In diesem Kapitel berichtet Markus von einer Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern sowie Schriftgelehrten. Diese kritisieren Jesus und seine Jünger, weil sie ihre Hände nicht nach der jüdischen Tradition waschen, bevor sie essen. Jesus antwortet ihnen, dass es nicht das Äußere, sondern das Innere des Menschen ist, das ihn unrein macht.
Er erklärt, dass nicht das Essen den Menschen verunreinigt, sondern die bösen Gedanken, die aus dem Herzen kommen, wie etwa Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, List, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Torheit. Diese Dinge machen den Menschen unrein, nicht das Essen.
Anschließend geht Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon. Dort begegnet er einer heidnischen Frau, deren Tochter von einem bösen Geist besessen ist. Die Frau bittet Jesus um Hilfe, und obwohl er zunächst zögert, heilt er schließlich ihre Tochter aufgrund ihres Glaubens.
Danach kehrt Jesus nach Galiläa zurück und heilt einen Taubstummen. Er legt ihm die Finger in die Ohren, spuckt aus und berührt seine Zunge. Sofort kann der Mann wieder hören und sprechen. Die Menschen sind erstaunt und loben Gott.
Das Kapitel endet mit der Aussage, dass Jesus weiterhin in Galiläa lehrt und heilt, wobei viele Menschen von seiner Macht und seinen Wundern beeindruckt sind.
Einführung in die Thematik der Reinheit und Seelsorge Jesu
Wir hatten beim letzten Mal über Reinheit und Unreinheit gesprochen. Nun beschäftigen wir uns mit den Versen 24 bis 37.
Es ist bedauerlich, dass die beiden Geschichten miteinander verbunden werden, aber wir wollen es dennoch versuchen.
Unser Thema lautet: Die Seelsorge Jesu.
Begegnung Jesu mit der syrophönizischen Frau
Und Jesus stand auf und ging von dort in das Gebiet von Tyrus, dem heutigen Libanon. Er betrat ein Haus und wollte es niemand wissen lassen. Doch es konnte nicht verborgen bleiben. Bald hörte eine Frau von ihm, deren Töchterlein einen unreinen Geist hatte, einen dämonischen Geist. Sie kam und warf sich zu seinen Füßen nieder.
Die Frau war eine Griechin, das heißt kulturmäßig – in der Bibel wird das oft so verstanden. Sie war eine Hellenistin, was nicht völkisch, sondern kulturell gemeint ist. Zwischen Juden und Hellenisten gab es einen großen Gegensatz; das ganze Denken war verschieden. Sie war eine Syrophenizerin, denn das Gebiet um den Libanon stand immer unter syrischer Kontrolle.
Die Frau bat Jesus, den bösen Geist von ihrer Tochter auszutreiben. Jesus aber sprach zu ihr: „Lasst zuerst die Kinder satt werden. Es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“
Sie antwortete ihm: „Ja, Herr, aber doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brosamen der Kinder.“
Darauf sprach Jesus zu ihr: „Um dieses Wortes willen, geh hin! Der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren.“
Sie ging in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegen. Der böse Geist war ausgefahren.
Heilung des tauben und stummen Mannes am See Genezareth
Und als er wieder aus dem Gebiet von Tyrus fortging, kam er durch Sidon an das skalleläische Meer, mitten in das Gebiet der zehn Städte. Das skalleläische Meer ist der See Genezareth, auch See Tiberias genannt – alle drei Bezeichnungen meinen dasselbe.
Sie brachten zu ihm einen Mann, der taub und stumm war, und baten ihn, die Hand auf ihn zu legen. Jesus nahm ihn aus der Menge beiseite – oder, wie es im alten Luthertext heißt, besonders – und legte ihm die Finger in die Ohren. Dann berührte er seine Zunge mit Speichel, sah zum Himmel auf, seufzte und sprach zu ihm: „Hevata“, das heißt: „Tu dich auf!“
Sogleich taten sich seine Ohren auf, die Fessel seiner Zunge löste sich, und er sprach deutlich. Jesus gebot ihnen, es niemandem zu sagen. Doch je mehr er es verbot, desto mehr verbreiteten sie es. Die Menschen staunten über die Wunder und sagten: „Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“
Die Bedeutung der Seelsorge in der heutigen Zeit
Wir haben am Sonntag über Ängste gesprochen und werden das Thema in drei Wochen noch einmal aufgreifen. Ich habe auch viele Reaktionen von Ihnen erhalten.
Ich darf einfach sagen: Jeder von uns trägt heute eine ganze Last an schweren Bedrückungen, Nöten, Ängsten, enttäuschten Hoffnungen und Sorgen mit sich, die er nicht bewältigen kann. Ich denke an manche Besuche oder Gespräche mit älteren Menschen, etwa bei Altenbibelstunden, und sehe, was auf jedem Menschen lastet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der davon frei ist.
Schon bei Kindern ist das so. Kaum sind sie geboren, haben sie unheimliche Existenzängste. Nun stellt sich die Frage: Wie gelangt der Glaube in unser Inneres, gerade an so einem Sonntag? Wie wirkt er nach innen, sodass unser Herz ruhig wird und der Friede Gottes uns ergreift?
Das ist der Dienst der Seelsorge. Ich möchte ihr Seelsorger sein. Wir sollen einander in der Seelsorge dienen. Heute ist dieser Dienst oft ganz in die Hände der Psychologie übergegangen. Das bedaure ich, weil dort häufig niemand ist, der die heilenden Kräfte Gottes vermitteln kann.
Ich möchte der Psychologie nichts vorwerfen. Ich weiß, sie hat in den letzten 23 Jahren viel geleistet. Ich selbst habe mich damit nie abgelehnt. Aber ich sage nur: Psychologie kann nicht zu Gott führen. Es fehlt ihr das Entscheidende.
Psychologische Erkenntnisse hatten die Menschen zu allen Zeiten. Jeder Laie versteht schon etwas davon, wie man mit Menschen umgeht. Aber das Problem ist: Wie kommen die heilenden Kräfte Jesu zu uns? Zum Beispiel das Vergebungswort. Ein Mensch kann von sich aus niemandem Vergebung zusprechen. Und das Wunder des Gebets!
Seelsorge ist etwas ganz, ganz Großes. Deshalb ist es immer wieder gut, wenn wir sie auch praktizieren. Menschen brauchen jemanden, dem sie sich absolut verschwiegen anvertrauen können. Jemanden, dem sie Dinge sagen dürfen, die wichtig sind, gerade in schwerer Not.
Auch vor wichtigen Entscheidungen, wie einer Operation, ist es gut, sich noch einmal mit einem Seelsorger auszusprechen und den Frieden zugesprochen zu bekommen. Das ist heute besonders nötig. Ich glaube, in unserem Volk ist das ganz dringend.
Wir sollten das sicher wieder mehr anbieten und auch mehr tun. In Indien habe ich das sehr schön erlebt. Auf meiner letzten Reise im Dezember war ich kurz in einer kleinen Gemeinde in Bangalore. Dort wurde nach dem Gottesdienst angeboten: Wer noch etwas hat und möchte, dass für ihn gebetet wird, soll zurückbleiben.
Noch nach zwei Stunden saßen Leute da, die warteten, dass jemand mit ihnen betet und über konkrete Nöte ihres Lebens spricht. Mich bewegt das immer wieder, auch hier so etwas anzubieten.
Das kann nicht einer allein leisten. Es bräuchte zehn, fünfzehn Menschen dafür. Ich glaube, dass nach dem Gottesdienst am Sonntag viele kommen würden und sagen: „Ich möchte so nicht zurückgehen. Ich möchte, dass Sie noch ein paar Worte mit mir sprechen.“ Oft ist die Frage: Was bedeutet das jetzt konkret für mich? Soll ich ruhig sein oder aktiv? Und viele weitere Fragen.
Jesu Umgang mit Menschen als Vorbild für Seelsorge
Interessant ist, wie Jesus mit Menschen umgeht. Er ist der beste Seelsorger, und davon kann man immer wieder lernen. Seelsorge ist nicht einfach nur eine methodische Angelegenheit. Sicher, man kann einige Techniken erlernen. Doch das Wichtigste ist, einen Menschen wirklich zu lieben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Seelsorge ist absolute Verschwiegenheit. Es gibt einige Grundregeln, die gar nicht schwer zu lernen sind: Menschen verstehen, ihnen zuhören und in der Seelsorge eher zuhören als selbst viel zu reden – all das gehört dazu.
Bei Jesus sehen wir jedoch, wie er genau den Kern des Problems trifft. Wie wir beim letzten Mal an der Bibel gesehen haben, liegt das Problem im menschlichen Herzen. Dort finden sich die großen Nöte und die Wurzeln meines Fehlverhaltens und des Bösen, das ich tue. Aus meinem Herzen kommt so viel Not.
Wir sind zerrissene Persönlichkeiten. Bis man die Freude des Glaubens wieder richtig erlebt, braucht man die Seelsorge Jesu.
Die Wirkung von Not auf den Glauben
Wir sehen hier eine Frau. Warum kommen Menschen zu Jesus? Oft ist es die Not, die sie zu ihm treibt. Doch das ist nicht immer so. Man muss aufpassen, denn viele Menschen reagieren auf Not auch mit Fluchen. Die entscheidende Frage ist: Was bewirkt die Not in ihnen?
Viele werden durch die Not zur Rebellion gegen Gott getrieben. Sie fragen: „Was ist das für ein Gott der Liebe?“ Andere, wie der Offizier Beckmann draußen vor der Tür, werden ebenfalls durch die Not herausgefordert. Viele Menschen geraten in Krisen durch die Not. Doch viele sind durch die Not auch in die Arme Jesu getrieben worden.
Woran liegt das? Es liegt an mir, daran, ob ich es richtig verstehe, warum Gott so etwas in meinem Leben zulässt. Gott lässt Leiden zu. Das kennen wir aus vielen Bibelstellen, in denen Leiden als ein Schmelztiegel beschrieben wird. Leiden macht uns gründlich und reif.
Es gibt dazu ein sehr schönes Lied von Karl Friedrich Hartzmann. Er war ein großer Erzieher an der Hohen Karlsschule und sogar Hofprediger von Karl Eugen auf der Solitude. Karl Friedrich Hartzmann, mit zwei T, ist im Liederbuch in der Aube vertreten. Er war eine interessante Persönlichkeit.
Das Lied heißt: „Endlich bricht der heiße Tiegel, und der Glaube empfängt die Siegel als im Feuer bewährtes Gold.“ Es erklärt, warum das Leiden sein muss. Es ist ein ganz wichtiges Lied. Ich bin froh, dass so etwas im Gesangbuch steht. Es ist ein tiefes Lied.
Für Sie, die Sie glauben und Christ sein wollen, ist es wichtig zu wissen: Sie begleiten Menschen im Leiden. Wenn Sie den Selbstsorgedienst an Kranken tun, ist es wichtig, dass der Kranke nicht rebelliert. Sie können sagen: „Ich verstehe dich. Ich werde deine zehn Minuten aushalten, die du schon zweieinhalb Jahre trägst.“
Gestern Abend hat mir noch ein Mann kurz vor zehn Uhr angerufen. Er hat zu sich gebetet und gesagt: „Ich muss nachts fünfmal raus, um meine Mutter zu pflegen. Das mache ich seit zweieinhalb Jahren, und das neben meinem Beruf.“ Herr Schäfer hat mir erzählt, dass er noch öfter nachts raus musste, weil er seine Frau alle Stunde drehen musste.
Man kann sich kaum vorstellen, was das Leiden bedeutet und wie wichtig es ist, einem Menschen beizustehen. Die Frage bleibt: Warum lässt Gott dich so in dieser Not?
Die Suche der Frau nach Jesus und ihre Glaubensgröße
Bei dieser Frau ist ganz deutlich zu erkennen, dass sie durch ihre Not Jesus gesucht hat. Sie fragt einfach: Gibt es irgendetwas noch? Ob sie Jesus schon einmal begegnet ist oder irgendwo von ihm gehört hat, wissen wir nicht. Wir können nur spekulieren.
Sie wohnt in einem Gebiet, das nicht zum Kerngebiet Israels gehört. Es ist Heidenland, also kein jüdisches Land. Bereits in Kapitel 15, Vers 21, steht, dass aus dem Gebiet von Tyrus und Sidon Leute zu Jesus kamen. Eine große Menge aus der Umgebung von Tyrus und Sidon strömte herbei, um Jesus zu hören. Das war schon am See Genezareth, wo die Menschen zu Jesus kamen.
Vielleicht hat die Frau nur einen Bericht gehört, und sie ist eine suchende Frau. Es ist sehr wichtig, dass Menschen nicht rebellieren, sondern sich öffnen. Wir sollten uns fragen: Was will mir Gott in dieser Zeit sagen? Ich möchte jetzt besonders darum kämpfen, etwas zu entdecken.
Die Frau macht sich auf den Weg und findet Jesus, obwohl er sich eigentlich verstecken will. Warum? Ganz einfach: Im Matthäusevangelium heißt es, Jesus entweicht. Hat er Angst? Bestimmt nicht Angst, aber er möchte das Kreuz nicht zum falschen Zeitpunkt provozieren. Er weiß, die Stunde Gottes kommt mit seiner Passion, wenn es sein muss.
Jetzt zieht er sich in den Schutz zurück. Es gab bereits Widerstand und Feindschaft, deshalb hat sich Jesus in ein Gebiet zurückgezogen, in dem er eigentlich unbekannt war. Doch selbst dort erkennen ihn die Menschen. Er geht in ein Haus, wahrscheinlich das eines Freundes oder Bekannten, der ihn aufnimmt. Aber selbst dort finden ihn die Leute. Das ist ein Zeichen.
Jesus ist ein Magnet, der die Menschen anzieht. Das möchte ich auch für die Kirchen am Ende des zweiten Jahrtausends sagen: Nichts interessiert die Leute mehr. Wenn sie Politik hören wollen, gehen sie ins Gewerkschaftshaus. Für Theater oder Konzerte gibt es andere Orte. Was die Christengemeinde weitergibt – sei es im Hauskreis oder anderswo – kann die Brücke zu Jesus schlagen.
Die Menschen haben Heimweh, selbst im Heidenland. Vorhin sagte jemand im Gebetskreis, dass es ihm in seiner schweren Krankheit wichtig war, durch einen kurzen Besuch eine Begegnung mit Gott zu finden. Das ist der Sinn, und darum beten wir. Die Menschen können unser Gesicht wieder vergessen, aber diese Begegnung bleibt.
Die Frau sucht den Heiland, den Retter, der ihre Not löst und ihr geheimnisvolles, schwieriges, notvolles Leben heilen kann. Ein Mutterherz kämpft um ihr Kind. Was das ist, wissen wir oft nicht genau – vielleicht ein böser Geist. Eltern müssen oft viel mit ihren Kindern erleiden. Das ist das Schwerste: Sie haben das Kind großgezogen, und dann gehen die Kinder schreckliche Wege.
So kämpft die Frau um ihr Kind, sie kann es nicht loslassen. Welche Mutter kann ihr Kind vergessen? Nur eine Rabenmutter. Dieses ganze Dilemma bringt sie zu Jesus. Und Jesus spricht in das Leben dieser Frau hinein.
Sehen Sie, Selbstsorge ist nichts, sondern Jesus sieht, was in der Frau drin ist. Überraschend ist, dass Jesus zunächst so abweisend ist. Wir meinen oft, man müsste auf Menschen zugehen, aber Jesus kann in ihrem Leben auch sehr hart sein. Viele glaubende Menschen haben erkannt, dass Gott sehr hart sein kann. Bei Bodelschwingen entstand die Erkenntnis: Gott kann so hart sein.
Darum möchte ich seine Liebe verkünden, dort, wo er sie offenbart – in seinem Sohn Jesus. Das muss die Welt wissen. Und da steht Jesus vor dieser Frau und weist sie zurück. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen: Jesus stand noch auf seinem Passionsweg und wollte jetzt nur das Volk Israel erreichen. Das war der Gottesauftrag, die heilsgeschichtliche Stunde.
Mit der Himmelfahrt hat Jesus das Evangelium in die Welt tragen lassen. Trotzdem ist es schwer zu verstehen, dass Jesus eine suchende Frau so abweist. Aber genau das haben Sie doch auch schon erlebt. Sie haben gebetet und meinten, jetzt ist Alarm im Himmel, und doch passiert nichts. Das demütigt uns stolze Menschen.
In einer Auslegung las ich, dass es Christen gibt, die meinen, sobald sie sich ein wenig zu Gott ausstrecken, müssten alle Zeichen sofort sichtbar sein. Doch Gott kann uns im Beten sehr demütig machen. Wenn du mich demütigst, machst du mich groß – nicht klein.
Manchmal fühlt es sich an, als könnten wir es nicht mehr aushalten. Solche Zeiten können Wochen oder Monate dauern. Ich habe mich hier oft heiß und müde geschrien, wie in den Psalmen. Rückblickend sehe ich, dass diese Zeiten uns wieder bewusst machen, wer wir vor Gott sind: nämlich gar nichts, nur Gnade, die uns trägt – ein Wunder.
Wir sind auch nicht diejenigen, die am Ende von Gott weggestoßen werden. Diese Frau hat Jesus viel besser erkannt als viele andere stolze Menschen. Jesus nennt die Nichtjuden, die nicht zum auserwählten Volk gehören, „Hunde“. Das ist schwer zu erklären, besonders, wenn man Tiere liebt.
Sie müssen wissen, dass Hunde in der damaligen Welt und im Orient noch unter den Ratten standen. Hunde galten als wenig liebenswert. Ich habe das schon öfter gesagt und damit manchen erschreckt, aber es ist nicht meine Meinung über Hunde. Ich liebe Hunde sehr, aber ich spreche hier von der damaligen Zeit und den biblischen Aussagen.
In der Bibel gibt es keine positiven Aussagen über Hunde. Wenn bei Lazarus die Hunde die Wunden lecken, ist das das Schlimmste – es sind streunende Tiere. Noch einmal: Das ist nicht meine Ansicht über Hunde, sondern ein Hinweis darauf, wie das gesellschaftliche Leben damals war.
Wenn Jesus zu ihr sagt: „Du bist ja nur wie ein Hund“, ist das ein harter Schlag für die Frau. Doch es ist auch so, dass wir bei Gott nichts fordern können. Die Juden haben den Bund Abrahams. Dass wir heute aus den nichtjüdischen Völkern, den Heidenvölkern, den Gojim, wie die Juden sagen, uns so viel einbilden mit unserem christlichen Erbe – was haben wir denn Gott zur Ehre gelebt?
Es gibt nichts, worauf wir stolz sein könnten. Gott hat uns getragen und mit uns in der Not gewesen. Jesus sagt zu der Frau: „Ich will doch nicht den Israeliten das wegnehmen, sondern dem Volk Israel dienen. Darum habe ich keine Zeit für dich, ich will jetzt nicht mit dir reden.“
Da betet die Frau in unglaublicher Bescheidenheit: „Ja, Herr, ja.“ Das macht die Größe ihres Glaubens aus. Wenn Sie das heute Abend verstehen, haben Sie tief etwas für Ihr ganzes Leben gelernt.
Vielleicht sind Sie oft auf die Probe gestellt worden, andere sagen, es sei alles Gnade. Doch Sie werden immer wieder dorthin geführt, wo Sie nur staunen können über die Liebe und Güte Gottes. Dort sagt man: „Verdient habe ich nichts, und ich will nichts einfordern. Ich will mich auch bei dir nicht beschweren.“
Es ist manchmal schwierig, wie wir Gott anklagen, warum es uns so schlecht geht. Sie kennen meinen Spruch: Keinem Volk geht es so gut wie unserem, der ganzen Welt nicht. Bei uns ist meist die Kritik an Gott groß.
Es gab die Maggie Gopran, die viele Kinderheime in den Slumvierteln Kairos besuchte. Das war ein herrlicher Besuch. Sie war Christin und zog ganz in die Armut. Wir überlegten, ob sie eine Mitarbeiterin nach Korntal ins Kinderheim mitnehmen könnte, damit sie sieht, wie es bei uns läuft. Die Mitarbeiterin war richtig depressiv, wenn sie sah, wie viel Geld wir hier einsetzen, während man mit einem Bruchteil dort hunderten Kindern viel mehr geben könnte.
Das ist bei uns schon der Fluch des Geldes, wenn man die schreckliche Not sieht. Wenn sie erzählt, wie sechs bis acht Kinder auf vielleicht vier Quadratmetern leben und von den Nachbarn sexuell missbraucht werden, und sie können sie nicht aufnehmen oder ihnen Heimat bieten, wird einem das Herz schwer.
Uns geht es so gut, und doch beschweren wir uns dauernd über Gott, obwohl er uns so viel gibt. Deshalb sagt die Frau: „Nein, Herr, das ganze Schwere, das Mutterherz, das an der Not zerbricht – warum hat der Teufel noch so viel Macht? Ja, Herr, ich kann vor dir nichts fordern, aber doch!“
Dieses „Aber doch“ trifft das Herz der Liebe Gottes. Wir können sagen, es gibt einen Widerspruch in Gott: Er ist ein rechter Richter, der uns auch zurückweist, und doch dürfen wir seine Liebe fassen.
Das ist es, was ich bei Bodelschwingen sagte: Gott kann sehr hart sein, und doch dürfen wir seine Liebe verkünden. Seine Liebe schenkt er dort, wo er sie schenken will – an den Punkten, genau nur dort. Alles andere können wir nicht einfordern, und wir können die Rätsel unseres Lebens nicht auflösen.
Aber doch genügen mir die Brosamen, die vom Tisch Israels fallen. Dann sagt Jesus: „So etwas habe ich noch nie erlebt – solch einen Glauben.“ Dann wissen Sie, was großer Glaube ist.
Großer Glaube ist, wenn man das Herz Gottes fasst, seine Liebe begreift und daran glaubt: „Ich bin es nicht wert, aber ich glaube.“ Das ist jetzt das Wichtigste in der Seelsorge an Sie heute Abend. Das soll viel bei Ihnen freimachen, auch aus der Bitterkeit, um überhaupt erst das Wunder der Liebe Gottes zu verstehen und zu begreifen, was der Herr Ihnen heute schenken will.
Das war schon eine herrliche Voraussicht, was aus den Heidenvölkern später losziehen wird, um Jesus zu erkennen und an ihn zu glauben. Wir kennen es aus der Apostelgeschichte: Die Syrophönizierin war die Erste.
Jesus sagt zu ihr, dass sie nach Hause gehen kann, alles sei geklärt. Und da wundere ich mich über die Frau noch einmal. Ich würde sagen: „Ha, ja, ist das wirklich so?“ Da sind wir alle sehr skeptisch.
Die Frau glaubt. Vielleicht hat sie gar nicht sofort nach Hause gewollt. Wenn sie unterwegs einen Besuch gemacht hat, wusste sie nicht, was er spricht und was geschieht. Sie hat viel mehr begriffen von dem Heiland Jesus.
Christus als Zentrum der Seelsorge und Lebensaufgabe
Ich habe vorhin gesagt: Christus ist das Wichtigste, was wir dieser Welt bieten können. Er ist der Einzige, der Menschen wirklich versteht. Wenn wir uns selbst erkennen, wird klar, dass es unsere wichtigste Aufgabe ist, andere Menschen zu Christus zu führen.
Wir waren gerade noch ein wenig in den Gesprächen mit dieser ägyptischen Frau. Es ist immer merkwürdig, wenn man aus dem unermesslichen Reichtum dieser alten Kairoer Familien kommt, wo man besonders schöne Mercedes mit Chauffeur fährt, und dann von einem Tag auf den anderen allen Schmuck ablegt. Die Familie im Großen und Ganzen verlässt und sagt: „Ja, Jesus hat mich gerufen.“ Wie macht man das?
Man sagt es, aber man merkt doch selbst: Jesus gibt ja viel mehr. So wie ich es verstanden habe, stand die sterbende Tante da und spürte einfach den Ruf: Jesus gehört es. Geh du hin und tue Gutes, Liebe. Es ist so schön, wenn man das erkennt: Jesus hat Aufgaben für mich.
Wir sind immer falsch programmiert, wenn wir meinen, das, was wir uns erträumen, erwünschen und was andere sagen, sei so wichtig. Stattdessen sollten wir in unserem Leben zu dem Frieden finden, der uns der Herr gibt. Wir haben eh nur ein zerbrechliches Leben und leben nur eine kurze Zeit. Womit kann ich dienen? Wo liegen meine Gaben? Wo kann ich dem Herrn danken?
Ich hoffe, dass Sie heute Abend dankbar nach Hause gehen. Dass Sie die Not zu ihm bringen und Gott wieder ans Herz legen. Er wird dafür sorgen, denn er ist Ihre Zuversicht und Ihre Stärke.
Sie ging nach Hause und fand das Kind auf dem Bett liegen. Der böse Geist war ausgefahren.
Erfahrungen mit Wunden und Geduld im Glauben
Es gibt solche Wunden, die wir in Hülle und Fülle erleben. Gleichzeitig erfahren wir aber auch viele andere Situationen, in denen wir jahrelang warten und beten. Über beides wollen wir Gott preisen. Das eine macht uns gründlich, das andere macht uns dankbar, weil wir wissen, dass er es weiß und dass er der Herr ist. Anders können wir es uns nicht mehr vorstellen.
Das war jetzt einmal die erste Geschichte. Nun noch eine kleine Beobachtung, die zur zweiten Geschichte gehört. Ich weiß nicht, ich habe mein Manuskript ganz auf der Seite liegen lassen. Manchmal drückt man sich nicht klar aus, dann fragen die Leute einfach gleich. Es muss ja nicht so feierlich sein.
Es gibt ein schönes Lied von Wolzersdorf mit vielen, vielen Versen. Darin steht, wie Bettler stehenbleiben und unverschämt handeln, wenn sie angesprochen werden und an die Tür pochen. So sollen wir es wagen, an sein Herz anzuschlagen, getrost und freudig zu beten und nicht von der Stelle zu treten. Wenn lauter Nein erscheint, ist lauter Ja gemeint. Wenn der Verzug am größten ist, soll die Hilfe am nächsten sein.
Das ist eine Erfahrung, die man machen darf – auch im Umgang, im Gebet, in der Sorge und in der Angst, wenn das, was einen bedrängt, schwer wiegt. Es ist auch schön, wenn man diese Worte von einem Christen hört, der das selbst so erlebt hat und es in einer schönen, ästhetischen und stilistisch ansprechenden Weise wiedergeben kann.
Der Weg Jesu durch Tyrus, Sidon und das Gebiet der zehn Städte
Und jetzt kommen wir zu Vers 31. Das ist interessant: Als Jesus wieder aus dem Gebiet von Tyrus fortging, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer. Das ist eine typische Stelle, bei der alle Bibelausleger sagen, Markus habe hier einen Fehler gemacht. Wenn man sich die Karte anschaut – von Tyrus zum Galiläischen Meer, Tyrus, das Galiläische Meer und oben liegt Sidon – sieht man, dass Jesus, wenn er von Tyrus ans Galiläische Meer geht, eigentlich nach Süden geht und nicht nach Norden.
Gerhard Meyer, der in seinem ausgezeichneten Kommentar viel zur Hänseler-Reihe beigetragen hat, erklärt das sehr gut. Er sagt, Jesus ging auf den Spuren des Elija. Das verfolgen wir ja oft: Wie Jesus überhaupt nach der Schrift lebte, so wie schon als Zwölfjähriger im Tempel. Nördlich von Tyrus liegt Sarepta, wo Elija mit der Witwe von Zarpad war, wie es in der Bibel heißt. Sidon war die Heimat von Isebel, einer Prinzessin von Sidon, der Frau von Ahab – eine lästerliche, schlechte Frau.
Wenn man auf der Landkarte schaut, sieht man, wo die Straße verläuft, die große Straße, die am See Genezareth entlang nach unten führt. Das war eine längere Wanderung, auf den Spuren Elijas, um all das noch einmal zu erleben. Übrigens wird das Gebiet in manchen Aufzählungen auch noch zu Israel gerechnet. Für Jesus war es wichtig, auch in diesem Heidenland ein Stück seiner Präsenz zu zeigen.
Jesus kommt nun ins Gebiet der Zehn Städte, das auf Griechisch Dekapolis heißt. Die Dekapolis lag gegenüber von Kapernaum am See Genezareth. Dort waren sogenannte „Zwölfender“ angesiedelt, abgehalfterte Soldaten aus der römischen Armee. Es war ein Mischmasch, deshalb gab es dort auch die Schweine. In Israel gab es Schweine, in die Dämonen von Besessenen gefahren waren. Das war alles gegenüber im Gebiet der Zehn Städte.
Diese Städte waren Neugründungen griechischer Städte. Man kann das bei Josephus nachlesen: Sie lagen gegenüber vom See Genezareth in Richtung Golan. Dort lebten viele Hellenisten. Wahrscheinlich gab es kaum oder keine Synagogen; dort herrschte Heidentum. Das war kulturell so stark verbunden, dass es sich überhaupt nicht mit dem Judentum vertragen konnte. Das war ein großer Konflikt, der bereits den Makkabäerkrieg verursacht hatte.
Das Gebiet der Zehn Städte war Heidenland. Und Jesus geht auch in dieses Heidenland. Er ging ja auch nach Caesarea Philippi, einer ganz heidnischen Stadt, die für einen gläubigen Juden eigentlich nicht infrage kam, da sie nach einem römischen Kaiser, Philippus, benannt war. Caesarea lag an den Jordanquellen.
Jetzt geht Jesus in diese Stadt und findet einen Mann. Vielleicht war er ein Jude, denn Jesus spricht mit ihm auf Aramäisch, der jüdischen Sprache. Dieser Mann war jedoch ein Mensch, der abgeschnitten war – das ist bei einem Stummen und Tauben schwer. Er konnte mit seiner Umwelt nicht kommunizieren.
Was bei tauben Menschen besonders schwer ist: Sie meinen oft, alles, was geredet wird, gelte ihnen. Vielleicht sind sie schon einmal weggegangen, wenn andere Leute gelacht haben, weil sie nicht verstanden, warum sie lachen. Sie denken dann, die lachen sicher über mich. So ängstlich ist man bei Menschen, die nicht kommunizieren können.
Dieser Mann hörte nichts und konnte nur lallen. Er konnte zwar laute Töne hören, aber da er nie das Sprechen gelernt hatte, war es ein Wunder, dass man es heute geschafft hat, so viele Taubstumme zum Reden zu bringen, obwohl sie nicht durch ihre Ohren hören können.
In unserem Gottesdienst ist oft die Tochter des früheren Bischofs Belius dabei, Frau Doktor Ostmann, der ich dann das Manuskript gebe. Sie kann gar nichts mehr hören, das ist schwer. Aber dieser Mann hier hatte sein ganzes Leben nie hören können. Jesus durchbricht diese Isolation.
Was Jesus tut, ist keine Magie. Man muss aufpassen: Es gibt überhaupt kein festes System bei Jesus, wenn er heilt. Mal malt Jesus Figuren in den Sand, mal spricht er nur ein Wort. Bei der Frau aus Syrophenizien hat Jesus gesagt: „Geh nach Hause, deine Tochter ist gesund“, und es ist nichts weiter passiert.
Es gibt keine Methode, durch die Jesus wirkt. Es ist ganz unabhängig, so wie wir nur beten dürfen, und Jesus handelt. Biblisch gesehen gibt es auch keine Handauflegung, die eine Kraft in sich hätte. Rituale und Symbole können einem etwas bedeuten – eine brennende Kerze gefällt einem vielleicht –, aber geistlich gesehen ist das Wirken Gottes nicht davon abhängig.
Ich lege auch gern sehr schwachen Kranken die Hände auf, zum Zeichen, dass man mit ihnen betet. Aber es liegt nicht an der Handbewegung, sondern am Gebet, am Glauben, am Rufen zu Gott. Das ist wichtig, weil heute vieles durcheinanderkommt. Manche glauben plötzlich an Dinge, wenn sie sagen: „Da ist einer bewusstlos umgefallen, als man ihn berührt hat.“ Das sind Phänomene, die wir aus Okkultismus, Religionen und Voodoo kennen. Da sollte man vorsichtig sein. Das hat nichts mit dem biblischen Wirken Gottes zu tun.
Das Entscheidende ist: Warum berührt Jesus diesen Mann? Weil er mit nichts anderem verstehen kann, wer Jesus ist. Darum nimmt Jesus hier die Hände, durchbricht seine Isolation, nimmt Speichel und berührt seine Zunge. So heilt er ihn, genauso wie er andere nur durch sein Wort geheilt hat, zum Beispiel den Sohn des königlichen Beamten oder die Tochter der Syrophenizierin.
Jesus handelt, weil er das Elend eines Menschen erkennt. Er sagt zuerst zu dem Menschen: „Ich verstehe dich mit deiner Not.“ Jesus weicht dem Elend nicht aus, sondern geht auf ihn zu und sieht es. Wir schrecken oft vor dem Elend zurück, weil es unheimlich ist. Hoffentlich muss ich mich nicht damit beschäftigen, denken wir. Und dann sitzen wir an dem Bett und können das schwere Leiden kaum ertragen. Das kann man kaum mit ansehen.
Jesus geht hin, sieht deine Not, nimmt sich deiner Not an und spricht sein lösendes Wort. Das Entscheidende, was Jesus gibt, ist der Blick nach oben. Jesus tut nur, was ihm der Vater gibt. Darum sagt er auch: „Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Er blickt auf, seufzt und bittet den Vater um sein Eingreifen. Dann spricht er das Wort: „Hevata“ – „Tu dich auf!“
Uns fällt es oft schwer, wenn Gott dieses Wunder nicht tut. Ich erinnere mich an einen Heimatpfarrer in unserer Johannesgemeinde am Feuersee, der darüber gepredigt hat. Er hatte eine Tochter, die taub war. Die Predigt bewegte die Gemeinde sehr, weil Jesus genau das nicht erfüllte, was man erwartet hatte.
Doch es ist nicht so, dass Gott versagt. Ich habe so viele Wunder mit meinem Herrn erlebt. Warum versagt es dann manchmal? Es ist schön, wenn eine Gemeinde solche Not mitträgt, wenn ein Mensch ein ganzes Leben so durchgehen muss.
Der Lieddichter Blume hat ein schönes Lied geschrieben: „Sei still zu Gott“, wie das „Hevata“ einmal in der Ewigkeit erschallen wird, wenn die Lahmen springen wie ein Hirsch. Die Sehnsucht nach der himmlischen Erlösung, die bei uns oft gar nicht mehr vorkommt, ist sehr wichtig. Denn in dieser Welt löst sich nur ein kleiner Teil auf, trotz aller Wunder, die Gott in Hülle und Fülle tut.
Was erleben wir täglich? Unser Leben ist voll von Bewahrungen Gottes, von Wunderheilungen und vielem anderen. Trotzdem gibt es so viele Menschen, denen Gottes Wunder versagt haben. Die Sehnsucht bleibt: Wie wird es sein, wenn ich einmal einen neuen Leib habe in der Herrlichkeit? Wenn wahr wird, dass all das Leiden dieser Welt weggenommen wird.
Das Leben als gezeichnet von Leiden und Gottes Wirken durch Schwache
Dieses Leben ist geprägt von Leiden, und Jesus geht darauf ein. Das ist vielleicht der Hauptirrtum: Mit dem Satz „Jeder Mensch hat Anspruch auf Gesundheit“, wie es in den Leitsätzen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) heißt, stellt sich die Frage: Wer von Ihnen ist wirklich gesund? Wer ist gesund? Vor allem, wer von den jungen Menschen ist gesund?
Der Mensch lebt mehr oder weniger mit Belastungen, die Gott ihm oft schon von Kindertagen an auferlegt. Manche Kinder durchleben schon schwerste Krankheiten. Vielleicht sind sie dadurch mehr beschenkt als andere. Wer das nie erlebt hat, weiß das nicht.
Ich habe vor ein paar Tagen noch einmal in der Biografie von Traugott Hahn gelesen. Er war der Urgroßvater oder der Großvater vom Kultusminister Hahn. Seine Mutter hatte schon als Kind ein schweres Beinleiden. Ihr Mann erzählte später, dass sie viele Jahre nur im Lehnstuhl saß und eigentlich nie schmerzfrei war – fast die ganze Ehe lang. Er sagte, selten habe ein Mensch so geduldig sein können. Sie habe auch nie mehr getroffen und sei so auf andere zugegangen, weil sie als Kind nie mit anderen Kindern spielen konnte. Sie konnte nie rennen. Das hat sie tief gemacht, und es hat sie reich gemacht – viel mehr, als viele Gesunde entdeckt haben.
Ich glaube, da liegt bei uns immer etwas Falsches vor, weil wir den perfekten Menschen als Vorbild haben. Bei Gott ist es oft so, dass er viele kranke Menschen mehr zum Segen gesetzt hat. Ich wünsche ihnen trotzdem Gesundheit, aber es wäre schön, wenn man entdecken würde, dass unser Schönheitsideal auch als Zeichen des Segens Jesu verstanden wird. Da strahlt einer, kann alles, leuchtet und sieht super aus, wie aus der Werbung. Das ist aber nicht das geistliche Leben.
Jesus hat doch mit zerbrochenen Menschen gearbeitet. Paulus hatte keine Gestalt und Schönheit. Später haben sie ihn immer heruntergemacht: Er hätte keine Erscheinung, seine Rede sei schwach. Das ist merkwürdig, denn Gott hat die größten Wirkungen oft durch schwache Menschen bewirkt.
Es ist jetzt sehr wichtig, dass wir erkennen, wie Jesus handelt und damit seine Größe und Macht als Heiland zeigt. Wir stehen hier in der Offenbarung Jesu, so wie er es am Grab des Lazarus tut, bei der Speisung der Fünftausend und bei vielen anderen Gelegenheiten. Er ist der Heiland und Retter, und in seiner Hand liegt das lösende Wort. Da taten sich seine Ohren auf, die Fessel seiner Zunge löste sich und er redete richtig.
Es ist auch wichtig zu sehen, dass Gott es weiß. Es wäre ihm leichtgefallen, volle Gesundheit zu schenken. Auch Paulus wurde die volle Gesundung nicht gegeben. Er hat dreimal zum Herrn gefleht, doch der sprach: „Lass dir meine Gnade genügen.“ Paulus durfte den toten Eutychus auferwecken, der vom Söller gefallen war – vom Obergeschoss. Er musste aber selbst an seinem eigenen Leib die Schwäche tragen.
Das liegt nicht daran, dass Gott nicht kann, sondern daran, dass Gott oft durch zerbrochene Menschen mehr wirken kann als durch Gesunde. Ein Beispiel ist Ludwig Hofacker. Wäre er Mittelstürmer beim VfB gewesen, wäre seine Predigt sicher nicht so gehaltvoll gewesen. Es ist oft ein Geheimnis Gottes, warum das so ist.
Jesus erlaubt nichts, was man einfach so abtun kann. Er nimmt die Menschen besonders an. Er will keine Schau. Das haben wir oft schon gesehen. Gerhard Mayer schreibt dazu in seinem Kommentar: Jesus handelt gegen die Gesetze der modernen Publizistik.
Ich weiß, ich stoße bei Ihnen auf Widerstand, wenn wir uns in manchen Themen wie in einem Wespennest bewegen. Die Hauptfrage ist für mich: Wenn Wunderheilungen so sensationell dargestellt werden, widerspricht das nicht total dem Neuen Testament, wo Gott Wunder tut? Diese Wunder sind nie eine Show. Jesus könnte heute auch Wunder wirken, aber er nimmt den Mann besonders an. Er handelt an der Seele dieses Mannes und will keine Schau daraus machen, obwohl er es vertragen würde.
Die Leute breiten das trotzdem weiter aus. Warum? Jesus will nicht der große Star sein. Er geht den Leidensweg und will ihm nicht ausweichen. Es gibt einen großen Jubel, weil er alles wohlgemacht hat. Obwohl in dieser Welt so viel Leid ist, ist das der vorweggenommene Jubel der endgültigen Erlösung.
In diesen Jubel dürfen wir immer schon einstimmen, in der Vorfreude auf das, was kommen wird, wenn Jesus alles Leid wegnimmt. „Es wird einmal der Tod herspringen“, heißt es bei Paul Gerhard. Wir werden uns von dieser Welt losreißen, und erst dann wird diese Welt neu sein.