Ich möchte euch am Anfang erst einmal etwas erklären. Herzlich willkommen an alle Gäste! Jetzt muss ich etwas sagen, worauf die Gäste vielleicht denken: Schön, dass er das sagt, aber das geht uns eigentlich nichts an. Stimmt, aber trotzdem.
Und zwar: Das hier ist ein Bibelleseplan. Wer ein bisschen bei den Beschlüssen mitgekommen ist, die wir in den letzten Monaten getroffen haben, der weiß, dass wir im nächsten Jahr gemeinsam ein Stück Bibel lesen wollen.
Die Idee dahinter ist: Jeder kann für sich lesen, das ist ganz toll. Aber es ist genauso schön, wenn wir gemeinsam lesen. Deswegen haben wir uns für die Monate Januar bis Juli im nächsten Jahr überlegt, einen Bibelleseplan herauszubringen.
Wer uns ein bisschen kennt, weiß, dass wir das dann immer bunt und schick gestalten. Also ich finde es bunt und schick. Insofern, das ist unser Bibelleseplan.
Wenn das funktioniert, was wir vorhaben, werden wir das im Jahr danach wieder machen, und im Jahr danach wieder. Wenn wir das sechs Mal im Jahr danach wiederholt haben, sind wir einmal durch die Bibel durch.
Das ist das langfristige Ziel. Wenn es nichts taugt, werden wir im Juli sagen: War eine tolle Idee, aber tut uns auch irgendwie leid, hat nichts getaugt.
Gemeinsames Bibellesen als Gemeindeprojekt
Was ist das Besondere daran? Man kann natürlich einen beliebigen Bibelleseplan nehmen und sagen: „Danach lese ich die Bibel.“
Das Besondere ist, dass wir in dieser Zeit gemeinsam lesen. Es ist tatsächlich so viel, dass ihr es selbst dann noch schafft, wenn ihr es unter der Woche nicht schafft. Wenn ihr zum Beispiel am Sonntag eine halbe Stunde nehmt, kommt ihr noch durch. An dem jeweiligen Sonntag wird es dann eine Predigt über den Text der Vorwoche geben, den wir gelesen haben.
Das heißt, ihr seid absolut im Vorteil, wenn ihr mitgelesen habt. Denn ihr wisst schon, worum es geht, und ihr versteht die Zusammenhänge besser. Manchmal seid ihr sogar doppelt im Vorteil: Bevor ihr lest, gibt es eine Predigt, einen Einstieg oder einen Hinweis. So könnt ihr mit ganz anderen Augen lesen.
Das ist eine Idee, die wir nächstes Jahr versuchen umzusetzen. Ich habe noch ein paar mehr Ideen. Ihr könnt sie gerne ausprobieren, und ich kann euch immer wieder einen neuen Bibelleseplan geben. Neues ist überhaupt kein Problem, aber ich wollte, dass ihr das schon mal wisst.
Schön daran ist auch unser Jahresmotto für 2009, das ihr auf der Rückseite findet. Damit ihr es nicht überlest, ist es fett gedruckt. Bei den Bibelstellen muss ich zugeben, dass das für Leute ohne Brille wie mich schwierig ist. Wenn ich meine Brille abnehme, bin ich verloren. Aber beim Motto ist das irgendwie noch machbar.
Das Motto für 2009 lautet: „Füreinander dankbar sein.“
Lustigerweise ist das Motto für 2008 etwas untergegangen. Vor kurzem fragte ich jemanden: „Weißt du eigentlich, was unser Motto für 2008 war?“ Und die Antwort war: „Liebe, oder?“ Ich dachte, schade, aber das war es nicht.
Ich gebe zu, dass wir uns sieben oder acht Predigten zum Thema Liebe gegeben haben. Das Motto ist hier drauf verewigt. Wer die Predigten noch haben möchte, kann sie sich dort hinten einfach mitnehmen.
Diese Reihe war so prägend in 2008, dass man heute, wenn man fragt, was das Motto war, sagt: „Liebe, logisch, was sonst?“ Nein, es war nicht so.
Es spielt auch keine Rolle, was es sonst war, denn Liebe ist gut.
Die Herausforderung des Mottos für 2009
Der Punkt ist: Ich habe ein bisschen nachgedacht. Was könnte für 2009 stehen? Wo stehen wir in unserer gemeindlichen Entwicklung? Und welches Thema könnte für 2009 so wichtig sein, dass man sagt: „Da möchte ich jetzt gerne weiterkommen, ein Stück weit“?
Da kam ich auf einen Bibelvers, der mich schon lange umtreibt und den ihr hier unter dem Motto stehen habt. Heute braucht ihr fast keine Bibel, es reicht, wenn ihr euren Bibelleseplan 2009 habt. Ich lese euch den Vers mal vor, und zwar aus dem Kolosserbrief, Kapitel 1, die Verse 3 und 4. Da heißt es:
„Wir danken Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, allezeit, wenn wir für euch beten, da wir von eurem Glauben an Christus Jesus gehört haben und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt.“
Paulus dankt für Christen, die er, soweit wir wissen, nie gesehen hat. Und das ist etwas, was mich persönlich sehr beeindruckt. Das finde ich toll. Ich stehe da vor diesem Vers und denke mir: Wow, das ist echt eine Herausforderung.
Ich dachte mir, wenn man so ein Motto aufstellt und einfach mal sagt, das möchte ich im nächsten Jahr betonen, dann muss man wahrscheinlich auch mal eine Predigt dazu halten. Eine Predigt darüber, was denn alles dazugehört und welche Voraussetzungen nötig sind, damit wir füreinander dankbar sein können.
Wenn Paulus für Leute dankt, die er nicht kennt, dann ist es ja ganz naheliegend, dass wir, die wir uns kennen, anfangen, füreinander dankbar zu werden. Es geht also um Voraussetzungen fürs Dankbarwerden.
Als ich darüber nachdachte, kam mir der Gedanke: Wir brauchen keinerlei Voraussetzungen, um uns zu streiten oder einander ein bisschen nicht zu mögen. Oder um übereinander zu seufzen. Das geht immer ganz von alleine.
Je nach Temperament ist das mehr oder weniger stark ausgeprägt. Aber der ganz normale Wahnsinn des Lebens und des Miteinanderlebens reicht völlig aus, um genügend Punkte zu schaffen, über die wir stolpern können. Punkte, die dazu führen, dass wir uns nicht so mögen, wie Gott das eigentlich möchte.
Da ist Platz für Vorurteile, für Missverständnisse, für Abneigung, für Neid, für Unterstellungen – für das gesamte Repertoire. Da muss man einfach nur leben.
So richtig böse sein kann irgendwie jeder. Die Kunst ist, gut zu sein. Die Kunst ist, anders zu leben. Die Kunst ist, Liebe zu leben.
Was macht Christsein aus?
Als ich darüber nachdachte, wurde mir wieder ganz neu bewusst, was wir auch in dieser Predigtreihe thematisiert haben. Wenn ihr euch noch erinnert: Wir haben uns die Frage gestellt, was es eigentlich heißt, Christ zu sein. Ist ein Christ jemand, der gute Taten tut? Die Antwort muss natürlich lauten: Ja, auf der einen Seite schon. Ein Christ soll gute Taten tun.
Wenn wir jedoch in die Geschichte schauen und uns die blutige Spur von Kreuzzügen, Inquisition und Hexenverbrennungen ansehen, dann muss man nüchtern feststellen: Diese Menschen nannten sich zwar Christen, aber wirklich christlich waren sie eigentlich nicht. Man darf also die Frage stellen: Sind das Christen? Ist Christsein nicht etwas ganz anderes?
Diese Frage hat mich in meinem Leben sehr stark herausgefordert. Ich habe überlegt, wo eigentlich der Kern des Evangeliums steckt, was Christsein wirklich ausmacht und inwiefern gute Taten dazugehören. Der Punkt ist: Ja, ein Christ soll gute Taten tun, aber gute Taten machen einen Menschen nicht zum Christen. Was einen Menschen zum Christen macht, ist etwas anderes.
Ihr merkt, ich lasse das Jahr 2008 ein wenig Revue passieren. Das haben wir uns in vier Predigten im September angeschaut. Es geht dabei um Umkehr zu Gott, darum, dass Menschen vor Gott treten und sagen: „Ja, Gott, du hast Recht. In meinem Leben läuft vieles schief. Ich bin nicht das, was du dir vorstellst. Ich möchte dich kennenlernen, ich möchte umkehren.“
Im Jahr 2008 haben wir auch ein kleines Heftchen herausgebracht. Auf Seite zehn, ihr könnt gerne mitlesen und es auch mitnehmen, gibt es ein Zitat. Nein, es ist nicht auf Seite zehn, sondern auf Seite fünfzehn. Wir haben das Heftchen herausgegeben, weil immer wieder Fragen aufkamen, was Glauben eigentlich bedeutet.
Wenn ich die Frage beantworten will, was Christsein ausmacht, dann steht auf Seite fünfzehn, dort, wo Mark spricht – Mark ist ein fiktiver Prediger, Pastor oder Pfarrer, der sich mit jemandem unterhält – folgendes: Er sagt, er habe mal in einer Predigt gesagt, und jetzt schmunzelt er, weil es so formuliert war: Christsein fängt eigentlich erst da an, wo ich aufhöre, ein guter Mensch sein zu wollen, meine Schuld einsehe und mir Erlösung schenke lassen – gemeint ist die Erlösung von der Schuld meiner Sünde.
Es ist jetzt nicht die Zeit, all das zu wiederholen, was wir in diesen vier Predigten gesagt haben. Ihr könnt sie euch im Internet unter spandau.kassettothek.de anhören. Aber der Punkt ist: Irgendwann im Leben muss ich merken, dass ich eine Beziehung zu Gott brauche. So wie ich unterwegs bin, bin ich vor Gott inkompatibel – denn Gott ist heilig.
Dort, wo jemand das begreift und umkehrt zu Gott, wo er nicht mehr ein guter Mensch sein will, sondern sich seiner eigenen Probleme und Schuld stellt, da beginnt die Beziehung zu Gott erst. Ein echter Christ ist also ein Mensch mit einer echten Beziehung zu Gott – nicht jemand, der krampfhaft versucht, gut zu sein und dabei immer wieder an sich selbst scheitert.
Wenn wir das einmal verstanden haben – und es ist wichtig, dass wir es verstehen, bevor wir uns mit dem Motto beschäftigen –, dann wissen wir: Niemand kann Gott gefallen, der nicht zuerst an Gott glaubt. Aber in dem, der an Gott glaubt, beginnt etwas ganz Neues: Gott selbst wirkt in ihm.
Gott schafft in ihm, dass er sagt: „Ich möchte meinem Vorbild Jesus ähnlicher werden.“ In ihm entsteht eine Sehnsucht nach einem Leben in Heiligkeit, Liebe und Veränderung. Dort, wo ein Mensch zu Gott umkehrt – die Bibel nennt das Buße –, da steckt plötzlich etwas ganz Neues in ihm.
Es ist wie ein Paradigmenwechsel, ein ganz neuer Blick auf die Welt. Man schaut sein Leben mit anderen Augen an und möchte nicht mehr so weiterleben wie vorher. Man möchte all das ablegen, was in einem drinsteckt und andere Menschen verletzt.
Die Zusage der Veränderung durch Gott
Und die gute Nachricht, das Evangelium, bedeutet ja „gute Nachricht“. Die gute Nachricht, die Gläubige den Menschen zu geben haben, ist die, dass dort, wo ein Mensch zu Gott umkehrt, er sich tatsächlich verändern kann. Ein Veränderungsprozess beginnt, weil Gott in sein Leben eintritt.
Im Römerbrief muss das jetzt nicht unbedingt mitschwingen, aber der Apostel Paulus schreibt dort, nachdem er elf Kapitel lang beschreibt, was Gott alles tut, wie Gott sich in den Menschen investiert und was das Evangelium eigentlich bedeutet: Er wechselt im Brief die Perspektive und fragt, was das jetzt für uns bedeutet. Was sind die praktischen Folgerungen aus der Theorie über das Evangelium?
Da schreibt Paulus im Römer 12: „Ich ermahne euch nun, Geschwister, durch die Erbarmungen Gottes.“ Das ist eine wichtige Grundlage, denn Gott liebt uns. Paulus fährt fort: „Ich ermahne euch durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber, euer Leben darzustellen als ein lebendiges, heiliges, gottwohlgefälliges Opfer.“
In Vers 2 heißt es dann: „Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung des Sinnes.“ Hier steckt eine unglaubliche Zusage drin. Ich starte als Christ und darf ein anderer werden.
Heiligung bedeutet: Vom Kotzbrocken zur Mutter Teresa. Versteht ihr das? Ich starte irgendwo, als jemand, mit dem man eigentlich nicht viel anfangen kann. Der eine ist ein bisschen netter, der andere weniger nett. Aber ich starte da irgendwo. Ich werfe den ganzen Schmodder meines Lebens Gott vor die Füße und sage: „So bin ich. Das wusstest du. Du hast mir das Angebot gemacht, meine Sünde bei dir abzulegen. Was machen wir jetzt?“
Und Gott sagt: „Kein Problem.“ Egal, ob du mehr Kotzbrocken oder schon mehr Mutter Teresa bist, das ist egal. Wo du einsteigst, ich habe mit dir etwas vor. Ich möchte, dass du dich veränderst. Ich möchte in dir Veränderung bewirken. Ich möchte, dass du heiliger wirst und sich ganz positiv etwas in deinem Leben verändert.
Zwei Beispiele für Glaubensentwicklung: Kai und Greta
Und ich dachte mir: Weil wir so unterschiedlich sind, wo wir da in diesem Prozess der Heiligung einsteigen, stelle ich euch zwei fiktive Personen vor: Kai und Greta.
Ihr müsst euch vorstellen, ihr hättet jetzt einen Hauskreis mit Kai oder Greta und schaut einfach mal zurück. Beide sind seit, sagen wir mal, den Herzferien dabei. Dort sind sie zum Glauben gekommen.
Schauen wir uns Kai an. Kai ist ein ehemaliger Zuhälter mit einem Hang zu jähzornigen Wutattacken. In dem Vierteljahr, in dem du ihn kennst, schafft er es, seine Pornofilme wegzuschmeißen. Seit zwei Monaten geht er halbwegs regelmäßig arbeiten, um Alimente für seine Kinder zu zahlen.
Einmal während der Kleingruppe wird er so wütend, dass er seinen Glastisch, seinen Lieblingsglastisch, zertrümmert. Es ist ihm danach furchtbar peinlich, aber das Ding ist hin. Das ist Kai. Du kannst mit Kai sicher durch die Straßen Berlins laufen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Aber als Mitglied eines Hauskreises ist es eine echte Herausforderung.
Das ist Kai, ein Bruder im Herrn, den es zu lieben gilt.
Schauen wir uns Greta an. Greta ist Lehrerin, verheiratet und hat zwei Kinder. Die Kinder sind schon älter und aus dem Haus. Wir haben sie kennengelernt, weil sie sich nach einem ehrenamtlichen Engagement sehnte. Sie hat beim Straßenfest mitgemacht, danach ist sie in den offenen Bibelkreis gegangen und hat dort gelesen.
Irgendwann hat sie gesagt: „Klar, das ist doch gut so. Wenn Gott mir das anbietet, werde ich halt Christ.“ Die Veränderung der letzten zwei Monate bei ihr ist, dass sie angefangen hat, für ihre Nachbarn zu beten, damit sie auch in der Bibel lesen.
Füreinander dankbar sein trotz Unterschiedlichkeit
Und jetzt kommen wir zu unserem Motto fürs nächste Jahr: Füreinander dankbar sein. Wir haben jetzt Kai und Greta vor Augen. Ich lese nochmals Kolosser 1, die Verse 3 und 4: „Wir danken Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, allezeit, wenn wir für euch beten, da wir von eurem Glauben an Christus Jesus gehört haben und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt.“
Im Leben dieser erfundenen Christen geschieht etwas. Beide wollen, wie es heißt, weil Gottes Geist in ihnen wohnt, Gott gefallen. Sie beginnen, Liebe zu leben. Kai geht wieder arbeiten und nimmt seine Verantwortung als Vater ernst. Greta lernt in dieser Zeit etwas über die Wichtigkeit des Gebets und wendet es an. Beide machen, wenn man so will, einen Schritt vorwärts. Tatsächlich verändern sich beide im Verlauf eines Vierteljahres.
Beide sind in dieselbe Gemeinde hineingestellt worden. Trotzdem denke ich mir, dass es uns hundertmal leichterfällt, für Greta dankbar zu sein als für Kai. Vielleicht schämen wir uns sogar dafür oder schämen uns zu sehr, dass wir uns wünschen, Kai wäre nicht in unserer Kleingruppe. Vielleicht möchten wir nicht so viel mit ihm zu tun haben.
Das liegt daran, dass wir alle, wenn wir umkehren und zu Gott kommen, aus einem Leben herauskommen, das uns geprägt und auch verbogen hat. Und weil es so unterschiedlich ist, wo wir einsteigen und uns als Gemeinde dann in die Gemeinschaft hineinbewegen, müssen wir uns die Frage stellen: Was ist an Voraussetzungen nötig, um sowohl für Kai als auch für Greta dankbar sein zu können?
Ich möchte euch drei Dinge nennen, die mir für das nächste Jahr wirklich wichtig sind. Es sind drei ganz banale Sachen. Doch sie sind keineswegs banal, wenn es darum geht, miteinander zu leben.
Voraussetzungen für Dankbarkeit in der Gemeinde
Erste Sache: Wir müssen begreifen – nicht neu, aber noch einmal neu verstehen. Ihr kennt das ja: Man weiß etwas, und irgendwann macht es Klick, und dann tut man es. Wir müssen ganz tief drin begreifen, dass Gemeinde eine Gemeinschaft von unfertigen Sündern ist.
Christen sind erlöste Menschen. Jesus hat am Kreuz für ihre Schuld bezahlt, aber sie sind dennoch unfertige Menschen. Es ist nicht so, dass ich zu Gott komme, meine Hände falte und sage: „Vater im Himmel, ich möchte gerne von heute an mit dir leben, bitte nimm meine Schuld“, und Gott sagt dann: „Zack, und jetzt bist du ganz anders.“ Nein, so ist es nicht. Ich stehe nicht auf, habe einen Heiligenschein über dem Kopf und laufe durch die Welt, um allen nur noch liebe Sachen zu sagen. Es ist anders.
Deshalb haben wir im Credo – falls ihr euch erinnert, das Glaubensbekenntnis – das wir mal schriftlich gemacht haben, auch für die Gäste, was wichtig ist, einen Anhang. In diesem Anhang steht folgender Satz, den ich toll finde – vielleicht auch, weil er geklaut ist. Geklaute Sätze sind ja immer gut. Dort heißt es: Wir verstehen die Gemeinde als Seenotrettungsstation mitten im Sturm und nicht als Kuschelclub der Heiligen.
Und jetzt das Zitat von Bonhoeffer: Bonhoeffer schreibt dazu, je eher wir die Erwartung ablegen, dass die Gemeinde perfekt sein muss, damit wir sie lieben können, desto eher werden wir aufhören, so zu tun, als seien wir fehlerlos. Und desto eher können wir zugeben, dass auch wir unvollkommen sind und Gnade brauchen. Das ist der Beginn echter Gemeinschaft.
Echte Gemeinschaft fängt dort an, wo ich begreife, dass ich ein Sünder bin. Wenn ich anfange, mich als einen erlösten Sünder zu verstehen, den Gott begnadigt hat – überlegt euch das mal – und zwar aus Liebe, dann sollte es doch eigentlich nicht so schwer sein, auch jemand anderen zu lieben.
Aber wenn in meinem Herzen der Gedanke schlummert: „Ich bin eigentlich gar nicht so schlimm gewesen.“ Also wenn ich mal so schaue, „Ich bin eigentlich nur so ein halber Sünder gewesen.“ Es gibt keinen halben Sünder, so wenig wie eine halbe Schwangerschaft. Aber der Gedanke kann sich festsetzen.
Wenn ich nicht begreife, wie viel mir vergeben worden ist, wenn ich diesen Gedanken gar nicht an mich heranlasse, dass ich völlig zu Recht einmal ohne die Vergebung vor Gott stehe, und Gott mir sagt: „Entschuldigung, du hast an der Stelle das und das und das gemacht.“ Wir brauchen nur die zehn Gebote. Darüber haben wir auch dieses Jahr gesprochen. Wir müssen sie nur mal vor unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen: Du hast gelogen, du hast geklaut, du warst neidisch, da warst du nicht treu, da hast du dich daneben benommen, und in deinem Herzen gab es einen ganz anderen Gott – was weiß ich – das Geld oder irgendetwas anderes.
Wenn ich das nicht begreife, wer ich vor Gott bin, dann werde ich immer denken: „Na ja, bin doch eigentlich gut.“ Und dann passiert es ganz leicht, dass wir verächtlich mit anderen Christen umgehen, die scheinbar noch nicht so weit sind wie man selbst, die noch viel zu lernen haben, weil man selber ja schon relativ reif ist. Und dann werden wir nicht dankbar.
Das ist ein wichtiger Punkt. Das müssen wir wirklich begreifen. Ich denke, wir werden noch zehn Jahre brauchen, bis wir es richtig begriffen haben. Aber ich werde auch noch gerne ein paarmal darüber predigen. Das ist kein Thema.
Wir sind eine Gemeinschaft von unfertigen Sündern.
Gemeinsames Ziel trotz unterschiedlichem Stand
Zweiter Punkt
Ich muss begreifen, dass wir alle dasselbe Ziel haben, aber auf dem Weg der Veränderung nicht alle gleich weit sind. Wir haben also alle dasselbe Ziel, aber nicht alle sind auf dem gleichen Stand.
Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Sündern, die Veränderung erfahren. Manchmal sind wir wie ein „Kotzbrocken“ – und manchmal wie Mutter Theresa. Irgendwie geht es immer in eine Richtung.
Wir beschäftigen uns mit der Bibel. Ich hoffe, ihr lest viel darin, lasst die Gedanken Gottes an euch heran und lasst euch von ihnen prägen. Heute hatte ich ein sehr schönes Erlebnis: Ich bekam eine E-Mail, bei der ich merkte, dass durch das Wort Gottes etwas passiert ist. Jemand hat gelesen und wurde einfach geprägt. Ich dachte: Wow, das kannst du nicht machen. Du kannst jemanden vielleicht mit Argumenten überzeugen oder über den Tisch ziehen, aber dass jemand in seinem Herzen Überzeugungen gewinnt und sagt: „Hey, ich habe etwas dazugelernt“ – das kommt ganz anders.
Und genau das tun wir: Wir lesen das Wort Gottes, die Bibel, um Gott kennenzulernen, zu verstehen, was seine Ansprüche an unser Leben sind – Vater im Himmel – und dann versuchen wir, das zu leben.
Wir haben alle dieselbe Ausrichtung. Wenn mich jemand fragt: „Wo willst du hin? Wie möchtest du mal werden?“ sage ich: „Haha, ich möchte mal so werden wie Jesus.“ Das ist natürlich ein großes Ziel, also muss ich ein bisschen zurückrudern. Ich möchte erst mal ein Stück lieber werden, vielleicht etwas geduldiger. Und wo ich manchmal niedergeschlagen bin, hätte ich gern einen Tick mehr Freude. Fangen wir einfach mit den normalen Sachen an.
Aber die große Richtung, in die ich gehen will, ist: Ich möchte unbedingt Jesus ähnlicher werden. Wir haben alle dieselbe Ausrichtung, aber wir starten an unterschiedlichen Punkten.
Schauen wir uns noch einmal Kai und Greta an. Klar, Greta ist heiliger als Kai – logisch. Aber das ist nicht ihr Verdienst. Sie hatte Glück, will ich mal sagen: Sie ist in einer intakten Familie aufgewachsen, hat einen lieben Mann geheiratet und wurde, soweit sie weiß, nie von ihm betrogen. Irgendwie hatte sie gute Voraussetzungen.
Kai hatte weniger Glück. Sein Vater war Alkoholiker. Mit vierzehn stand er zum ersten Mal wegen kleinerer Delikte vor Gericht. Er hat die Bibel überhaupt nur gelesen, weil er nach einer Schlägerei im Krankenhaus lag und nichts anderes zu tun hatte. Dort ist ihm eine gläubige Krankenpflegerin begegnet. Sonst wäre er nie darauf gekommen.
Versteht ihr? Greta hat es leichter gehabt. Man denkt: „Super, Greta!“ Kai hingegen startet ganz anders.
Und beide sind in ein und derselben Gemeinde. Beide sind mit uns verbunden durch dasselbe Band. Die Bibel sagt, dieses Band ist Liebe. Liebe ist das Band, das Menschen miteinander verbindet. Die Bibel nennt es das vollkommene Band. Wenn es anders wäre, hätten sie nichts miteinander zu tun.
Stellt euch vor, Kai und Greta sind im selben Hauskreis. Das macht am meisten Spaß, wenn man es sich bildlich vorstellt. Normalerweise würde Greta, wenn sie Kai auf der Straße begegnet, die Seite wechseln. Sie würde sagen: „Das ist mir zu furchtsam“ und auf die andere Straßenseite gehen. Sie würde nichts mit ihm zu tun haben, weil er ihrem Lebenskonzept und ihrer Einstellung widerspricht. Sie findet ihn einfach nur blöd.
Und jetzt sagt Gott: „Ich möchte dich und dich in einem Hauskreis haben.“ Stell dir das mal vor! Gott möchte Veränderung.
Wir starten alle in dieselbe Richtung, aber wir starten ganz unterschiedlich. Und das ist so faszinierend an Gemeinde: füreinander dankbar zu sein. Wir müssen begreifen, dass wir dasselbe Ziel haben, aber auf dem Weg der Veränderung nicht alle gleich weit sind.
Dankbarkeit für Veränderung statt für Ideale
Und der letzte Punkt, der dritte, muss begreifen, dass ich, wenn ich dankbar bin für Menschen in der Gemeinde, für eine Veränderung danke – und nicht für das Erreichen eines Ideals.
Ich danke für die Veränderung, die im Leben von Menschen geschieht, und nicht dafür, dass sie einem Ideal von Christsein entsprechen, das ich vielleicht in meinem Kopf habe. Ja, wenn der Kai so wäre wie die Greta, dann könnte ich auch für ihn danken. Aber so, weißt du, mit seiner jähzornigen Art, diesen Tattoos und diesem aufgemotzten Ami-Schlitten, mit dem er vor der Gemeinde fährt – was soll ich da machen? Wofür soll ich da danken?
In Kolosser 1 steht: „Wir danken allezeit, wenn wir für euch beten, da wir von eurem Glauben an Christus Jesus gehört haben und von der Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt.“ Also die Antwort ist: Wenn du nicht weißt, wofür du danken sollst, dann danke für den Glauben, den du in seinem Leben siehst, und für die Liebe.
Dafür, dass Gott gehorsam ist. Weißt du, so eine Einzimmerwohnung, in der er das Haus zur pornofreien Zone erklärt – das ist für ihn ein Riesenschritt. Morgen so aufzustehen, wenn der Wecker klingelt, zur Arbeit zu gehen, regelmäßig – von dem Geld, das er verdient, wenig bis gar nichts zu haben, weil er seine Alimente zahlen muss – und trotzdem zu sagen: Ich bin Vater und stehe jetzt zu meiner Verantwortung, das ist ein Schritt.
Ja, aber Jürgen, es gibt so viele negative Seiten an Kai. Das stimmt. Kai wird auf Jahre hinaus eine Belastung für die Gemeinde sein. Aber Kai ist die eigentliche Herausforderung an unser Christsein.
Es ist so einfach, die Gretas dieser Welt zu lieben. Es ist so einfach, die zu mögen, die lieb sind, nett, die so viel christliche Sozialisation schon mitbringen, dass sie an meine Liebesfähigkeit keine Herausforderung stellen. Sie bringen schon den Kuchen mit zum Gottesdienst, bevor sie sich überhaupt mit der Bibel beschäftigen. Die sind einfach nur nett, und ihre Freunde sind nett. Null Herausforderung.
Die eigentliche Herausforderung für das Thema Liebe sind nicht die Gretas dieser Welt. Die eigentliche Herausforderung sind die Kais. Und wer zwischen den beiden so einen Unterschied macht und sagt: „Nein, aber Kai entspricht ja noch gar nicht meinem christlichen Ideal“, der hat definitiv nicht verstanden, dass wir alle dem Ideal, das Gott hat, nicht entsprechen.
In der Bergpredigt, für viele Leute so eine zentrale Bibelstelle, sagt Jesus in Matthäus 5,48: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Merkt ihr was? Wenn wir uns über Ideale unterhalten, dann sagt Jesus: Ich habe auch ein Ideal. Vollkommenheit.
Und du denkst dir: Nee, das kann nicht dein Ernst sein. Ich bin eher so für Greta plus zwei Jahre Gemeinde – also so eine Greta, die noch ein bisschen netter wird.
An dieser Stelle sagt Gott aber: Nein, ich möchte mit dir nicht dahin, zu Greta und dann noch ein bisschen heiliger. Ich möchte, dass du so heilig wirst, wie ich bin. Ich möchte jeden Bereich deines Lebens prägen – dein Denken, dein Reden, dein Tun. Ich möchte jeden Bereich deines Lebens ein Leben lang prägen, und ich werde damit nicht aufhören, bis du da ankommst, wo du mir entsprichst.
Wir werden alle diesseits der Ewigkeit an diesem Ideal scheitern. Und genau deshalb müssen wir diesen Punkt begreifen: Wir danken nicht für die Erreichung eines Ideals, das wir in unserem Kopf haben, und vergleichen die Geschwister dann mit diesem Ideal.
Solange sie noch wie Kai durchs Leben laufen, ewig weit entfernt sind, sagen wir: „Höh.“ Und bei den Gretas sagen wir: „Ah, nett.“ Das ist völliger Quatsch. Wir sind dankbar für Veränderung.
Persönliche Erfahrungen mit Veränderung und Dankbarkeit
Ich habe Claudia vorhin gefragt, ob ich ein Beispiel bringen kann, das unser Verhältnis zueinander ein bisschen beschreibt. Dabei fand ich etwas sehr Passendes. Ich habe über die ganze Predigt nachgedacht und mir jetzt ein gutes Beispiel überlegt.
Ich habe bisher nur über Kai und Greta gesprochen. Claudia erzählte mir bei einem Gespräch, bei einer guten Flasche Rotwein, wie sehr sie sich freut, dass sie in einer bestimmten Situation mit jemand anderem früher sofort in die Luft gegangen wäre, jetzt aber nicht mehr so schnell ausrastet. Das fand ich interessant.
Wisst ihr, das Problem ist: Wenn jemand nicht mehr so schnell in die Luft geht oder eine auffällige Verhaltensweise seltener zeigt, dann tut er es trotzdem noch. Und wir sehen das immer noch. Die Frage ist: Sind wir bereit, Veränderungen wirklich zu sehen?
In dem Moment habe ich das erst richtig realisiert. Sie war so glücklich und ein bisschen stolz, fast so, als ob sie dachte: „Ja, ich habe da etwas geschafft.“ Da wurde mir klar, dass der Punkt die Frage ist, wo ich starte. Wenn ich diesen Gedanken zulasse, dann kann ich das auch im Alltag umsetzen.
Ich sage das mal so: Wenn Claudia mir eine E-Mail schreibt und ich sie lese und denke: „Ups!“ – kann ich dann schmunzeln, weil ich Claudia kenne? Kann ich zum Telefonhörer greifen und sagen: „Du Claudia, was war denn da los?“ Und sie antwortet dann als ersten Satz: „Weißt du, ich war ein bisschen zu schnell mit meiner E-Mail, die war zu schnell geschrieben.“ Kennt ihr das?
E-Mails schreiben müsste man manchmal verbieten. Jeder hat doch schon etliche E-Mails geschrieben, bei denen er sich hinterher denkt: „Hätte ich die bloß nicht geschrieben.“ Wenn ich keine E-Mails mehr schreiben würde, hätte ich wahrscheinlich nur die Hälfte meiner Probleme mit Menschen im Jahr. Das geht so irre schnell.
Von daher schaffen wir es doch, miteinander so umzugehen, dass wir uns einfach kennen und sagen: „Hey, ich sehe, was in deinem Leben vorangeht. Ich sehe, wie du dich mühst, wie du dich veränderst und weiterkommst, und ich freue mich darüber.“
Da wurde mir noch einmal klar: Na ja, du hast deine Macken, ich habe meine. Machen wir uns nichts vor. Meine Macken sind vielleicht nicht so offensichtlich wie deine, das mag sein. Aber ich bin auch auf dem Weg der Veränderung. Ich stehe auch irgendwo und versuche, einen Schritt weiterzukommen. Ich versuche, auf dem Weg weiterzugehen.
Ich bin kein Stück besser als du, kein Stück besser. Und es geht auch nicht darum, einem Ideal zu genügen. Der Herr Jesus sagt – oder Paulus schreibt über den Herrn Jesus –, dass Gott da, wo er mit jemandem anfängt, auch zu Ende bringt. Ich darf daran mitwirken, aber dass ich ankomme, ist Gottes Sache.
Ich darf Schritt für Schritt mich weiterentwickeln und mich darüber freuen. Wir sind hier deswegen. Das Motto für 2009 lautet: Füreinander dankbar sein. Wir sind dazu verpflichtet, an dieser Stelle miteinander, nämlich dankbar füreinander, einen Schritt nach vorne zu gehen.
Ausblick und Ermutigung für die Gemeinde
Was mich begeistert, ist, dass wir im Jahr 2008 einen Schritt nach vorne gegangen sind. Wenn ich zurückblicke, denke ich, dass wir einen Fortschritt gemacht haben. Das ist vielleicht zum Teil auch der Liebesreihe zu verdanken, die uns neue Gedanken vermittelt hat. Wir sind also einen Schritt weitergekommen.
Was ich mir deshalb für das nächste Jahr wünsche, ist, dass wir noch einen Schritt weitergehen. Wir sollen begreifen, dass wir nicht dazu berufen sind, der Kuschelclub der Heiligen zu sein. Wir sind ein Team, in dem jeder sich mit den anderen gemeinsam weiterentwickelt.
Damit das gelingt, müssen wir lernen, genau hinzuschauen und zu erkennen, was sich im Leben der Geschwister verändert – und zwar positiv verändert. Wir brauchen das, was Paulus hier sagt: Wir müssen lernen, jederzeit für den Glauben und die Liebe, die wir erleben, ganz praktisch zu danken.
Wir müssen verstehen, dass Gemeinde eine Gemeinschaft von unfertigen Sündern ist. Wir müssen begreifen, dass wir alle dasselbe Ziel haben, aber auf dem Weg der Veränderung nicht alle gleich weit sind. Außerdem müssen wir begreifen, dass wir für Veränderungen danken und nicht dafür, dass ein Ideal erreicht wird, das wir in unserem Kopf von dem „richtigen Christen“ haben.
Was sollt ihr tun? Ganz einfach: danken. Öffnet den Mund und dankt für Menschen, in deren Leben ihr Glauben und Liebe seht.
Vater, ich danke dir für Kai, dass er den Schrank mit seinen Herrenmagazinen leergeräumt hat und jeden Morgen zu deiner Ehre aufsteht. Amen!
Vater, ich danke dir für Greta, dass sie betet, weil sie sich wünscht, dass ihre Nachbarn dich finden und mit ihr in der Bibel lesen.
Vater, ich danke dir für uns als Gemeinde, weil du uns nach deinen Vorstellungen zusammengestellt hast und wir aneinander lernen dürfen, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden.