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25.02.1989Jeremia 20,7-12
Wie wird man fertig, wenn man fertig ist - wie der Prophet Jeremia? Es zu dem Herrn sagen. Es mit dem Herrn tragen. Es auf den Herrn wagen. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Fertig war dieser Mann, fix und fertig. Eigentlich sollte er Mundbote Gottes sein, der für seinen Herrn den Mund aufmacht. "Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund", wurde ihm gesagt, und dann war er auf einmal mundtot gemacht. Eigentlich sollte er Sendbote Gottes sein, der von seinem Herrn geschickt wird. "Siehe, du sollst gehen, wohin ich dich sende", wurde ihm gesagt, und dann war er auf einmal in die Wüste geschickt. Eigentlich sollte er Dienstbote Gottes sein, der mit seinem Herrn an die Arbeit geht. "Siehe, ausreißen und einreißen, hauen und pflanzen ist dein Geschäft", wurde ihm gesagt, und dann war er auf einmal auf dem Abstellgleis und es ging nichts mehr.

Dabei hatte sich sein Botendienst ganz gut angelassen. Auf öffentlichen Plätzen, drunten in der Stadt und droben im Tempel, redete er den Leuten ins Gewissen. "Ihr sollt erfahren, was es für Jammer und Herzeleid bringt, den Herrn, euren Gott zu verlassen und nicht zu fürchten." Jeremias Botenwort ging unter die Haut. Aber dann wurde er verspottet. "Lacht ihn aus, diesen Spaßvogel!" Dass Gott anständigen Bürgern, die recht tun und niemand scheuen, gram sein könnte, war für sie ein schlechter Witz. Solche Lachgeschichten rühren ans Zwerchfell und nicht ans Gewissen. Und dann wurde er angefeindet. "Zeigt ihn an, diesen Staatsfeind!" Dass Gott die verhassten Babylonier zum Sieger erklären könnte, war für sie schlicht "Wehrkraftzersetzung". Solchen Lügenmäulern muss doch endlich das Maul gestopft werden. Und dann wurde er eingesperrt. "Haltet ihn fest, diesen Miesmacher!" Dass Gott sogar den Tempel zerstören könnte, war für sie eine glatte Gotteslästerung. Solchen Typen muss eine handfeste Lektion und ein dicker Denkzettel verpasst werden.

Jeremia im Block, gefangen, gegeißelt, gequält. Fertig war dieser Mann, fix und fertig. Nun messe sich keiner an dieser gebeutelten Gestalt. Die "Jeremiade", wie einer gesagt hat, ist eine Sonderlektion für Propheten. Aber manche ahnen, wie das tut, wenn man verspottet wird. Kierkegaard meinte sogar, als sie auf den Straßen Kopenhagen mit Finger auf ihn zeigten, dass selbst über dem Feuer zu braten nichts gegen die Qual sei, zu Tode gegrinst zu werden. Schüler, die in der Pause zur Gebetszelle gehen, von Mitschülern zu Tode gegrinst. Oder Arbeiter, die in der Kantine zu Tisch beten, von Kollegen zu Tode gegrinst. Oder Eltern, die daheim an der Hausandacht festhalten, von den eigenen Kindern zu Tode gegrinst. Verspottet werden tut weh. Und manche ahnen, wie das tut, wenn man angefeindet wird. Freunde lassen sich nicht mehr blicken und ziehen sich vornehm zurück. Bekannte rufen nicht mehr an und distanzieren [sich] von allem, Nachbarn laufen zur Polizei und zeigen an. Als ob sich alles gegen uns verschworen hätte. Lügen, Gemeinheiten, Denunziationen. Ausgesondert wie das Fleckvieh steht man mutterseelenallein. Angefeindet werden tut weh. Und manche ahnen, wie das tut, wenn man einge­sperrt ist. Freiheitsentzug gibt es nicht nur im Zuchthaus. Die Ehe kann zum Gefängnis werden, in das einer mit einem goldenen Ring hineingeschmiedet ist. Die Sucht kann zum Kerker werden, in den kein Sonnenstrahl mehr hineinfällt. Die Krankheit kann zum Verlies werden, in dem der Modergeruch des Todes um sich greift. Eingesperrt werden tut weh. Eheleute im Block, Süchtige im Block, Kranke im Block, Suchende, Fragende, ja, Trauerende im Block, gefangen, gequält, gegeißelt. Fertig sind viele Leute, fix und fertig. Wie wird man damit fertig? Wenn sie den Spottkübel über einem ausgießen? Wie wird man damit fertig? Wenn sie Giftpfeile auf einen abschießen? Wie wird man damit fertig? Wenn sie einem den Buckel krummziehen und die Gliedmaßen blocken? Wie wird man damit fertig? Wie werden wir damit fertig? Liebe Freunde, das ist die bohrende und quälende und schmerzende Frage, die wir über diesem Text stel­len: Wie wird man fertig, wenn man fertig ist? Die erste Antwort lautet, wenn wir die Verse genau lesen:

1. Es zu dem Herrn sagen

Jeremia könnte es Hilkija sagen, seinem Vater in Anatot. Der war Priester und stammte aus einem ehrwürdigen Priestergeschlecht. Mit einer flammenden Rede müsste er gegen solche Verunglimpfung seines Sohnes und damit der ganzen Familie zu Felde ziehen. Die Verwandtschaft kann sich diese Ehrabschneider­ei nicht bieten lassen. Jeremia könnte es auch Baruch sagen, dem Sohn Nerijas. Der war Schreiber und diente ihm als Sekretär. Mit einem offenen Brief müsste er an die Öffentlichkeit gehen und solche Gemeinheiten anprangern. Ein Volk kann sich diese Machenschaften nicht leisten. Jeremia könnte es sogar Josia sagen, dem Sohn Amons. Der war König in Juda und zeichnete verantwortlich für die Religionspolitik. Mit einem regierungsamtlichen Erlass müsste er den Menschenfängern das Handwerk legen und solche Gesetzwidrigkeiten abstellen. Ein König von Gottes Gnaden kann diese gnadenlose Hetzjagd nicht verantworten. Aber Jeremia sagt es seinem Gott. Die Verwandtschaft kann ihm nicht helfen. Das Volk ist wetterwendisch und hängt sein Mäntelchen nach dem Wind. Der König muss eine ausgewogene Politik betreiben, die auf beiden Schultern Wasser trägt. Bei Gott ist er an der richtigen Adresse. Bei Gott trifft er auf offene Ohren. Bei Gott muss er aus seinem Herzen keine Mördergrube machen. "Herr", sagt er, "du hast mit mir geredet, aber du hast mich überredet. Herr, mit dir habe ich mich eingelassen, aber du hast mich sitzenlassen. Herr, gekämpft habe ich, aber verloren." Beten läuft nicht nur in liturgischen Formeln ab. Beter haben nicht nur wohlgeformte Psalmen auf den Lippen. Das Gebet ist keine langweilige Litanei. Es zu dem Herrn sagen, was uns quält und was uns fehlt und sogar was wir gegen Gott haben. Das tut Jeremia. Wer enttäuscht ist, wer verzweifelt ist, wer sich selbst von Gott im Stich gelassen verkommt, der ist bei diesem Herrn bei der letzten, alles entscheidenden Instanz.

Der lebendige Gott kennt sich aus, seit sein eigener Sohn als Judenkönig mit der Dornenkrone verhöhnt und verspottet wurde. Der lebendige Gott sieht hinein, seit sein eigener Sohn von Juden und Heiden verfolgt und verdammt wurde. Der lebendige Gott weiß, wie es uns ums Herz ist, seit sein eigener Sohn eingesperrt und am Schandholz grässlich gepflockt wurde. Wer sich an ihn wendet, tut den ersten Schritt heraus aus dem Dunkel, so wie Jeremia, der sagt: "Herr, du!" Vergessen wir nicht dauernd diese zweite Person beim Deklinieren: Ich habe, er hat, sie hat, wir haben, ihr habt, sie haben. Wo bleibt das "Du hast"? Herr, du hast es verfügt und hast es zugelassen. Du hast's in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not."" Es zu dem Herrn sagen, wenn man fertig ist, das ist die erste Antwort. Und die zweite Antwort:

2. Es mit dem Herrn tragen

Jeremia ist drauf und dran, Jona zu spielen. Wie diesem kleinen Propheten geht es ihm durch den Kopf: Ich will nicht mehr. Eine Zumutung, dieser Beruf. Allein gegen ein ganzes Volk. Einer gegen alle. Ich kann nicht mehr. Dieser Auftrag ist eine Belastung. Überall soll man sich die Zunge verbrennen und als Sonderling auffallen. Ein Himmelfahrtskommando. Am liebsten würde er den ganzen Bettel hinwerfen. Ich bin am Ende. In Gedanken besteigt er wie Jona ein Schiff und fährt nach Tarsis Wunderland. Ein Platz an der Sonne, wo man sich aalen kann. Ein Ohrensessel hinterm Ofen, wo man so schön träumen kann. Ein Fleckchen Erde, wo man endlich seine selige Ruhe hat, denn "dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück". Immer wissen wir, wo es uns viel besser ginge als an dem zugeteilten Lebensplatz. Schon morgens, wenn wir zur Arbeit fahren, geht es einem durch den Kopf: Ich will nicht mehr. Und abends, nach all den Erfahrungen des Tages, lassen wir den Kopf hänge: Ich kann nicht mehr. Wenn uns Gedanken im Kopf nicht schlafen lassen, wissen wir: Ich bin am Ende. Am liebsten würden wir abhauen und davonlaufen. Dort, in jenem Beruf, müsste ich mich nicht so schinden. Dort, in jener Gegend, hätte ich kein so elendes Asthma. Dort, bei jener Frau, hätte ich wahrlich mehr Verständnis und Liebe, nach der ich suchte. Denn dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück. Aber dann hat Gott seinem Propheten gehörig eingeheizt. "Es ward in meinem Herzen wie brennendes Feuer". Aber dann hat Gott seinem Boten gehörig Zunder gegeben. "Es war in meinen Ge­beinen nicht mehr auszuhalten". Aber dann hat Gott dem Jeremia Dampf gemacht. Ihm ist's in die Knochen gefahren wie ein Befehl: Zurück marsch marsch! Jeremia konnte sich nicht heimlich, still und leise aus seiner Berufung stehlen. Jona konnte sich nicht per Schiff aus dem Staub machen. Amos konnte sich nicht einfach verdrücken. Niemand läuft diesem Herrn aus dem Ruder. Keiner kann bei ihm den Hut nehmen. Desertieren ist unmöglich. Es bleibt dabei: Jede Flucht endet vor Gott. Ersparen wir uns deshalb den Umweg und bleiben an dem Platz, der uns zugewiesen ist. Gott will uns gerade dort haben und nirgends anders.

Selbst am unmöglichsten Ort tritt Jesus selbst neben uns. Auch er musste ja zittern und zagen. Auch er war versucht, aus dem Gehorsam auszubrechen. Auch er bat unter Blut und Tränen: "Herr, wenn du willst, so lass diesen Kelch vorübergehen." Aber bis zum letzten Tropfen musste er ihn trinken, bis zum bitteren Ende musste er gehen. So bleibt er bei uns stehen, hält bei uns aus, trägt für uns mit, was uns aufgetragen ist. Lambert Gedicke, Lehrer am Waisenhaus in Halle und später Feldprediger des preußischen Heeres, der angesichts so viel Leid am liebsten seinen lutherischen Predigerrock an den Nagel gehängt hätte, schrieb: "Wie Gott mich führt, im Glauben, Hoffen, Leiden. Steht er mit seiner Kraft mir bei, was will mich von ihm scheiden? Ich fasse in Geduld mich fest, was Gott mich wider­fahren lässt, muss mir zum Besten dienen." Es mit dem Herrn tragen, wenn man fertig ist, das ist die zweite Antwort. Und die dritte:

3. Es auf den Herrn wagen

Jeremia denkt Jahre zurück. Damals lebte er noch in Anatot. Mit keinem Gedanken dachte er an einen geist­lichen Beruf. Wer will schon in die Fußtapfen des Vaters treten, wenn sie zwei Nummern zu groß sind? Ein Leben lang hören müssen: "Ach, du bist der Sohn des Hilkija!" ist alles andere als ich-stärkend. Jeder möchte aus dem Schatten der Eltern treten und eine eigene Persönlichkeit werden. Deshalb winkte er ab, als Gott ihn zum Propheten berief: Erstens kann ich nur reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist und nicht wie es sich für einen Propheten gehört, und zweitens bin ich noch grün hinter den Ohren und werde als junger Dachs überhaupt nicht ernst genommen." Aber Gott ließ sich nicht abwimmeln. Wen er ergreift, lässt er nicht wieder los. Jeremia wird es in die Hand hinein versprochen: Ich bin mit dir. Ich bin bei dir. Fürchte dich nicht. Auf dieses Wort hin wagte es der junge Mann und er erlebte, dass Gottes teures Wort kein Scheck ohne Deckung ist.

Nur eines, Gottes Wort hat man nicht, so wie man einen Mantel hat. Gottes Wort besitzt man nicht, so wie man ein Auto besitzt. Gottes Wort ist einem nicht immer gleich nah. Es gibt Stunden und Tage, in denen wir mit uns alleine sind und keine Stimme unsere Einsamkeit durchdringt. Dann aber gilt es zurückzudenken, so wie Jeremia. Auch wenn wir keine Berufung erlebt haben, so liegt doch eine Taufe hinter uns. Hat er nicht damals gesagt: Ich bin bei dir? Oder es liegt eine Konfirmation hinter uns. Hat er nicht damals versprochen: lch bin mit dir? Oder es liegt ein ganz bestimmter Tag unserer Hinkehr zu Gott hinter uns. Hat er nicht damals die Sorgepflicht übernommen: Fürchte dich nicht? Tun wir doch nicht so, als sei Gott ein Schwätzer gewesen, dessen Worte inflationieren und deshalb wertlos seien. Weil Gottes Wort in Ewigkeit bleibt, deshalb erleben wir jenen Stimmungsumschwung bei dem geschlagenen Propheten, der sein Klagelied beendet, von Moll in Dur moduliert und mit einem Lob- und Danklied seines Weges weitergeht. "Singt dem Herrn und rühmt den Herrn,d er des Armen Leben errettet." Es auf den Herrn wagen, wenn man fertig ist, das ist die dritte Antwort.

Liebe Freunde, schauen Sie ein letztes Mal auf Jeremia. Der fix und fertige Prophet war wieder fertig zu treiben das Evangelium des Friedens. Gott will keinen fertig machen. Er will, dass wir fertig werden.

Amen