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25.06.19881. Petrus 3,8-17
Welche Arznei gibt es gegen unsere Süchte, gegen die es keine Tabletten und Tropfen gibt? Apostel Petrus will lebendige Hoffnung bringen. Jeder von Christus Ergriffene muss begreifen: Ich bin des andern Arznei. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Wie gut, wenn es Arznei gibt, liebe Gemeinde. Wie gut, wenn wir bei einer Krankheit mit einer Arznei helfen können. Seit Stunden brummt uns der Schädel. Vor lauter Kopfweh lässt sich kein vernünftiger Gedanke mehr fassen. Die Arbeit geht überhaupt nicht mehr von der Hand. Wie gut, wenn es Aspirin gibt, das unsere Schmerzen eindämmt. Oder seit Tagen plagt uns das Fieber. Eine Entzündung im Hals will und will nicht abklingen. Die Glieder sind schon ganz schlapp geworden. Wie gut, wenn es Penicillin gibt, das als Antibiotikum die Krankheitserreger abtötet. Oder seit Monaten schwächt uns das Herz. Eine Angina pectoris beeinträchtigt die Herzkranzgefäße. Der Brustkorb krampft sich immer wieder zusammen. Wie gut, wenn es Betarezeptorenblocker gibt, die das Herz vor überschießenden Impulsen schützt. Wie gut, wenn bei einer Krankheit wir mit einer Arznei helfen können.

Aber was machen wir dann, wenn unsere Tabletten und Tropfen keine Wirkung mehr zeigen? Was machen wir dann, wenn wir mit unserem schulmedizinischen Latein am Ende sind? Ich denke jetzt gar nicht an die bösartigen Krebskrankheiten, die uns urplötzlich befallen, sondern an die unheimlichen Suchtkrankheiten, die der Mensch als furchtbare Erblast mit sich herumschleppt. Gleichsam durch adamitischen Gentransport ist die Rachsucht und die Streitsucht und die Ichsucht in die Menschheit hereingekommen und wütet dort wie eine Epidemie. Was können wir dagegen tun? Wie können wir Rachegelüste und Streitereien und Ichbezogenheit unter Kontrolle bringen? Welche Arznei gibt es gegen diese Süchte?

Fragen wir doch einen Arzt, einen guten Arzt, einen berühmten Arzt sogar. Zugegeben, er ist alt, sehr alt sogar. Im 16. Jahrhundert, zu Luthers Zeiten hatte er eine Praxis und betrieb medizinische Forschungen. Dieser Dr. Paracelsus, alias Theophrast von Hohenheim, unterstrich immer wieder: Der Mensch ist des Menschen Arznei. Wenn also Rachsucht Blut und Tränen fließen lässt: Der Mensch ist des Menschen Arznei. Wenn also Streitsucht Ehen und Familien kaputt macht: Der Mensch ist des Menschen Arznei. Wenn also Ichsucht zwischenmenschliche Bande zerstört: Der Mensch ist des Menschen Arznei. Gewiss nicht jeder Mensch. Von Natur aus sind wir sogar von der Sünde vergiftet und sind oft genug des Menschen Gift. Wenn wir aber durch Jesus entgiftet, oder biblisch gesprochen durch Jesus erlöst werden, dann kommt nach Vers 8 Mitleid in unser Leben, das sagt: "Du und ich gehören zusammen", dann kommt Brüderlichkeit in unser Leben, die sagt: "Wir haben denselben Vater und sind deshalb Geschwister", dann kommt Barmherzigkeit in unser Leben, die sagt: "Dein Elend geht mir an die Nieren", dann kommt Demut in unser Leben, die sagt: "Ich bin nicht besser als du", dann sind wir als mitleidige, brüderliche, barmherzige und demütige Menschen des Menschen Arznei.

Davon redet der Apostel, weil er die lebendige Hoffnung von Kapitel 1 auch in das Suchtkrankenhaus Erde bringen will . Keiner ist dabei übrig. Niemand steht dabei unnütz herum. Jeder von Christus Ergriffene muss begreifen: Ich bin des andern Arznei.

1. Arznei gegen die Rachsucht

Denken wir an eine Ehe. Zwei junge Leute haben den Bund fürs Leben geschlossen. Am Hochzeitstag hängt der Himmel voller Bassgeigen und die Erde ist rosarot eingepinselt. Aber nach dem Honigmond kehrt der Alltag ein. Er geht als Lehrer zur Schule und sie als Schwester ins Hospital. Schon nach wenigen Wochen bringt er samstags keine Blümchen mehr vom Wochenmarkt. "Wenn das so ist", denkt sie, "dann brauch ich ihm auch keinen Tee mehr machen". Einige Zeit später verbringt er die freien Abende nur noch vor dem Fernseher. "Wenn ihm das Programm wichtiger ist", sagt sie, "dann kann ich ja mit Abendkursen etwas für meine Bildung tun." So gestalten sich auch die Sonntage: Er fährt mit Kollegen zum Fußball und sie mit ihren Kolleginnen zum Tennis. Dann kommt es zum Krach: Er mahnt, sie schimpft, er brüllt, sie schreit. Jeder sieht ein Loch in die Luft, wenn er dem andern begegnet. Das ist die Rachsucht, die jedem in den Knochen steckt: Wie du mir, so ich dir. Das ist die Kettenreaktion, die nicht mehr zu stoppen ist: Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Das ist das alte Lied, das uralte Lied, das Lamechlied aus 1. Mose 4: "Böses wird mit Bösem vergolten. Sünde wird mit Sünde bekämpft. Krieg wird mit Krieg beantwortet. Ein Teufelskreis, in dem so viele Ehen, Gemeinschaften, ja Völker zum Teufel gehen, denn "das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären", wie Schiller sagt.

Und der Apostel sagt: Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Reagiert nicht auf Scheltwort mit Scheltwort. Seid Arznei gegen die Rachsucht, indem ihr segnet. Segnen aber heißt, von der griechischen Bedeutung herkommend, ganz schlicht: Gutes über den andern reden, Gutes zum andern sagen, Gutes auf den andern legen. So wie es der gute Herr bei mir auch getan hat. Wenn er nach dem Grundsatz "Auge um Auge, Zahn um Zahn" gehandelt hätte, stünde ich zweifellos heute nicht hier. Er aber hat sein Blut vergossen und mich, obwohl ich sein Feind war, einen Bruder genannt. Weil Jesus Gutes in ein Leben hineinsagt, deshalb kann Gutes weitergesagt werden.

Vielleicht so, dass der Mann zur Frau sagt: "Du, ich habe im Wandsbecker Boten geblättert und den Vers von Matthias Claudius gefunden, den er seiner Frau zur Silberhochzeit gedichtet hat: 'Ich war wohl klug, dass ich dich fand, doch ich fand nicht, Gott hat dich mir gegeben, so segnet keine andere Hand.' Claudius hat mir aus der Seele gesprochen. Du bist mir Gottes Geschenk. Lass uns doch neu anfangen." Oder vielleicht so, dass die Frau zum Mann sagt: "Du, jener Satz aus der Hochzeitspredigt ist mir wieder eingefallen. Wer glücklich werden will, der heirate nicht. Glücklich machen, darauf kommt es an. Lass mich’s noch einmal versuchen. Gott möge mir dabei helfen. Ich will dich doch glücklich sehen." Wieviel krank gewordene Ehen und Gemeinschaften könnten wieder geheilt werden, wenn der Segen Gottes nicht nur konsumiert, sondern wieder transportiert würde. Seid Arznei gegen die Rachsucht. Und:

2. Arznei gegen die Streitsucht

Denken wir an die Nachbarschaft. Beim Einzug ins Neubauviertel lachte die Sonne. Die Eigentumswohnung war wie ins Paradies gebaut. Lauter nette Leutchen nickten aus den Fenstern. Aber das hat sich gründlich geändert. Die Frau im Oberstock lässt trotz Bitten nur nachts ihre Spülmaschine laufen. Und der Mann vom Unterstock parkt sein Auto gerade zum Bossen vor der Garagentür. Und die Buben von nebenan spielen trotz ständiger Ermahnung nur auf unserem Grundstück. Und die Bewohner drüben drehen ausschließlich bei geöffneten Fenstern ihr Radio voll auf. Gegrüßt wird schon lange nicht mehr. Geredet wird nur das Gemeine. Gestritten wird im ganzen Viertel, gestritten. Es gibt kaum eine Nachbarschaft , kaum ein Quartier, kaum eine Ecke in der Welt, wo man nicht übers Kreuz kommt und sich zu Leide lebt. Seit Kain liegt uns die Streitsucht im Blut, die immer neue Bosheiten erfindet.

Und der Apostel sagt nicht: "Werdet Staatsanwälte, die fremde Schuld anklagen und an die große Glocke hängen". Und der Apostel sagt auch nicht: "Werdet Richter, die endlich den Schuldigen an den Pranger stellen oder ins Kittchen bringen". Und der Apostel sagt erst recht nicht: "Werdet Märtyrer, die alles einstecken, wegstecken, hinunterschlucken". Der Apostel sagt vielmehr: "Werdet Priester, die andere segnen". Dazu braucht es keine Weihe, kein Amt, keinen Talar, keine Liturgie. Segnen heißt, und nun von der lateinischen Bedeutung herkommend, ganz schlicht: "Zeichen setzen", "Zeichen geben", "zeichenhaft handeln".

So wie unser Hohepriester Jesus Christus es getan hat. Ihm war unsere zerstrittene Welt kein Hindernisgrund, um nicht den Himmel zu verlassen und zu uns zu kommen. Obwohl ihn von Anfang an der Spott und der Hass und die Verachtung voll trafen, blieb er auf seinem Weg nach Jerusalem. Nichts, aber auch gar nichts konnte ihn davon abhalten, Kranke zu heilen, Hungrige zu speisen, Traurige zu trösten, Dürstende zu tränken, einfach Gutes zu tun. Schließlich hatten sie ihn am Galgen geschafft, aber er schaffte daraus ein unübersehbares Zeichen, an dem er seine beiden Hände so weit ausstreckte, als wollte er darin alle Menschen umfangen und sie hohepriesterlich segnen. Das Kreuz ist das Segenszeichen, das wir setzen und zeigen sollen. Ohne das Kreuz können wir uns nicht vom Bösen absetzen. Ohne das Kreuz können wir nichts Gutes tun. Ohne das Kreuz ist jede Friedenssuche und Friedensjagd vergeblich.

Wenn wir also mit unserer Umgebung übers Kreuz kommen, und wieviel ist schon übers Kreuz, dann dürfen wir nicht vom Kreuze kommen, von dem, der dort gehangen hat und gesagt: "Friede sei mit euch". Dann dürfen wir zu ihm kommen und ihm sagen: "Herr, schenk doch Frieden in unsere Nachbarschaft, in unsere Verwandtschaft, in unsere zerstrittene Welt". Dann dürfen wir als priesterliche Menschen zu den andern kommen und sie mit einen Friedenszeichen segnen. Es muss nicht alles beim Alten bleiben. Es kann in meinem Quartier anders werden. Die gespannten, bedrückenden Verhältnisse sind nicht ehernes Schicksal. Seid Arznei gegen die Streitsucht. Und:

3. Seid Arznei gegen die Ichsucht

Denken wir an unsere Stadt. Kürzlich wurde sie unter den drei am gernsten besuchten Hauptstädte der Bundesrepublik aufgeführt. Der Flecken zwischen Wein und Reben ist zum Partner der Welt geworden. Ein beliebter Wohnplatz für eine halbe Million Zeitgenossen. Aber je mehr zusammenwohnen, je weniger kennen sie sich. Schon die Nebenstraße ist wie unbekanntes Land. Hier werden Möbel hineingetragen und dort ein Sarg herausgetragen, wen kümmert's? Jeder ist mit sich beschäftigt und seinem eigenen Glück. Erst mit zunehmendem Alter kommt die Einsicht, dass Ichsucht mitten in Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit hineinführt. Albert Camus sagte, dass ein Leben nur mit Hoffnung lebenswert sei: "Mit dem Kopf an der Mauer leben können allenfalls die Hunde". Mir scheint, liebe Freunde, dass rund um diese Kirche immer mehr Menschen mit dem Kopf an der Mauer leben. Sie sehen nichts mehr. Sie blicken nicht mehr darüber. Sie schlagen sich wund.

Und der Apostel sagt: Nehmt die Verantwortung wahr. Gebt Rechenschaft von eurem Glauben. Sagt und lebt die Hoffnung weiter, die in euch ist. Oder haben wir auch nur Fragen und Ängste und Zweifel und Verzweiflungen in unserer Brust? "Gelobt sei Gott der Vater", hat Petrus diesen Brief begonnen, "der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten". In uns darf es wahr sein, dass keiner mit dem Kopf an der Mauer leben muss, weil das Haupt Jesu Christi die Todeswand durchbrochen hat. In uns kann es wahr sein, dass keiner in einer Sackgasse enden muss, weil der Auferstandene die Durchfahrt zur Ewigkeit freigemacht hat. In uns muss es wahr sein, dass keiner ein hoffnungsloser Fall ist, sondern dass der lebendige Herr auf alle Fälle und für alle Fälle eine großartige Zukunft bereithält.

Das muss doch die schwerhörige Frau drüben im Dachstock hören, zu der kaum ein Besucher mehr hinaufsteigt: Seit Jesus ist nichts hoffnungslos. Das muss doch der bettlägrige Mann draußen im Hinterhaus vernehmen, der keine Verwandtschaft mehr hat: Seit Ostern hat der Tod nicht mehr das letzte Wort. Das muss doch dem verzweifelten Fußgänger drunten in den Anlagen zu Ohren kommen, der sich mit Selbstmordgedanken abquält: Seit der Auferstehung hat die Welt ein anderes Gesicht. Das muss doch jeder ins Herz bekommen: "Jesus lebt, mit ihm auch ich. Tod, wo sind nun deine Schrecken. Er, er wird auch mich, von den Toten auferwecken."

Deshalb seid Arznei gegen die Ichsucht und gegen die Streitsucht und gegen die Rachsucht. Seid's, in und mit Jesus.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]