet. Ausnahme vielleicht mein Seminar, aber die anderen sind es definitiv.
Also besucht diese Seminare einfach mal. Dann merkt man, dass man Mut bekommt, Seelsorge zu machen. Wir brauchen sie dringend. Wir können nicht mehr allein auf Pfarrer und Pastoren vertrauen, denn solche wird es in zehn Jahren nicht mehr geben.
Wie gehe ich mit gut gemeinten Ratschlägen um? Zurückschlagen – nein, aber etwas Ähnliches. Wenn mir jemand Schläge geben will, schlage ich in der Zwischenzeit nicht mehr zurück. In den meisten Fällen ziehe ich den Kürzeren und ergreife die Flucht. Genauso verfahre ich auch bei solchen Ratschlägen.
Gibt mir jemand einen Zeitungsartikel über irgendein Nahrungsergänzungsmittel, bedanke ich mich höflich. Zu Hause habe ich schließlich einen Ofen. So einfach ist das.
Soll ich mich nach Jakobus 5, um das Gebet über mir kümmern? Was dort steht, kannst du selbst beurteilen. Wenn du das Bedürfnis hast, dich segnen oder beten zu lassen, dann tue das bitte ohne Scham oder Angst. Verstecke dich nicht hinter einer Mauer und warte nicht darauf, dass die Ältesten kommen. Wenn du den Eindruck hast, dass die Ältesten über dich beten sollten, dann rufe sie herbei.
Habe keine Angst, auch wenn du nicht das Gefühl hast, dass deine Krankheit lebensbedrohlich ist, so wie bei der „letzten Ölung“. Rufe die Ältesten zu dir und lass über dich beten. Erwarte nicht unbedingt, dass du dadurch gesund wirst, aber vielleicht wird es dir besser gehen. Vielleicht lernst du sogar die positiven Seiten einer psychischen Erkrankung kennen.
Diese Aussage darf wahrscheinlich nur jemand treffen, der selbst Erfahrung damit hat. Ich überspringe hier einige Details. Hinten habe ich euch ein Blatt hingelegt, das von Samuel Pfeifer stammt. Er hat es unter dem Motto „Hoffnungen eines Psychiaters und Christen für seine Patienten“ verfasst.
Die Hälfte des Textes beschreibt die Hoffnung aus medizinischer Sicht, zum Beispiel: Es gibt heute so viele gute Medikamente für psychische Erkrankungen. In keiner anderen Disziplin ist man so weit vorangekommen wie in der Psychiatrie.
Der andere Teil beschreibt die Hoffnung aus christlicher Sicht, die er hat. Ich finde, es ist ein sehr hilfreiches Papier für Christen. Ich habe 25 Exemplare kopiert. Ich schlage vor, pro Ehepaar ein Exemplar zu nehmen – dann wird es sicherlich reichen. Ihr könnt es auch noch kopieren oder fotografieren.
Ich schließe mit einem Bild, das entweder vom gleichen Künstler stammt oder auch nicht. Was sagt mir dieses Bild? Es zeigt wieder diese Fratze aus Edvard Munchs Bild „Der Schrei“. Auf der einen Seite ist es sehr dunkel, und das Dunkle reicht sogar in das Rote hinein. Auf der anderen Seite ist es hell.
Das Helle kommt aus den Augen dessen, der einen hellen Kopf hat und den angstvollen, psychisch Kranken sieht. Das macht ihn hell – allein das Wissen, dass er mich sieht. Es ist, als ob diese Person mit dem weißen Kopf und dem roten Körper das Blut Jesu symbolisiert. So hat es der Künstler gemeint.
Wir sehen auch die Hände. Sie bilden ein Kreuz mit dem Körper und dieser Zuwendung. Der Leib dieses Christus umfasst die dunkle Seite und empfängt das angstvolle Gesicht. Es ist, als ob er in einer unglaublichen Geborgenheit liegt. Obwohl um ihn herum noch das Chaos herrscht – Spritzer, Tränen, Farben, die keinen Spaß machen –, strahlt dieser Christus mit seinem hellen, erhellenden Blick.
Seine Arme bilden das Kreuz, und mit seinem ganzen Leid umfasst und birgt er den Leidtragenden, wie in einer Gebärmutter, die Geborgenheit gibt – auch in dieser schwierigen Zeit des Menschen, der ich bin, weil ich es gemalt habe.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit. Ich habe zwei Minuten überzogen. Gerne dürfen Sie mir noch Fragen stellen, aber ich verabschiede mich von denen, die zugehört und zugesehen haben – im Internet, auf YouTube.
Ihr dürft eines nicht vergessen, und jetzt sage ich es echt mal mit Nachdruck: Wir wollen heute Abend die Tausend bei den Abonnenten knacken. Ihr, die ihr dabei wart auf YouTube, helft uns, dass wir die Tausend knacken! Das war mein persönliches Ziel heute Abend. Ihr macht mich glücklich.
Aber ihr dürft natürlich auch gerne am BSK vorbeikommen. Wir freuen uns auch über Spenden, die gemacht werden. Unten seht ihr die Kontonummer des BSK. Das BSK lebt von Spenden und von den Studienbeiträgen, aber wir haben das wirklich nötig. Und ich glaube, ganz neutral gesagt, es lohnt sich, diese Arbeit zu unterstützen.
Was uns noch viel mehr am Herzen liegt: Schickt Leute ans BSK, entweder um eine Vollzeitausbildung zu machen oder um eine Ausbildung für ehrenamtliche Mitarbeit in der Gemeinde. Mein Wunsch ist natürlich vor allem Seelsorger. Mein Wunsch ist auch Prediger, mein Wunsch ist auch Gemeindebauer – ich habe so viele Wünsche. All das kann man am BSK lernen.
Herzlich willkommen! Ich freue mich auf ein Wiedersehen am BSK, entweder zu Abendvorträgen oder zu einem der Seminare. Hinten liegen Prospekte aus. Und ihr, die in eurem Raum seid, nehmt sie mit. Auch ihr, die ihr auf YouTube seid, findet unten einen Link. Einfach draufklicken, und ihr habt die gleichen Prospekte und Informationen im Internet.
In diesem Sinne: Auf Wiedersehen an alle, die am Monitor sind. Ihr könnt noch Fragen stellen, wenn ihr das wollt.