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Jedermann

"Jedermann ging, dass er sich schätzen ließe."
24.12.1986Lukas 2,3
Gott hat jedermann nicht eingeschätzt wie Augustus, nicht abgeschätzt wie Herodes und nicht geringgeschätzt wie der Wirt. Gott hat ihn an Weihnachten wertgeschätzt. In der Krippe liegt kein goldiges Schätzchen, sondern der Schatz Gottes. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

 Lukas 2 ist die Weihnachtsgeschichte für den Weihnachtsmann. So vermuten die einen. Er kann doch nicht nur mit Zottelbär und Panthertier, Ross und Esel, Schaf und Stier kommen. Wenn schon Kinder, Vater und Mama, ja sogar der Großpapa mit Schmerzen wart­en, dann muss er auch eine Geschichte im Sack haben, die ans Gemüt geht. Ein junges Handwerkerehepaar findet kein freies Plätzchen im ganzen Flecken. Deshalb kommt das Kind im Viehstall zur Welt. Nur Ochs und Esel sind Zeugen dieser einzigartigen Geburt. Der Weihnachtsmann kann sich mit einer solchen Geschichte sehen lassen.

Oder Lukas 2 ist die Weihnachtsgeschichte für den Kirchen­mann. So vermuten die andern. Er kann doch nicht nur über Schuld und Strafe, Gesetze und Gebote, Teufel und Hölle predigen. Wenn schon Junge, Alte und Mittelalterliche, ja sogar die ganze Familie einmal zur Christvesper erscheint, dann muss er eine Geschichte in petto haben, die ans Herz geht. Ein strahlendes Licht ver­treibt die Nacht. Leibhaftige Engel machen die Musik. Friede, ewiger Friede senkt sich auf die Erde herab. Der Kirchenmann kann sich mit solcher Geschichte hören lassen.

Oder Lukas 2 ist die Geschichte für den Sohnemann. So vermuten die dritten. Er kann doch nicht nur Asterix und Obelix, Fix und Foxy, Clever und Smart lesen. Wenn schon Bücher, Hefte und Schriften, ja sogar Hör- und Videokassetten auf dem Gabentisch liegen, dann muss er auch eine Geschichte zur Hand haben, die unter die Haut geht. Wetterfeste Burschen kriegen es mit der Angst zu tun. Gestandene Hirten fangen an zu zittern. Eine ungewöhnliche Nacht bei den Pferchen. Der Sohnemann kann sich mit dieser Geschichte die Zeit vertreiben lassen.

Aber liebe Gemeinde, Lukas 2 ist nicht nur für den Sohnemann oder Kirchenmann oder Weihnachtsmann. Das ist die Weihnachtsgeschichte für jedermann. Jedermann ist angesprochen, wenn von Maria und Josef gesprochen wird. Jedermann ist aufgerufen, wenn von Freude und Friede gerufen wird. Jedermann ist gemeint. Es ist jetzt keiner in der Stiftskirche, dem der ein anderer Mann oder eine andere Frau wäre und dem die Weihnachtsgeschichte nichts zu sagen hätte. "Jedermann ging, dass er sich schätzen ließe." Jedermann.

Wie, und das ist die Frage dieses heiligen Abends, wie wird nun Herr Jedermann eingeschätzt?

Für Kaiser Augustus war er ein nützliches Wesen. Dieser römische Strahlemann verwandelte die vereinigten Hüttenwerke Roms in eine glänzende Marmorstadt und sicherte sich die Gunst seiner Untertanen durch panem et circenses, Brot und Spiele, Parties und Freibier. Weil diese wählerfreundliche Politik aber äußerst kostenintensiv war, schickte er seinen Finanzexperten Quirinius in die Provinz, um den kleinen Leuten die Steuerschrauben anzulegen. Herr Jedermann soll zahlen. Immer soll er zahlen mit seinem Geld, immer soll er blechen mit seinen Moneten, immer soll er bluten mit seiner Kraft und Gesundheit. Für die Begleichung der Rechnungen, die die Großen machen, sind wir immer gut genug. Als Nutzobjekt werden wir eingeschätzt.

Und für König Herodes war er ein schädliches Wesen. Dieser idumäische Bluthund witterte überall Konkurrenz und richtete deshalb mit eiserner Härte. Die unschuldigen Säuglinge von Bethlehem lieferte er genau so ans Messer wie seine Frau Mariamne und deren gütige Mutter. Herr Jedermann darf nicht mucken. Immer darf er nicht mucken im Betrieb. Immer darf er nicht meckern im Geschäft. Immer darf er nicht seine Meinung sagen. Im Konzert, das die andern machen, haben wir immer nichts zu melden. Als Konkurrenten werden wir eingeschätzt.

Und für den Wirt von Bethlehem war er ein übriges Wesen. Dieser judäische Hotelier war Krisengewinnler und sein Weihnachtsliedlein ging nach dem Reim: Süßer die Kassen nie kling­eln als zu der Volkszählungszeit. "Kein Zimmer frei" hieß es an der ländlichen Absteige, die keine Matratze mehr anbieten konnte. Herr Jedermann war übrig. Immer ist er übrig, schon als Lehrling, weil die Lehrstellen voll sind. Immer ist er übrig, auch als Arbeiter, weil die Arbeitsstellen voll sind. Immer ist er übrig, sogar als Alter, weil die Altersheime voll sind. In der Massen­gesellschaft, die sich ständig ausweitet, spielen wir immer nur eine übrige Rolle. Als Nichtse werden wir eingeschätzt.

Liebe Freunde, wenn das alles wäre, ein übriges Nichts, wenn das die ganze Wahrheit wäre, ein schädlicher Konkurrent, wenn nicht mehr über unser Leben zu sagen wäre, ein nützliches Objekt, dann wäre es wahrlich zum Heulen. Gott sei Dank gibt es aber noch eine ganz andere Schätzung und die stammt von keinem Geschöpf, sondern von dem Schöpfer selber. Er hat wider Erwarten diesen aufmüpfigen, selbstverliebten und oft gottlosen Menschen nicht eingeschätzt wie Augustus, auch nicht abgeschätzt wie Herodes, erst recht nicht geringgeschätzt wie der Wirt. Gott hat ihn wertgeschätzt. Sein einziger Sohn war ihm nicht zu teuer, um diese Wertschätzung sichtbar zu machen. Er riss sich sein bestes Stück vom Herzen und ließ es auf Erden Fleisch werden. So hat Gott die Welt geliebt, so hat er sie geschätzt, dass er seinen einzigen Sohn hingab. In der Krippe liegt kein goldiges Schätzchen, das unser Dideldumdei nötig hätte, sondern der Schatz Gottes, der uns den Höchstpreis seiner Liebe zeigt. Lukas 2 ist ein einziges Schatzbrief. Mehr als seinen innig geliebten Sohn kann sich seine Liebe nicht kosten lassen. Seit der Geburt Jesu Christi steht ein für allemal fest: Jedermann ist hochgeschätzt. Die Maria mit ihrem Kind unterm Herzen genau so wie Josef, der seine schwangere Braut nicht ein­fach sitzen ließ. Jedermann ist hochgeschätzt. Auch die Hirten, die wahrlich nicht zur High-society zählten, weil sie für eine Lüge, eine Rauferei oder einen Diebstahl immer gut waren. Jedermann ist hochgeschätzt. Sogar die babylonischen Sterngucker, Professoren der Astrologie aus dem finstersten Heidenland, die aufgrund eines neuen Himmelskörpers ihre Kamele sattelten und gen Westen zogen, immer dem Lichte nach. Der Hochgelehrte und Analphabet, der Weltbekannte und Namenlose, der Muskelprotz und Schwächling, der Krösus und arme Schlucker, jedermann ist hochgeschätzt. Keiner ist unter Wert verkauft. Alle können mit dieser Einschätzung rechnen.

Nun mag ich im Abitur nicht gerade glänzend abschneiden, weil ich die Arbeit im Leistungsfach glatt verhauen habe, aber sein gutes Zeugnus eröffnet mir einen Lebensweg unter dem offenen Him­mel. Nun mag ich in der eigenen Familie die größten Probleme hab­en, weil mir die eigenen Kinder nur die kalte Schulter zeigen, aber seine große Wärme schenkt mir eine Atmosphäre der Geborgen­heit. Nun mag ich sogar auf dem Sterbebett landen, weil alle medizinischen Künste nichts mehr bringen, aber seine umfassende Hilfe reißt sogar den Todeshorizont auf und läßt mich im letzten Augenblick meines Lebens singe: Mit dir will ich endlich schweben voller Freud, ohne Zeit, dort im andern Leben. Die Hochschätzung Gottes gilt.

Und wenn Sie immer noch mit Ihren Zweifeln kommen und auf die Allerweltsweisheit hinweisen möchten, dass schätzen fehlen kann, dann wenden Sie bitte Ihren Blick von Bethlehem nach Golgatha. Auch draußen vor der Tür, genau so wie in dem elenden Nest, ist dieser Herr zu finden. Das Kreuz ist aus demselben Holz geschnitzt wie die Krippe. Jesus neigte sein Haupt und ver­schied. Das ist der Höchstpreis. Das ist der Schätzwert. Mehr als sein Leben kann man nicht einsetzen. Jetzt muss es doch der Blinde sehen. Jetzt muss es doch der Taube hören. Jetzt muss es doch der Stumme sagen: Jedermann ist hochgeschätzt. Jetzt muss es doch dies Echo geben: "Jesu wie soll ich dir danken? Ich bekenne, dass von dir, meine Seligkeit herrühr!" Jetzt muss es doch Weihnachten werden - bei jedermann.

Amen