
Herr, hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Machbar, dem Podcast für Alltagsmissionare. Ich bin Christian, und heute ist Alex Reindl, Gemeindegründer aus Innsbruck, zu Gast. Herzlich willkommen, Alex. Danke für die Einladung.
Alex, wir reden heute über Gastfreundschaft. Das ist eine große Leidenschaft von dir, und wir schauen auch heute mal etwas über den deutschen Tellerrand hinaus.
Was ist so der geistliche Grundwasserspiegel in Österreich, wo du zu Hause bist? Wir wollen uns darüber unterhalten, außerdem über die Freuden und die Frustrationen in der Gemeindegründungsarbeit und was das Ganze auch mit der Titanic zu tun hat.
Alex, stell dich doch mal ganz kurz vor: Wer bist du, was machst du und wen aus der Bibel würdest du zu einem Abendessen einladen, wenn du könntest?
Ich bin Alex Reindl, Österreicher und auch wohnhaft in Österreich. Ich bin verheiratet mit Anna, und wir haben drei Kinder im Alter von neun, sieben und fünf Jahren. Das ändert sich ständig, da muss man immer nachdenken. Wir wohnen südlich von Innsbruck, ungefähr 15 Minuten von der italienischen Grenze, und sind vor sieben, acht Jahren in ein kleines Tal gezogen, eine ländliche Region, mit dem Ziel und der Vision, auch Gemeinde zu gründen.
Vom ersten Bildungsweg bin ich Wirtschaftsingenieur. Ich war lange in der Wirtschaft tätig, zuletzt als Berater. Vor etwa vier Jahren habe ich die Wirtschaft verlassen. Ich habe lange Zeit Teilzeit gearbeitet und nebenbei verschiedene geistliche Dienste übernommen. Jetzt bin ich seit knapp vier Jahren im vollzeitlichen geistlichen Dienst.
Mein Dienst teilt sich auf drei Baustellen auf, wenn man so sagen darf. Mein Hauptherzensmotiv und Anliegen ist auf jeden Fall die Gemeindearbeit, die Gemeindegründung. Dort bin ich etwa zwei Tage die Woche aktiv. Einen weiteren Tag arbeite ich bei Evangelium 21 als Geschäftsführer des Netzwerks. Und zwei Tage die Woche verbringe ich idealerweise bei Verbum Medien, einem Buchverlag, den wir vor vier, fünf Jahren gegründet haben.
Von daher verbringe ich viel Zeit mit Theologie und mit Menschen – und das seit ungefähr vier Jahren auch Vollzeit sozusagen.
Wen würde ich in der Bibel zum Abendessen einladen? Das ist eine gute Frage. Ich glaube tatsächlich den Schächer am Kreuz. Das ist eine faszinierende Figur, wenn du mich fragst. Er ist in keinster Weise in einer christlichen Bubble aufgewachsen und wurde am Ende von Jesus eingeladen, bei ihm zu sein.
Ich finde es ganz spannend, sich das so vorzustellen und die Phantasie anzukurbeln, wie das für den gewesen sein muss, im Thronsaal aufzuwachen. Und dann vielleicht von dem einen oder anderen Engel gefragt zu werden: Wie in aller Welt hast du es hierher geschafft? Und alles, was er sagen konnte, ist: Der Mann am mittleren Kreuz hat mich eingeladen.
Das bewegt mich, wenn ich über den Typ nachdenke. Ich denke, das ist eine herrliche Illustration vom Evangelium. Mit dem zu sprechen, wie das alles abgelaufen ist, wäre spannend.
Ja, sehr interessant. So kurz vor Toreschluss hat er noch die Gnade bekommen.
Ja, das klingt interessant. Ich weiß nicht, ob du Alistair Begg kennst. Er ist ein Prediger aus den USA, der jetzt in Cleveland lebt. Eigentlich ist er Brite, aber jetzt Pastor in Cleveland. Vor ein paar Monaten hat er eine Predigt gehalten, in der er diese Illustration vom Schächer am Kreuz verwendet hat, um klarzumachen, dass das Evangelium letztlich dahinführen muss, dass ich sage: Meine Hoffnung, beim ewigen Gott zu sein, liegt außerhalb von mir und bei dem, der mich einlädt – und in keinster Weise bei dem, was ich tue.
Er hat den Schächer am Kreuz ziemlich humorvoll und plastisch dargestellt, und das ist mir ganz neu nahegegangen. Seitdem denke ich öfter über den Kollegen nach.
Das ist spannend.
Ja, schön. An euch, die ihr zuhört: Wenn noch nicht geschehen, abonniert unbedingt unseren machbaren Newsletter, der euch regelmäßig mit Gedankenanstößen, praktischen Tipps und auch ermutigenden Testimonials versorgt.
Alex, wir wollen über Gastfreundschaft sprechen. Du hast vor kurzem auf der E21-Konferenz ein Seminar zu diesem Thema gehalten. Warum liegt dir Gastfreundschaft so sehr am Herzen?
Ich denke, es gibt dafür zwei Hauptgründe. Zum einen ruft die Bibel und der Charakter Gottes – also der theologische Grund – ganz deutlich dazu auf, Gastfreundschaft als ein enorm wichtiges und kraftvolles Thema zu sehen. Zum anderen erlebe ich persönlich, und ich glaube, dass es allgemein so ist, dass Menschen einsam sind. Besonders in unserer Zeit wird das deutlich. Die Corona-Zeit war ein guter Einblick hinter manche Kulissen, die vorher vielleicht von einer selbstbewussten Fassade verdeckt wurden. Schnell wurde klar, wie einsam viele Menschen sind und wie sehr die Performance-Kultur dazu führt, dass wir uns gegenseitig etwas vormachen. Das vergisst man leicht.
Ich glaube, die Zeit ruft geradezu danach, dass Gastfreundschaft ein enormes Potenzial hat. Das ist der eine Grund – ein Blick auf unsere Zeit. Zum anderen, wenn wir in die Bibel schauen: Der Charakter Gottes, der ewig existiert als Vater, Sohn und Geist, ist untrennbar mit Beziehung verbunden. Gott, der reine Gott der Bibel, existiert nicht außerhalb von Beziehung und absoluter Zufriedenheit in sich selbst.
Der Grund, warum Gott die Welt geschaffen hat, ist nicht, weil ihm etwas fehlt, sondern weil er einladen wollte in diese herrliche, trinitarische Zufriedenheit, in diese Liebe. Deshalb schuf er Menschen und lädt sie zu sich ein.
Ein Blick in die Bibel genügt, um an vielen Stellen zu sehen, wie oft von Gastfreundschaft die Rede ist. Im Neuen Testament gibt es konkrete Aufforderungen, gastfrei zu sein. Zum Beispiel sollen die ältesten Diakone gastfreundlich sein. Warum? Ich glaube, das hat viel mit dem Charakter Gottes zu tun und damit, wie das Evangelium diesen Charakter plastisch und greifbar darstellt.
Gottes Metageschichte mit uns ist eine Geschichte der Einladung. Wir, die wir eigentlich nichts verdient haben, werden von ihm eingeladen, an seinem Tisch zu sitzen. Und diese Einladung dürfen wir durch Gastfreundschaft nachahmen. Wenn wir Menschen bei uns am Tisch haben – zum Beispiel beim Essen, das nicht zwingend sein muss –, erinnern wir daran, dass Gott derjenige ist, der Hunger und Durst stillt und dass er uns einlädt, zu ihm zu kommen.
Jesus selbst ist der letzte Gastgeber für seine Jünger beim letzten Passamahl, bevor er ans Kreuz geht. Er sagt zu ihnen, dass er es nicht mehr feiern wird, bis er wiederkommt. Mit anderen Worten: Er wird es wieder mit seinen Jüngern feiern, mit uns. Er wird wieder Gastgeber für uns sein.
All diese Bilder und Prinzipien zeigen, dass Gott ein Gastgeber ist. Auf wunderbare Weise können wir Gott nachahmen und widerspiegeln, wenn wir andere einladen. Darum bewegt mich das Thema so sehr. Wir erleben es auch als Familie: Gastfreundschaft hat enormes Potenzial und macht viel Freude.
Ja, da gehen wir gleich noch ein bisschen in die Tiefe. Aber würdest du auch sagen, dass das Ziel von Gastfreundschaft eigentlich darin besteht, diese Einladung Gottes widerzuspiegeln?
Ja, absolut. Wir laden ein, weil wir selbst Eingeladene sind. Das kann uns helfen, das zu verstehen.
Und dazu ist ja eigentlich jeder Christ berufen, jeder Jesusjünger, oder? Dass er zur Gastfreundschaft berufen ist – nicht nur besonders begabte oder berufene Menschen. Wie siehst du das?
Ganz genau so. Ich denke, das ist schon so. Da kommen wir bestimmt noch dazu, wenn wir ein bisschen praktischer darüber reden. Es gibt natürlich Hürden und Barrieren. Je nachdem, wie man Gastfreundschaft definiert und wie man sie praktisch lebt oder gewohnt ist, wie man sie bei anderen erlebt hat, kann es sein, dass sich der eine oder andere überfordert fühlt. Vielleicht denkt man, das sei etwas nur für Superchristen oder ganz besonders Soziale.
Aber ich glaube, ganz wie du sagst, dass jeder von uns dazu berufen ist, diese Einladung Gottes, also Gottes Charakter, nachzuahmen und widerzuspiegeln. Das ist wirklich eine meiner Leidenschaften, die hoffentlich auch bei dem Seminar, das du angesprochen hast, rüberkam: Gastfreundschaft soll machbar sein für den Alltag. Es ist nichts nur für die wenigen Superreichen oder Supersozialen, sondern etwas, das wir alle im Kleinen üben können.
Im Neuen Testament gibt es einige klare Aufforderungen und Ansagen zur Gastfreundschaft. Ich denke zum Beispiel an 1. Petrus 4,8-9: „Seid gastfrei gegeneinander, ohne Murren.“ Auch im Hebräerbrief wird dazu aufgerufen, Gastfreundschaft zu üben. Es gibt mehrere Bibelstellen, die diese Aufforderung ganz klar machen.
Aber vielleicht kann man es auch andersherum fragen: Was ist biblische Gastfreundschaft nicht?
Ich würde, glaube ich, genau da beginnen und daran erinnern, dass Gastfreundschaft eben nicht – im Englischen klingt manches so viel cooler – „Bless do not impress“ ist. Es ist ein Tenor, der uns, glaube ich, oft begegnet. Auch Herr Freud hat darauf hingewiesen, dass wir oft, zum Teil auch kulturell geprägt, versuchen, mit dem, was wir anbieten, mit dem Einladen zu beeindrucken.
Manch einer kennt vielleicht den Spruch „Gast ist König“, den die Oma beigebracht hat. Dahinter steckt eine gute Motivation: Man möchte den Gast gut behandeln. Das würde ich auf jeden Fall auch unterschreiben. Aber was manchmal passiert, ist, dass wir uns in einer ungesunden Weise um den Gast drehen und ihn fast unangenehm in den Mittelpunkt stellen.
Dabei geht es bei Gastfreundschaft eigentlich darum, Beziehung zu leben und in das Leben voneinander einzuladen, Leben zu teilen. Dabei kommt auch ungeschminkt manches Nichtideale zum Vorschein, das einfach Teil unseres Lebens ist. So lernen wir aneinander.
Darum würde ich sagen: Gastfreundschaft ist nicht dazu da, zu beeindrucken oder eine Performance darzubieten. Ich erlebe das hier bei uns im Tal, wo Gastfreundschaft, im Unterschied zu der Stadt, in der wir vorher einige Jahre gewohnt haben, viel natürlicher passiert. Menschen laden sich auf dem Land noch ein, man spricht miteinander über den Zaun.
Sehr oft beginnt die Dynamik aber mit der Einladung, und man kommt zu einem Abend, bei dem von der veganen Duftkerze bis zum perfekten Fünfgängemenü alles perfekt sein soll. Die ganze Atmosphäre ist durchdacht. Natürlich drückt die Person in dem Moment schon Liebe aus und meint es wirklich gut.
Aber das schaukelt sich enorm hoch, und die Erwartung bei der Gegeneinladung ist oft: „Das nächste Mal sind wir dran.“ Ob es dann jemals dazu kommt, sei dahingestellt. Wenn du dann zu mir kommst, setze ich noch eine Schippe drauf.
Das ist natürlich etwas polemisch dargestellt. Niemand nimmt sich das so vor. Aber oft erleben wir, wenn wir mit Menschen hier aus dem Dorf Zeit verbringen wollen, dass es Wochen dauert, bis man Termine findet und etwas ausmacht. Die Erwartung, wie das ablaufen muss, ist teilweise sehr hoch.
Wenn nicht drei Tage vorher alles geplant ist, am gleichen Tag keine anderen Termine frei sind, die Wohnung perfekt geputzt und ich Zeit habe, grandioses Essen vorzubereiten, dann kann ich Gastfreundschaft nicht leben.
Darum würde ich sagen: Gastfreundschaft ist nicht ein verkrampftes Sich-total-überfordern, das Leben auf den Kopf stellen, damit eine Einladung passieren kann. Das ist es nicht.
Vielmehr ist Gastfreundschaft eine Kultur, in der Menschen Teil meines Lebens werden können. Wir erleben miteinander die Dinge, die im Alltag einfach passieren. Häuser und Tische öffnen, damit Menschen mit uns sind – das ist uns sehr wichtig geworden.
Man macht einfach die Tür auf und lässt andere am eigenen Leben teilhaben. Es ist normal, dass auch ein Gast da ist und mit am Tisch sitzt.
Gastfreundschaft muss nicht unbedingt Essen beinhalten. Oder?
Genau, das würde ich sagen. Manche glauben, sie müssten vorher ihre Wohnung auf Vordermann bringen und einen Reinraum vorweisen oder einen Kochkurs gemacht haben. Nein, das glaube ich überhaupt nicht.
Wenn du nicht kochen kannst, ist das kein Problem. Du kannst dir auch eine Pizza bestellen oder ein paar belegte Brötchen besorgen. Dann gehst du mit dem Gast in den Park, wenn deine Wohnung oder WG das nicht hergibt.
Es muss keinesfalls Essen beinhalten. Ich kann mich mit jemandem treffen, mit ihm Zeit verbringen, zum Beispiel bei einem Spaziergang. Ältere Personen, Singles oder auch Familien kann man einladen. Wir treffen uns im Park, ich spiele mit den Kindern oder lade sie auf eine Runde Eis ein.
Das kann total einfach passieren. Entscheidend ist die Intentionalität, das bewusste Überlegen: Wie kann ich Zeit mit diesen Menschen verbringen? Wie kann ich ihnen Liebe zeigen? Letztlich geht es um diese Einladung.
Gott hat mir Dinge anvertraut. Wie kann ich diese großzügig teilen, damit andere ermutigt werden, Jesus kennenzulernen, wenn sie ihn nicht kennen? Oder von ihm begeisterter werden, wenn sie schon mit ihm unterwegs sind und in der Jüngerschaft wachsen?
Also nein, ich glaube nicht, dass Gastfreundschaft Essen beinhalten muss.
Gleichzeitig glaube ich, dass die meisten von uns zwei- bis dreimal am Tag essen. Laut Adam Riese sind das 14 bis 21 Mahlzeiten pro Woche. Das passiert ja im allermeisten Fall sowieso.
Da einfach zu sagen: „Hey, hast du Lust, dass wir dieses Abendessen zusammen verbringen?“ – theoretisch auch nur mit unseren Brötchen, irgendwo im Park – das ist total unkompliziert.
Ich glaube auch, dass Essen in der Bibel eine große Rolle spielt. Gemeinsames Essen bringt viel miteinander zum Ausdruck. Wir genießen in der Regel gute Gaben und freuen uns an dem Geber der Gaben.
Essen ist unglaublich locker. Aber es muss eben nicht unbedingt Essen beinhalten, das glaube ich auf jeden Fall.
Wenn du gerade die Bibel erwähnst und die Rolle von Essen in der Bibel: Die Kultur in der Region, in der die Bibel entstanden ist, ist eine ganz andere als bei uns hier.
Wir haben eher eine Nichtkultur, eine Fastfood-Kultur, schnell noch Essen oder außer Haus essen und so weiter.
Aber du hast Recht, ich selbst habe auch die Erfahrung gemacht, gerade in der Familie, dass Gastfreundschaft eine tolle Möglichkeit ist. Und halt es einfach. Es muss nicht kompliziert sein.
Aber Alex, was denkst du – abgesehen von den praktischen Herausforderungen? Manche sagen ja: „Ich habe nicht genug Platz“, oder „Meine Wohnung ist nicht ordentlich“, oder „Ich wohne in einer WG“ und so weiter. Was hindert uns oft daran, Gastfreundschaft auszuleben?
Ja, ich glaube, manchmal sind es diese Vorstellungen oder Erwartungen, was ich jetzt leisten oder beitragen muss. Wenn du zum Beispiel in einer WG wohnst und dir sogar das Zimmer mit einem Kollegen teilst, was manche Studenten machen müssen, ist es völlig klar, dass du nicht einfach ohne Rücksprache jemanden einladen kannst. Vielleicht möchte dein WG-Kollege das ja auch teilen.
Ich habe damals mit meinem Schwager – damals bester Freund, heute Schwager, so lautet der Witz – zusammengewohnt. Wir haben uns bewusst eine größere Wohnung gesucht, weil wir das als Studenten praktizieren wollten. Fast jeden Abend hatten wir irgendwie Jungs bei uns. Teilweise haben wir auch Leute von der Straße aufgenommen – es war eine wilde Zeit.
Vielleicht kann man Gastfreundschaft also mit einem WG-Kollegen zusammen leben. Wenn das nicht geht, kann Gastfreundschaft auch außerhalb des Hauses stattfinden. Praktisch gesehen hält uns manchmal das ab, was wir an Erwartungen an uns selbst haben: Was muss ich da jetzt alles mitbringen, um jemanden zu bewirten? Oft ist weniger mehr.
Auf der anderen Seite habe ich auch die Erfahrung gemacht – zumindest ging es uns so beim Nachdenken und im Laufe der Jahre, in denen wir unser Herz besser verstehen lernten –, dass manchmal Stolz uns im Weg steht, gastfreundlich zu sein. Um das kurz zu erklären: Es gibt einen offensichtlichen Stolz, der sich äußert in Gedanken wie „Ich habe keine Zeit“, „Ich habe keine Lust“ oder „Ich habe Besseres zu tun“. Wir leben in einer extrem vollen Zeit, wenn man unsere Kalender anschaut. „Ich habe keine Zeit“ ist vielleicht der Spruch des Jahrtausends.
Diesen Stolz zu überwinden, gelingt nicht durch Moral, schlechtes Gewissen oder gute Vorsätze. Sondern durch die Frage: Steckt da nicht auch Stolz dahinter? Dass ich sage: Für meine eigenen Sachen muss ich mir mehr Zeit nehmen als für andere Menschen.
Noch viel öfter, und die wenigsten würden das so offen zugeben, ist Stolz viel subtiler. Er versteckt sich hinter Ausreden wie „Ich bin eben kein guter Koch“. Dahinter steckt eigentlich der Wunsch, dass die Person denkt, ich sei ein guter Koch. Oder: „Meine Wohnung ist unordentlich“, oder „Wenn ich jemanden einlade, sieht er, dass ich kein perfekter Papa oder keine perfekte Mama bin, und dann denkt er schlecht von mir.“ Die Liste ließe sich fortführen.
Was dahinter steckt, ist oft, dass wir Anerkennung von anderen wollen. Wir möchten, dass sie gut von uns denken. Das ist menschlich absolut nachvollziehbar, so ticken wir. Aber es ist auch eine versteckte Form von Stolz. Denn das Ziel von Gastfreundschaft ist nicht, andere zu beeindrucken, sondern dass sie sehen, dass ich trotz meiner Baustellen, trotz meiner unperfekten Kochkünste – ich kann wirklich nicht kochen – gastfreundlich sein kann.
Ohne die wunderbare Frau an meiner Seite würden wir ganz anders zusammen essen. Ich habe das auch als Single anders erlebt. Wenn das Ziel nicht ist, andere zu beeindrucken, und dahinter kein versteckter Stolz steht, dann kann Gastfreundschaft gelingen. Ich glaube, ich habe das selbst erlebt, dass Stolz der Gastfreundschaft im Weg stehen kann.
Also: Zu hohe Erwartungen und manchmal auch Stolz. Stolz überwinden wir nicht durch Moral, schlechtes Gewissen oder gute Vorsätze, sondern durch eine große Sicht auf Gott. Wir überwinden ihn durch den Blick auf diesen Gott, der einlädt, der mich unverdient an seinen Tisch bittet und mich befähigt. Er macht mich privilegiert, anderen ebenfalls einen Platz anzubieten.
Das ist schön.
Das heißt also, Alex, was würdest du mir sagen, wenn ich genau diese Argumente bringe? Du würdest mir nicht einfach sagen: „Du bist aber ein stolzer Typ, Christian.“ Sondern du würdest mir diese Perspektive von dem einladenden Gott geben und mir das vor Augen malen, oder?
Ich glaube, das ist kein Widerspruch. Es ist gut, auch konfrontativ über unser Herz nachzudenken. Stolz begleitet uns als Menschen immer. Das ist eine der essenziellen Auswirkungen von Sünde: Wir drehen uns um uns selbst.
Das Evangelium befreit uns zu einem besseren Leben. Es befreit mich vom Blick weg von mir hin zu anderen. Jeder von uns, der mit Jesus lebt, hat erlebt, wie viel besser das Leben dadurch wird.
Trotzdem beschreibt Paulus das Leben als Christ als einen Kampf, als einen Marathonlauf, als ein Ringen zwischen meinen Begierden, meiner alten Natur – in der Stolz immer wieder Teil meines Denk- und Fühlmusters ist – und der besseren Alternative, die der Geist will.
Über das nachzudenken, ob es eine Form von Stolz gibt – offensichtlich oder versteckt –, die mich hindert, ist gut. Das würde ich nicht lassen. Aber das, was mein Herz wirklich verändert, ist das Evangelium und der Blick in den Spiegel. Manche Theologen sagen zu Recht: Für jeden Blick in den Spiegel braucht man zehn Blicke zu Christus. Er ist so anders als ich, und das befreit mich. Es hilft mir, von mir wegzuschauen und gastfreundlich zu sein.
Von den Ansprüchen her haben wir schon gesprochen. Ich glaube, du hast es auch im Seminar gesagt: Du bist kein Hirte. Also halt es einfach. Du musst nicht beeindrucken wollen.
Es ist auch gut, die Motive oder Gründe, die mich davon abhalten, gastfreundlich zu sein, zu hinterfragen. Schau, was das sein kann und wo ich meinen Blick vom Herrn korrigieren lassen muss.
Wie können wir damit umgehen, wenn so ein Moment der Gastfreundschaft total schiefgeht? Ich weiß nicht, hast du das schon mal erlebt? Du hast kleine Kinder, ich hatte kleine Kinder. Mein Sohn ist jetzt achtzehn, er benimmt sich am Tisch inzwischen gut. Aber wenn du dein Haus öffnest und Gäste kommen, weißt du ja nie, was passiert. Es ist gut, wenn du deine Kinder einigermaßen erzogen hast oder andere Gäste. Vielleicht gelingt das Essen überhaupt nicht oder es passiert etwas anderes. Was macht man dann? Wie geht man damit um? Hast du so etwas schon mal erlebt?
Ja, auf jeden Fall. Dabei ist es wieder eine Frage der Perspektive: Was ist mein Ziel? Will ich damit etwas darstellen und zeigen, dass wir alles wunderbar im Griff haben? Oder ist das Ziel, weil wir als Sünder miteinander leben, auch ein Stück weit zuzulassen, dass dieser Raum der Verletzlichkeit geöffnet wird? Ist mir das in dem Moment peinlich? Absolut, wenn die Kinder sich nicht benehmen oder so.
Wir haben es selten erlebt, dass das Essen gar nicht gelungen ist – das liegt vor allem an meiner Frau. Aber es gibt Situationen, in denen plötzlich mehr Leute kommen als geplant, und man denkt, ob man genug zu essen hat. Solche Dinge passieren immer wieder.
Viel öfter hatten wir Momente, in denen wir gemerkt haben, dass es überhaupt nicht so funktioniert, wie wir es uns gewünscht haben. Der Gegenüber will nicht sprechen, und man denkt: „Okay, was haben wir uns hier eingefangen?“ Aber genau solche Situationen darf man aus Gottes Hand nehmen. Man sollte nicht panisch werden, sondern wissen, dass das Teil unseres Lebens ist. Wir dürfen da getrost im Evangelium Gott vertrauen.
Wenn ich lerne, meinen Blick von mir wegzulenken – und ich lerne das noch –, dann kann auch so ein Moment, der immer wieder vorkommt, in unsere Familiengeschichte eingehen und uns nicht vom Weg abbringen. Ich weiß, warum ich es mache, und ich weiß, wohin ich damit gehe.
Du hast vorher gesagt, dass Menschen, die wir einladen, keine Performance wollen. Auch wenn wir das manchmal intuitiv denken, wollen sie Leben teilen. Menschen sind einsam. Sie kommen nicht primär, um bei dir ein Fünfgängemenü zu genießen. Es ist schön, gutes Essen zu haben, aber sie wollen vor allem Leben teilen.
Gott hat uns so geschaffen: Wir haben Sensoren, ein gottförmiges Loch in unserem Herzen, in das Beziehungen andocken. Das weist uns darauf hin, dass es mehr gibt. In dieser gefallenen Welt gehören Momente der Enttäuschung und auch dieses „Hoppala, das klappt jetzt alles nicht“ zu unserem Leben.
Vor solchen Momenten muss ich mich nicht fürchten oder davor flüchten, wenn ich Haus und Tür öffne. Diese Enttäuschungen und Schwierigkeiten werden Teil dessen sein. Aber ich kann lernen, damit umzugehen, wenn mein Blick auf das Evangelium gerichtet ist und auf das, was ich selbst immer wieder erlebe: wie großartig es ist, in Beziehungen zu leben und wie viel besser das ist als der perfekte Moment eines gelungenen Essens oder eines perfekt geplanten Abends.
Ein Stichwort in deinem Seminar war auch „Nimm Hilfe an“. Dabei beziehst du nicht nur deine eigene Familie mit ein, sondern auch die Gäste. Warum oder wie muss man sich das vorstellen?
Ich glaube, das knüpft an das an, was ich gerade ausgeführt habe. Menschen wollen nicht derjenige sein, um den sich ständig alles dreht. Wir möchten auch beschenkt werden. Manche erleben es als sehr schön, bedient zu werden. Das ist kein Widerspruch dazu.
Wenn du zum Beispiel einen Single oder eine Witwe nimmst – jemanden, der per Definition alleine wohnt und lebt –, dann möchte diese Person vielmehr ein wertgeschätztes Teil deiner Familie werden, wenn auch nur vorübergehend. Vielmehr als das Gefühl zu haben, die Person sei dein Sozialprojekt, dem du in seiner Not helfen möchtest. Weil er so bedürftig ist, begegnest du ihm dann als dem armen, einsamen Menschen, dem du in seiner Not begegnen willst.
Vielmehr möchte diese Single-Person – und wir selbst ja auch – das Gefühl haben: „Hey, Christian schätzt mich, und er lässt mich sogar teilhaben.“ Und das ist mein Punkt bei „Hilfe annehmen“: Er lässt mich Teil dieses Erlebnisses sein. Er fragt mich: „Hey, kannst du etwas zum Essen mitbringen?“ Oder, auch wenn wir nicht nur ans Essen denken: Wir verbringen Zeit miteinander. Kannst du mir helfen? Ganz aktiv kannst du mir helfen.
Wenn du eingeladen bist, kannst du zum Beispiel die Matheaufgabe mit meiner Kleinen übernehmen. Ich habe gerade keine Nerven mehr, weil wir uns in den letzten Tagen schon überstrapaziert haben. Kannst du mir praktisch helfen? Weil wir Zeit zusammen verbringen.
Ich glaube, in so einem Raum gelebter Beziehung, wo wir miteinander unterwegs sind, passiert nicht nur Gastfreundschaft, sondern vielmehr Beziehung. Nicht nur dieser Moment, in dem ich einmal sage: „Ich bin Gast“, mit allem, was Gastfreundschaft beinhaltet. Und das ist mein Einwand: Wenn ich nur daran denke, dass ich jetzt in dich investiere als Gast, dann geht so viel Potenzial verloren.
Ich habe erlebt, dass wir als Familie uns ein Familienslogan oder Familienmissionstatement überlegt haben. Wir haben einfach gesagt: Wir als Reindels wollen Familie für andere sein. Das heißt aber eben auch, dass wir andere in die Familie einladen wollen. Mit der Idee, dass sie bei uns übernachten können, mit uns essen, spielen, arbeiten und leben können.
Das bedeutet aber auch, dass sie eingeladen sind, mit uns zu wirken. Oder einem Single auch die Frage zu stellen: „Hey, wir haben oder andere Paare haben gerade eine Herausforderung mit unserer Tochter in dem und dem Bereich. Hast du da irgendeinen Input für uns oder möchtest du für uns beten?“ Das würde mich enorm freuen.
Also: einladen ins Leben, Hilfe annehmen, Nachhilfe fragen – im Unterschied zu: „Ich bin da, um deine Not zu lindern“ als einziges, was es für Gastfreundschaft gibt.
Alex, welche ermutigenden Erfahrungen hast du schon als Gastgeber gemacht? Kannst du da mal etwas teilen? Gibt es ein Highlight, das dir besonders einfällt?
Wir haben als Familie wirklich, Gott sei Dank, viele Highlights erlebt. Eines, das uns in den letzten Monaten oder den letzten zwei Jahren besonders bewegt hat, ist eine wunderbare Beziehung, eine Freundschaft, die sich mit unseren unmittelbaren Nachbarn entwickelt hat. Um es kurz zu machen: Es handelt sich um ein älteres Paar, das wir kennengelernt haben.
Beim ersten Treffen waren sie eher skeptisch, weil sie es nicht gewohnt waren, Beziehungen über den Zaun hinweg aufzubauen. Doch über die letzten fünf Jahre hat sich viel verändert. Unser Nachbar wurde schwer krank und war schon älter. Gott hat es geschenkt, dass durch ganz einfache Schritte der gelebten Gastfreundschaft und des Ausdrucks von Liebe massive Beziehungsbarrieren eingerissen wurden.
Unsere Kinder haben die beiden wie Oma und Opa erlebt. Es gab wunderbare Gespräche über den Glauben. Sogar am Sterbebett wurde ich gefragt, ob ich noch einmal kommen und mit ihm beten könnte. Wenn man zurückblickt, wie alles vor fünf Jahren begann – mit einem unsicheren Kennenlernen –, hat sich daraus eine tiefe Verbindung entwickelt.
Mittlerweile trafen wir uns wöchentlich zum gemeinsamen Essen und teilten unser Leben. Obwohl unser Nachbar an einer schweren Lungenerkrankung litt und nicht mehr aus dem Haus konnte, war er mit mobilem Sauerstoff unterwegs. Bei den ersten Gottesdiensten, die wir hier in der Hoffnungskirche nach der Gründung vor zwei Jahren hatten, waren die beiden dabei. Sie sind uns richtig ans Herz gewachsen und sind wie Familie für uns geworden.
Ich bin überzeugt, dass Gastfreundschaft keine Methode ist. Wir haben nicht gesagt: „Jetzt üben wir mal Gastfreundschaft.“ Vielmehr ist sie ein Ausdruck dieser Vision, wie Gott uns einlädt. Mit dem Wunsch, Menschen zu lieben, hat Gott sie verwendet, um Barrieren einzureißen.
Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, es gäbe nur Heldengeschichten oder dass einfach links und rechts Leute zum Glauben kommen. Aber wir erleben, dass Gott wirklich Herzen öffnet, wenn wir Türen öffnen und unser Leben für andere öffnen. Wir haben viel Tolles erlebt. Am meisten präsent und bewegend ist für uns momentan die Beziehung mit unseren beiden lieben Nachbarn.
Schön, danke dir fürs Teilen! Und wo du gerade offene Türen und offene Herzen erwähnt hast: Kennst du wahrscheinlich das Buch von Rosaria Butterfield? Das verlinken wir gerne noch mal. Es wurde hier auch schon empfohlen zum Thema Gastfreundschaft. Rosaria lebt das mit ihrer Familie auf eine einfache Art und Weise, und man sieht, welche Auswirkungen das hat.
Anna und ich haben das Buch vor sieben, acht Jahren zum ersten Mal gelesen. Seitdem ist es fast zur Sommerpflichtlektüre für uns geworden – als Evangeliumsauffrischer und Booster im Sommer. Einfach inspirierend! Übrigens eine Empfehlung: Wenn jemand Englisch kann, dann kauft euch auf jeden Fall die englische Version von CV. Die Brüder haben das super gemacht. Das englische Hörbuch ist besonders schön, denn am Ende jedes Kapitels singt sie einen Psalm. Das allein lohnt sich schon.
Was ich bei Rosaria anmerken möchte: Ich würde mutig oder frech sagen, dass sie wahrscheinlich nicht das natürlichste Vorbild für die für jeden machbarste Gastfreundschaft ist. Wie sie das lebt, ist schon irgendwie 2.0. Sie haben ein eigenes Budget, und sie haben sogar einen Drogensüchtigen in die Familie aufgenommen.
Darum ist es mir wichtig zu sagen: Ich finde das enorm inspirierend und würde jedem empfehlen, das zu lesen und zu hören. Aber ich möchte nicht, dass man denkt, das, was Rosaria und ihre Familie machen, sei die Hürde, über die wir sprechen müssen. Das ist mir immer wichtig zu betonen, obwohl ich es, wie gesagt, enorm hilfreich finde.
Gastfreundschaft ist ja idealerweise nicht nur dieses einzelne Treffen, sondern ein Bestandteil einer wachsenden Beziehung, wie du auch gesagt hast. Darauf kommt es an. Und darin steckt ein enormes Potenzial, gerade für uns als Alltagsmission.
Jetzt möchte ich gern mit dir darüber nachdenken, was es ganz gezielt bedeutet, Gastfreundschaft zu üben, Einblick ins Leben zu geben, teilhaben zu lassen und Beziehung zu gestalten. Wie gelingt das „evangelistisch“ – also so, dass es nicht aufgesetzt wirkt oder als ob die andere Person mein „Opfer“ ist, dem ich etwas predigen will? Wie schafft man es, ganz natürlich Einblick zu geben in das, was man glaubt, welche Hoffnung man hat und so weiter? Welche Erfahrungen oder Tipps würdest du dazu geben?
Ich erlebe es so, dass man sich dabei zwischen zwei Polen bewegt, beziehungsweise in einem Spannungsraum. Zum einen ist völlig klar: Das Wichtigste für einen Menschen ist nicht das Brot und das Getränk auf meinem Tisch – wenn wir beim Bild der gelebten Gastfreundschaft am Essenstisch bleiben. Der größte Hunger eines Menschen wird nur in Jesus gestillt. Seine größte Not ist nicht unbedingt der Mangel an Gemeinschaft oder an Brot, sondern sein geistlicher Zustand.
Menschen ohne Christus sind auf ewig getrennt vom dreieinigen, ewigen, herrlichen Gott. Was sie am meisten brauchen, ist dieser Jesus, der sie zurückbringt zum Vater und sie hineinruft in das Freudenfest. Das ist der eine Pol: Bei allem, was wir tun, ist das das größte Ziel. Die größte Not. Ich muss Menschen durch die Brille des Evangeliums sehen, ihren geistlichen Zustand wahrnehmen. Ich möchte nicht Beziehung leben als Selbstzweck, also Beziehung ohne im Blick zu behalten, dass die Person nicht in erster Linie meine Freundschaft braucht, sondern eine Freundschaft mit diesem herrlichen Retter Jesus.
Auf der anderen Seite macht die Bibel auch klar, dass wir Freundschaft nicht missbrauchen wollen, indem wir sie nur für den Zweck nutzen, jemanden als nächstes Missionsobjekt zu gewinnen. Zwischen diesen beiden Polen gelingt es uns mal besser, mal schlechter, das gut zu leben. Aber es hilft mir, diese beiden Dinge im Blick zu behalten, um zwischen ihnen zu navigieren. Dabei gelingt es mir nicht perfekt, aber es ist eine Orientierung.
Ich glaube, dass wir bei gelebter Gastfreundschaft immer wieder, wie in einer Familie, darüber sprechen sollten: Wen laden wir jetzt ein? Wir haben in der Planung Listen mit Leuten, wir fragen die Kinder, ob es gerade jemanden gibt, der ihnen besonders am Herzen liegt. Vielleicht jemand aus ihrer Klasse, bei dem sich eine Freundschaft anbahnt und wir die Familie kennenlernen können. Dabei vermitteln wir ihnen aber auch, dass die Gastfreundschaft nicht Mittel zum Zweck ist.
Wir glauben, dass wir in dem Ausleben von Liebe etwas von Gott zeigen. Aber – und das ist der andere Pol – Menschen kommen gemäß der Bibel nicht zum Glauben durch mein gutes Werk oder durch mein vorbildliches Leben. Sie kommen zum Glauben durch die Verkündigung des Wortes Gottes.
Evangelisation ist – auch wenn du mich nicht direkt danach gefragt hast – für mich immer etwas Proklamierendes. Es hat immer mit dem Erzählen von der schlechten und guten Nachricht zu tun. Einfach nur ein Freund zu sein, ohne mutig und betend Ausschau zu halten nach Möglichkeiten, von diesem kostbaren Schatz und auch von der Not im Leben der Menschen zu sprechen, wäre nicht genug. Das ist auch nicht das Ziel, auf das Gastfreundschaft abzielt.
Zwischen diesen beiden Polen zu navigieren, habe ich oft erlebt. Deshalb möchte ich ermutigen – und zumindest dafür beten –, dass das gut gelingen kann.
Ein praktisches Beispiel: Wenn Menschen merken, dass ich wirklich Interesse an ihnen habe – um der Beziehung willen, weil sie ein Ebenbild Gottes sind – und dass das kein Fake ist, kein „Ich muss dich erst kennenlernen, um dir dann alles zu sagen, was ich dir sagen will“, sondern aufrichtiges Interesse Ausdruck von Liebe ist, dann habe ich meistens erlebt, dass beim Gegenüber auch ein minimales Interesse an mir entsteht.
Wenn dieses minimale Interesse da ist, fällt es in der Regel nicht schwer, von Jesus zu sprechen, der ein essenzieller Teil meines Lebens ist. Im Unterschied zu Situationen, in denen man versucht, von „Schönes Wetter“ oder „Warst du heute schon Tennisspielen?“ unnatürlich zu einer Glaubensfrage überzuleiten, entsteht hier eine natürliche Brücke.
Wir teilen unser Leben: „Ich war heute Morgen Tennis spielen, das versuche ich einmal die Woche mit einem Kumpel zu machen.“ Wir sprechen über das Wochenende, was wir gemacht haben. „Wir waren im Gottesdienst.“ Weil wir schon seit ein paar Jahren miteinander Leben teilen, ist das auch Teil unserer Gespräche. Ich lade ihn immer wieder ein, ermutige ihn. Ich möchte, dass das mehr ist als nur Beziehung, Leben.
Gleichzeitig erleben wir oft, dass es viel Geduld braucht. Bei manchen ist ein Gespräch über den Glauben und diesen herrlichen Jesus schnell möglich, wenn Interesse da ist. Bei anderen braucht es sehr lange Zeit.
Ich möchte mich zwischen diesen beiden Polen bewegen. Sie helfen mir, das eine nicht zu tun und das andere nicht zu lassen. Gemäß unserem Auftrag, Jünger zu machen, muss das Evangelium irgendwann auch ausgesprochen und proklamiert werden. Gastfreundschaft und Einblick in unser Leben, unsere guten Werke, sind – ich sage mal – Türöffner oder Aushängeschilder dessen, was wir glauben. Ideal wäre, dass sie Menschen durstig machen auf das Evangelium, auf diesen Gott der Liebe.
Petrus bringt eine interessante Nuance, wenn er sagt, wir sollen „allzeit bereit sein, Zeugnis zu geben von der Hoffnung, die in uns lebt“. Ich glaube, das ist nicht die einzige Stelle, die wir beim Thema Evangelisation einbeziehen sollten. Aber es zeigt eine interessante Dynamik.
Ich denke, genau wie du anknüpfst: Gute Werke und unser Leben sollen Leute neugierig machen. Ich habe oft die Frage bekommen – früher noch in der Wirtschaft, wenn in der Firma alles drunter und drüber lief und jeder genervt war von den nächsten strategischen Fehlentscheidungen: „Warum bleibst du ruhig?“, oder „Was hast du für eine Hoffnung? Warum kannst du anders damit umgehen?“
Ich glaube, das darf unser Antrieb sein: zu sagen, ja, darum möchte ich so leben. Ich möchte ein attraktives Leben führen, weil Jesus der attraktivste ist, den es gibt.
Aber das attraktive Leben ist nicht gleichzusetzen mit oder ein Ersatz für die Verkündigung, für das Sprechen über die notwendige Hinwendung zu diesem Jesus.
Ja, Alex, aus Studien geht hervor, dass die Menschen in Österreich immer einsamer werden, vor allem die unter Dreißigjährigen. Welches Potenzial siehst du in der Gastfreundschaft, um diese Einsamkeitsepidemie zu bekämpfen?
Ich glaube, ganz zu Beginn unseres Gesprächs habe ich das schon angedeutet: Das ist einer der praktischen Gründe, warum wir in unserer Zeit mutig machbare Alltagsgastfreundschaft neu entdecken dürfen und sollen. Gerade jungen Menschen kann so in ihrer Not begegnet werden.
Zurück noch einmal zu Covid, wo manche dieser Studien intensiviert wurden: Es ist verrückt, wie einerseits die Digitalisierung – und ich bin kein Mensch, der früher alles besser fand – und die Zeit am Bildschirm in der digitalen Blase die Einsamkeit enorm verstärken. Manche glauben, dass man die Jungen primär über digitale Missionen erreicht. Das möchte ich nicht komplett ausschließen, aber ich denke, wir sollten bewusst darauf achten, sie dort abzuholen, wo sie die größte Not erleben – nämlich in real gelebten Beziehungen.
Diese Statistiken unterstreichen genau diesen Punkt. Ich würde auch nicht sagen, dass man die Unterdreißigjährigen besonders abholen muss, sondern genau dort Beziehungen aufbauen sollte, wo man Menschen trifft – im Dorf, im Sportverein oder anderswo. Es geht darum, in reale Beziehungen zu investieren.
Im realen Leben, ja. Aber was mache ich, wenn sich jemand nicht einladen lässt? Wie erwünscht ist Gastfreundschaft eigentlich? Es ist schön, wenn wir das Anliegen haben, Gastfreundschaft zu üben und das Haus zu öffnen. Aber was, wenn Menschen sich nicht einladen lassen oder nicht gerne eingeladen werden?
Das ist ein Thema, über das wir oft sprechen, als Paar oder Familie. Ich glaube, beides ist wahr: Zum einen müssen wir akzeptieren, dass Einladungen manchmal nicht angenommen werden. Wir sind auch nicht für jeden verantwortlich. Vielleicht gibt es andere, die die Person besser einladen können.
Auf der anderen Seite habe ich, wie schon erwähnt, Beispiele von Nachbarn und anderen Menschen, bei denen Dranbleiben ein wichtiger Teil der Antwort ist. Es braucht oft sehr viel Geduld, vor allem, wenn Menschen solche Erfahrungen noch nicht gemacht haben.
Eine Frage, die ich oft von unserem leider verstorbenen Nachbarn gehört habe, war: „Warum machst du das? Ich kann dir das nicht zurückzahlen.“ Das ist eine Form von bedingungsloser Liebe, von der die Bibel spricht, wenn wir Jesus als perfektes Vorbild nachahmen wollen. Für viele Menschen ist das befremdlich. Liebe anzunehmen oder Einladungen anzunehmen braucht Zeit.
Ich würde sagen, es ist wichtig, beides zu akzeptieren: dass ein Nein manchmal wirklich ein Nein ist, aber auch, dass man ein Nein nicht zu früh akzeptieren sollte. Ohne lästig zu sein, sollte man dranbleiben. Vielleicht helfen auch niederschwellige Begegnungen, zum Beispiel am Spielplatz oder anderswo, wo man einfach Zeit zusammen verbringen kann, ohne dass die Person gleich den großen Schritt in den eigenen Wohnraum wagen muss. Es geht darum, die Menschen dort zu treffen, wo sie sind.
Kannst du Unterschiede beim Alter feststellen? Lassen sich Ältere schwerer einladen als Jüngere? Oder hängt das von der Lebenssituation des Einladenden ab?
Ich glaube, ich könnte keinen sinnvollen Zusammenhang feststellen. Es hängt sehr stark von der Prägung und den familiären Hintergründen der Menschen ab. Die, die am zögerlichsten oder ablehnendsten sind, habe ich oft besser verstanden, je mehr ich sie kennengelernt habe. Menschen, die absolute Einsamkeit erlebt haben – etwa Einzelkinder oder solche aus Familien, in denen Gastfreundschaft nicht üblich war – finden es manchmal zu Recht überfordernd, in eine andere Familie hineinzukommen und dort Leben zu teilen.
Das wäre für mich der größte Zusammenhang, den ich sehe. Was ich auch festgestellt habe, ist, dass gerade mit Kindern, vor allem Kleinkindern, beim Spielen oder über Kindergarten und Schule oft ganz natürlich Beziehungen zu den Eltern entstehen. Auch in der Nachbarschaft kann man das langsam angehen: sich am Zaun oder auf der Straße begegnen, dann mal in den Garten einladen und schließlich ins Haus. So kann sich Vertrauen langsam aufbauen.
Vielleicht ist das auch für euch, die ihr zuhört oder zuschaut, eine gute Herausforderung: Überlegt mal, wer in eurem Umfeld – egal ob Christ oder Nicht-Christ, ob aus eurer Gemeinde oder nicht – einsam sein könnte. Gerade wenn wir diese Zahlen hören und darüber sprechen, wird deutlich, wie viele Menschen einsam sind.
Eine Nachricht schreiben, eine Einladung aussprechen, zu einem Kaffee einladen – kleine Gesten können viel bewirken. Denkt mal darüber nach.
Alex, wir wollen zum nächsten Thema kommen und über den deutschen Tellerrand hinausschauen. Ich benutze dabei einen Begriff, der vielleicht nicht jedem geläufig ist: den geistlichen Grundwasserspiegel. Wie sieht der in Österreich aus?
Philipp Bartholome und Stefan Schweyer haben in ihrem Buch Gemeinde mit Mission diesen Begriff geprägt. Was meinen sie damit? Sie sprechen davon, wie viel christliches Grundwissen eine Gesellschaft noch hat. Wissen die Leute noch, wer Jesus ist? Wissen sie, was an Weihnachten, Ostern und so weiter passiert ist? Oder überhaupt, was in der Bibel steht?
Der Grundwasserspiegel in Deutschland ist schon ziemlich niedrig. In Österreich sieht es wahrscheinlich nicht anders aus, oder?
Also, ich habe mal ein paar Zahlen rausgesucht. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Statistik Austria hat 2021 eine Erhebung gemacht. Seit 1971, also in 50 Jahren, haben die katholischen und evangelischen Kirchen etwa ein Drittel bis die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Gleichzeitig sind die Konfessionslosen um 522 Prozent gewachsen, der Islam sogar um über 3000 Prozent. Die Orthodoxen sind um 143 Prozent gewachsen.
Inwiefern merkst du das auch in eurem Umfeld dort? Was wissen die Menschen über Jesus? Wie offen sind sie gegenüber dem christlichen Glauben?
Ich würde noch eine Statistik hinzufügen, wenn wir über die für die meisten von uns und die Zuschauer geläufigen kirchlichen Gruppen wie evangelikal, freikirchlich, evangelisch geprägt sprechen. Da sprechen wir von Zahlen, die nicht ganz sicher sind, aber man geht von zwei bis drei Prozent Evangelikalen in der Schweiz aus, von ein bis zwei Prozent in Deutschland – je nachdem, wie man es zählt – und von weniger als 0,5, teilweise 0,3 Prozent in Österreich.
Das zeigt schon, dass in Österreich in gewisser Weise ein anderer Flair herrscht. Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen, glaube ich, ist das auch geschichtlich bedingt: Die Gegenreformation war enorm erfolgreich. Die Reformation hat sich in Österreich zum Teil nicht so fest etabliert wie in anderen Regionen, gerade in Deutschland.
Aus protestantischer Sicht war die Gegenreformation eine Zeit, in der die katholische Kirche sehr gewaltsam und intensiv versucht hat, die Reformation niederzudrücken. Viele Menschen mussten fliehen. Das war in Österreich, besonders in unserer Region im Westen, sehr erfolgreich – von Rom ausgehend, von der Schweiz Richtung Osten.
Das ist, glaube ich, eine Komponente, die auch dazu führt, dass es sehr wenige evangelisch geprägte Freikirchen in Österreich gibt. Man kann daher sagen, dass Österreich zu den unerreichtesten Ländern in Europa gehört, was diese Statistiken angeht.
Ein Grund, warum Gott das so gewollt hat, ist, dass er unser Herz bewegt, hier zu investieren. Als Österreicher tut man sich vielleicht auch leichter, aber es ist wirklich ein Herzensanliegen, sich hier einzusetzen und einen kleinen Beitrag zu leisten.
Das ist die eine Komponente: Österreich – vielleicht Deutschland, Österreich, Schweiz. Das ist vielleicht interessant für den einen oder anderen. Aber auch das andere, was du beschreibst: eine säkularisierende oder säkular werdende Kultur.
Wir haben hier im Westen noch eine stark katholische Prägung, vor allem im ländlichen Bereich. Aber was wir enorm merken, ist, dass die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche für viele nicht mehr als eine Vereinszugehörigkeit ist – für manche sogar weniger.
Hier im Dorf, wir wohnen in einem kleinen, schönen Dorf, Steinach am Brenner, mit 4000 Einwohnern, gibt es diverse Vereine – von Gartenbauvereinen bis Taekwondo. So läuft die Community. Die katholische Kirche ist für viele Leute – und das meine ich gar nicht polemisch, sondern einfach als Verständnisillustration – wie ein Verein, der sich um traditionelle kirchliche Belange kümmert. Inhaltlich haben sie mit diesen Sachen kaum mehr etwas zu tun.
Wo meine Mutter zum Glauben gekommen ist, war ich ungefähr acht, neun Jahre alt. Sie war damals katholisch, kam aus der Kirche raus. Der Ausstieg aus der katholischen Kirche hin zu einem lebendigen, evangelisch geprägten, persönlichen Glauben war für sie mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Sie wurde im Dorf teilweise schief angesehen, von den Kanzeln mit Namen an den Pranger gestellt.
Das passiert heute überhaupt nicht mehr, weil es den Leuten und teilweise auch den Pfarrern egal ist. Ein Stück weit, weil die Leute sich inhaltlich so wenig damit auseinandersetzen können. Sie haben vielmehr ein Problem mit uns als neuer evangelischer Freikirche hier im Dorf, weil wir nicht katholisch sind und einen neuen Verein gegründet haben – in deren Empfinden.
Sie haben also mit den Inhalten ein Problem, wo noch vor 30 Jahren die Leute gesagt haben: „Ja, wie, ihr nehmt das mit der Maria jetzt nicht so ernst?“ Das ist heute kein Thema mehr im Gespräch. Das Thema ist: „Ihr habt keine Erstkommunion, du hast kein Pfarrheim, du bist verheiratet.“ Es sind Äußerlichkeiten, die Unterschiede festmachen, aber inhaltlich ist das kaum noch ein Thema.
Der Grundwasserspiegel – die inhaltliche Beschäftigung mit den Lebensfragen: Woher komme ich? Warum bin ich hier? Wohin gehe ich? – ist so wenig Thema, das erleben wir absolut.
Trotzdem ist das Motto: Nicht Trübsal blasen. Die Lebensfragen sind da, auch in der säkularen Welt. Sie treten meistens dann an die Oberfläche, wenn Leid ins Leben tritt.
Das ist zum einen in Zeiten wie diesen der Fall, wo Leute sich mehr fragen: Wie geht es weiter? Was ist los? Was ist die Perspektive? Aber auch ganz persönliches Leid lässt diese Fragen aufpoppen.
Dann wollen wir Zeugnis geben von dieser Hoffnung und substanzielle Antworten geben.
Erkennt ihr, dass es da mehr Offenheit gibt? Oder andersherum gefragt: Welchen Einfluss hat das, wenn Leid aufploppt oder auch das Thema Einsamkeit, das wir eben hatten? Das ist ja auch in Österreich relevant.
Welchen Einfluss hat das auf eine geistliche Offenheit? Als Gegenpol zu der Vereinsmeierei, dem rein Äußerlichen? Wir haben doch diese Sehnsucht nach etwas Größerem außerhalb von uns. Wie zeigt sich das?
Ich glaube, das zeigt sich am meisten, wenn entweder das Leid von außen oder die innere Not, die Einsamkeit, größer wird als meine vermeintliche Kraft, eine Fassade aufrechtzuerhalten.
Diese Fassade bröckelt in meinem Erleben am meisten, wenn die Not so groß wird, dass sie nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Oder wenn man in Beziehung geht, wenn ein Raum geschaffen wird für Vertrauen und die Möglichkeit, anzufangen, auszusprechen, was einen umtreibt.
Wir haben jetzt seit ein paar Wochen eine Dame in der Gemeinde, die genau über diesen Weg gekommen ist. Beim letzten Weihnachtsmarkt waren wir hier aktiv, hatten einen kleinen Stand im Dorf. Sie hat einen Flyer bekommen und kommt jetzt seit drei, vier Wochen.
Der Grund, warum sie kommt, ist, dass sie sagt: „Ich habe mich so zurückgezogen von allen Menschen und bin so einsam. Wie ihr mir da begegnet seid, das ist für mich jetzt im Moment noch überfordernd.“
Nicht nur, dass wir jetzt 30, 40 Leute sind – wir sind eine sehr kleine Gemeinde –, die alle Interesse an ihr haben, sondern auch die Intensität dieser Beziehungen.
Sie war enorm einsam, ist es noch, und möchte das nicht mehr.
Ich glaube, entweder wird die Not zu groß und die Fassade bröckelt, denn in unserer Kultur ist es enorm inakzeptabel, Schwäche zu zeigen. Einsamkeit zu zeigen gilt als enorme Schwäche. Darum hält man die Fassade gerne hoch.
Aber sie bröckelt, wenn die Not zu groß wird. Oder wenn in Beziehungen Vertrauensräume geschaffen werden, in denen man darüber sprechen kann.
Da glaube ich wiederum an Gastfreundschaft: Wenn ich selbst einen Vertrauensraum öffne, wo ich nicht die Familie Reindl bin, die eine perfekte Show zutage tragen will.
Nein, das wollen wir nicht, das gibt es auch nicht. Wer in unsere Familie kommt, weiß, dass das nicht der Fall ist.
Da gibt es einen Vertrauensraum, in dem jemand sagen kann: „Hey, ich habe da echt eine Not und freue mich, vielleicht kann ich darüber mit dir sprechen.“
Siehst du da einen Unterschied zwischen ländlichem Raum und Stadt?
Enorm.
Wir sind vor sieben, acht Jahren hierhergezogen. Meine Frau und ich sind beide am Land groß geworden und kennen das, was es bedeutet, Gemeinde in einer Kirche in einem kleinen Ort zu sein.
Manche flüchten dann in die Stadt, um Freiheit und Möglichkeiten zu finden. Wir haben das auch ein paar Jahre in der Stadt erlebt.
Aber Gott hat uns eher umgekehrt verwendet, um ein Anliegen für starke, florierende, schöne Gemeinden, auch kleine Gemeinden auf dem Land, zu leben.
Wir haben bewusst ein Anliegen bekommen.
Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist aus unserer Sicht groß.
Ein Beispiel: Wir haben vorher in Innsbruck in der Stadt gewohnt und unsere Nachbarn vier, fünf Jahre lang über den Zaun hinweg eingeladen. Da war immer eine distanzierte, höfliche Offenheit: „Ja, ja, wir kommen gern mal.“ Aber in fünf Jahren waren sie nie bei uns zu Hause.
Hier auf dem Land hat es nur ein paar Wochen gedauert, bis die ersten Leute wirklich im Haus waren.
Dieses Bild für eine Offenheit für Beziehungen zeigt, dass am Land die Bereitschaft definitiv höher ist. Das hat auch mit der kommunalen Feinstruktur zu tun.
In der Stadt ist alles etwas distanzierter und steriler. Auch die Frage nach Gott ist kulturell am Land anders. Dort ist die katholische Prägung stärker als in der Stadt.
Das merken wir auf jeden Fall.
Gleichzeitig war die Offenheit, die wir für Beziehungen und Gastfreundschaft erlebt haben, in der Stadt stärker über die Arbeit. Man ist dort mehr gezwungen, mit Menschen zu leben.
Über den Zaun in der Stadt kann man noch mehr Distanz wahren. Aber es gibt auch in der Stadt Möglichkeiten.
Wenn du sagst, dass der Einfluss der katholischen Kirche, auch was die Inhalte betrifft, abnimmt: Ist es immer noch eine Hürde, wenn die Leute sagen: „Na ja, die nennen sich Christen, aber so freie Gemeinde, freikirchlich, da muss man schon vorsichtig sein“ – auch wenn sie sich mit den Inhalten nicht auseinandersetzen?
Diese Hürde ist auf jeden Fall noch da.
Interessanterweise gilt: Je kleiner eine Gruppe vermeintlich ist, desto suspekter ist sie.
Hier gibt es evangelische Freikirchen mit 0,5 Prozent. Was ist das genau? Die evangelische Kirche in Österreich ist auch sehr klein, aber damit kann man noch etwas anfangen.
Evangelisch freikirchlich ist dann schon ganz anders.
Wir persönlich verwenden den Begriff evangelikal sehr wenig. Das liegt nicht daran, dass ich theologisch nicht überzeugt wäre, dass man ihn gut verwenden kann. Ich bin kein Kämpfer für den Begriff, aber einer der Gründe, warum wir ihn nicht verwenden, ist, dass die Leute damit meist Donald Trump verbinden – und das war es dann schon.
Im Alltag können die Leute mit einer evangelischen Glaubensausrichtung und freikirchlicher Organisationsform viel mehr anfangen.
Deshalb ist das auch das, wie wir über uns sprechen. Nicht, um uns zu verstecken, sondern weil die Leute damit mehr anfangen können.
Aber Skepsis gegenüber dem Neuen gibt es am Land sowieso enorm.
Das Neue wird erst einmal kritisch beäugt. Selbst wenn hier eine neue Eisdiele öffnet, wird gefragt, ob das alles koscher ist. Diese Grundskepsis ist da.
Gerade im religiösen Bereich ist das so.
Zurück zu dem Bild von vorhin: Wenn die Kirche für viele auf den Dienstleister reduziert wurde, der hilft, dass mein Kind die Erstkommunion bekommt, irgendwann die Firmung und vielleicht später noch ein, zwei andere Sakramente, aber sonst habe ich mit der Kirche nichts zu tun und brauche sie auch nicht für mein Leben.
Dann ist es nicht schwer nachzuvollziehen, dass sie sagen: Warum braucht es danach einen neuen Verein? Wir haben ja schon einen.
Und was ihr anbietet, brauchen wir nicht, weil das, was wir wollen – die Erstkommunion und unser Sakrament xyz – gibt es bei euch ja nicht mal. Euer Kirchenverständnis ist auch noch ein anderes.
Das ist der Grund, warum die Leute auf so eine Gruppe schauen und sagen: Warum soll es euch jetzt brauchen?
Der einzige Grund, über diese Hürden zu springen, ist – im Englischen sagt man so schön „to out love them“ – sie mit Liebe, Offenheit und Gastfreundschaft zu überwinden.
Ich bin auch hier im Dorf im Gemeinderat, im erweiterten Gemeinderat, ein bisschen aktiv. Ich versuche, mich einzubringen, das Beste für das Dorf zu suchen, hier bei unserer kleinen Dorfzeitung zu helfen und zu sagen: „Hey, ich bin gern hier. Ich liebe diese Community, diese Stadt. Und ja, ich bin auch Pastor der Hoffnungskirche.“ Das ist kein Widerspruch.
Ihr dürft uns begegnen und uns einbringen.
Wir versuchen, bei den Dorffesten präsent zu sein – nicht als Mittel zum Zweck, sondern weil wir gern hier sind.
Nur über diese Begegnungen haben wir erlebt, dass Hürden weniger werden. Aber sie sind auf jeden Fall noch da.
Das sind wahrscheinlich auch die größten Herausforderungen der Geschwister in Österreich: ihren Glauben aus- und vorzuleben und in die Gesellschaft ein Stück weit hineinzuwirken.
Was denkst du, was notwendig ist, um den zu Anfang erwähnten geistlichen Grundwasserspiegel in Österreich anzuheben? Wie erlebt ihr das dort, wo ihr lebt?
Wenn wir bei dem Bild des Grundwasserspiegels bleiben: Das ist eine Auswirkung davon, ob das Evangelium wirklich in Menschen lebendig ist und Frucht bringt, also ob Menschen wirklich gläubig sind.
Warum haben wir in manchen Regionen noch einen Grundwasserspiegel? Weil wir aus Zeiten kommen, in denen es viel mehr Menschen gab, die sich entweder echt mit dem Evangelium oder zumindest mit den Inhalten des Glaubens beschäftigt haben.
Der Weg zurück – oder ich weiß gar nicht, ob man sagen sollte: der Weg zurück zu früheren, alten, besseren Zeiten – wie kann der Grundwasserspiegel steigen?
Nur indem das Evangelium verkündet wird, indem Gemeinden gegründet werden, indem Menschen lebendige Christen sind. Wie Philipp Bartholome sagt: wie Sterne am Nachthimmel leuchten, die einen Unterschied machen und Menschen zum Glauben bringen.
Das ist unsere Hoffnung. Wir glauben, dass Gott noch heute Menschen rettet, erleben das und wollen mutig dieses Evangelium verkünden, das allein die Kraft hat zu retten.
Einzig und allein damit, nicht weil wir an Gesellschaftstransformation glauben oder daran, dass wir durch strategischen Einfluss an der einen oder anderen Stelle Kulturen verändern.
Wir glauben, dass Kultur und Gesellschaft durch das Evangelium in Menschen verändert werden, die an Jesus glauben, für den König leben und damit auch an den Arbeitsplätzen und im Umfeld, wo sie leben, einen Unterschied machen.
Der Grundwasserspiegel wächst oder steigt mit einer wachsenden Anzahl an Menschen, die Jesus glauben, und mit einer wachsenden Reife der Christen in der Region, glaube ich.
Ja, Amen.
Vielleicht hören uns auch Menschen aus Österreich zu. Dann schreibt gerne eure Erfahrungen bezüglich Alltagsmission. Natürlich auch, wenn ihr irgendwo anders wohnt und uns zuhört.
Denn als Alltagsmissionare sind wir nicht allein unterwegs. Ich empfinde es immer als sehr hilfreich, wenn wir uns gegenseitig ermutigen, auch dort, wo wir leben, Alltagsmission zu leben und uns an unseren Geschichten teilhaben lassen.
Schreibt gerne an machbar@heuckelbach.org.
Alex, wir kommen zu unserem letzten Punkt: Gemeindegründung in Österreich. Man könnte jetzt sagen: Ja, es gibt doch schon so viele Freikirchen. Und du hast eben gerade die Leute aus eurer Gegend zitiert. Warum braucht es euch noch? Brauchen wir wirklich noch mehr?
Darauf hast du, glaube ich, zusammen mit Dominik Hildebrand bei einem Seminar 2023 bei Evangelium 21 eine spannende Antwort gegeben, nämlich anhand der Geschichte des Rettungsbootes der Titanic. Nimm uns doch mal ein bisschen mit hinein. Was meinst du damit? Kannst du dich noch erinnern?
Nein, ich vermute, das war eine Illustration von Dominik, der ist da viel kreativer. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Wenn du dich noch erinnern kannst, kannst du das Bild gerne erklären. Ich weiß es tatsächlich nicht mehr. Aber ich kann dir sonst meine Antwort geben, warum es mir wichtig ist, dass es noch mehr Gemeinden gibt. Vielleicht kannst du das Titanic-Bild erkennen. Das Ding lassen wir einfach weg. Ich dachte, das wärst du gewesen in der Vorbereitung, aber gut.
Also, ich möchte es nicht ganz ausschließen, aber dann habe ich es vergessen. Ich vermute, es kam von Dominik. Warum es mehr Gemeinden braucht: Um ein bisschen rauszuzoomen – der Missionsauftrag, sprich Jünger zu machen, an die Enden der Welt zu gehen und alle Nationen zu Jüngern zu machen. Das ist Matthäus 28, der große Auftrag von Jesus an seine Jünger. Ich würde argumentieren, dass dieser Auftrag an die Kirche gerichtet ist, denn Christen leben und florieren immer im Kontext von Kirche.
Dieser Auftrag wird am natürlichsten durch die Gründung neuer Gemeinden erfüllt. Wenn du in die Apostelgeschichte schaust, wie die Apostel diesen Auftrag verstanden haben, dann war das genau so: dorthin zu gehen, wo es noch wenige oder keine Gemeinden gibt – und nicht einfach nur zu evangelisieren. Man kann methodisch unterschiedlich bewerten, was zuerst kommt oder wie man genau an Gemeindegründungen herangeht. Da gibt es genug methodische Unterschiede, die man benennen kann.
Aber vom Prinzip her siehst du, dass die Apostel sehr mutig und schnell Gläubige zu Gemeinden versammelt haben. Diese Gemeinden haben sie reifen lassen oder die Notwendigkeit gesehen, dass diese Gemeinden wachsen und reifen. Paulus schreibt zum Beispiel in Bezug auf Titus, dass er dorthin gehen soll, wo noch keine Gemeinde ist, und dort etwas aufzubauen.
Also, ich würde argumentieren, der natürlichste Weg, diesen Missionsauftrag zu erfüllen, ist die Gründung neuer Gemeinden. Wir verkünden das Evangelium als Ortsgemeinden. Ein Evangelist, der alle paar Tage oder Wochen in einem Seitental unterwegs ist und das Evangelium verkündet, kann das machen – und Gott verwendet das auch. Aber der natürlichste Weg, um eine Region oder mehr Menschen in der Region zu erreichen, ist durch eine neue, gesunde Ortsgemeinde.
Deren Vision und Selbstverständnis ist: Wir existieren nicht für uns selbst, sondern um Menschen zu diesem König einzuladen. Dementsprechend bin ich überzeugt, dass es sowohl in Regionen, wo es keine oder wenige Gemeinden gibt, neue Gemeinden braucht, als auch in Gegenden, wo es schon viele Gemeinden gibt. Das wird manchmal als Kritikpunkt oder Gegenargument verwendet: „Ach, wir haben hier doch schon zehn Gemeinden.“ Selbst da würde ich mutig entgegenhalten: Wie viele Menschen erreicht ihr wirklich? Welche speziellen Gruppen erreicht ihr?
Ist eine neue Gemeindegründung, vielleicht auch mit einer leicht anderen theologischen Ausrichtung, wo es Nuancen und Unterschiede gibt, nicht berechtigt? Wir sehen nicht alles gleich. Ich wünsche mir mehr den Blick darauf, was mehr Gemeinden tun können, anstatt die Angst, die oft entgegengebracht wird: „Wenn wir jetzt Ressourcen von den wenigen Gemeinden abziehen, die es hier gibt, dann sterben die ja alle.“ Oder: „Da wird ganz viel Schlechtes passieren.“
Stattdessen wünsche ich mir die Vision, dass wir mit mehr Gemeinden mehr Menschen erreichen können. Das ist zumindest unser Anliegen, und das erleben wir auch.
Ich kann das Gegenargument verstehen, dass Leute sagen: „Wenn wieder eine neue Gemeinde entsteht, gehen Leute aus anderen Gemeinden dahin.“ Da gibt es so einen Gemeindetransfer, wie Philipp Bartholomä das in seinem Buch beschreibt. Das ist immer eine Gefahr.
Aber natürlich ist Gemeinde Gottes Art, hier auf der Erde Reich Gottes zu bauen – durch Gemeinde. Ich würde da noch einhaken und sagen: Ja, ich glaube tatsächlich mit Philipp, dass eine Herausforderung bei Gemeindegründung ist, nicht vordergründig auf Transferwachstum abzuzielen. Es geht auch darum, die Gemeindekultur und die Vision des „Warum es uns gibt“ klar als Team zu bewegen und immer wieder hochzuhalten. Das ist nicht das eigentliche Ziel.
Das Ziel ist nicht einfach, eine neue Gemeinde zu gründen und ein paar Geschwister aus anderen Gemeinden abzuziehen. Gleichzeitig glaube ich, dass es durchaus Berechtigung gibt, Gemeinden mit unterschiedlichen theologischen Schwerpunkten ihren Platz in der gleichen Stadt zu haben.
Bei uns zum Beispiel haben wir definitiv Transferwachstum erlebt. Aber hier in unserem Tal mit 15 bis 25 Leuten, je nachdem wie man die Seitentäler zählt, gibt es keine evangelische Freikirche. Wir sind die erste und einzige. Dementsprechend gibt es hier sehr wenig Transferwachstum. Vielleicht ein paar Gläubige, die längere Zeit nicht mehr in einer Gemeinde waren und wieder neu dazukommen.
Wir haben schon viele Momente erlebt, in denen Leute zum ersten Mal in eine Kirche und Gemeinde kommen – die aber definitiv nicht in eine Stadtgemeinde nach Innsbruck fahren würden, weil das Flair und auch die Art, wie Gemeinde hier gelebt wird, einfach anders ist.
Ich verstehe den Punkt und würde auch absolut mitgehen, dass es Teil der Aufgabe ist, die Vision und Mission der Gemeindegründung gut zu definieren und im Blick zu haben. Manchmal sprechen wir auch mit neuen Mitgliedern darüber, wenn sie zu uns kommen.
Das Ziel ist nicht, dass du, wenn du aktuell in der Gemeinde in Innsbruck warst und jetzt vielleicht zu uns kommen möchtest, ein paar Spritkosten sparen kannst. Das Ziel ist, dass du Teil dieser Mission hier wirst und wir gemeinsam Menschen erreichen wollen.
Vielleicht ist es für den einen oder anderen besser und passender, wenn er in eine andere Gemeinde in Innsbruck geht, aufgrund theologischer Überzeugungen. Es geht nicht darum, Geschwister abzuziehen.
Gleichzeitig habe ich persönlich auch erlebt, dass man sich schnell irgendwo rechtfertigen muss, wenn man Gemeindegründung macht. Ich würde sagen, das muss nicht nur schlecht sein. Eine Gemeinde mit einer gewissen theologischen Profilierung und Ausrichtung hat auch ihre Berechtigung.
Ich wünsche mir auch ein gutes Miteinander und Nebeneinander. Das ist zumindest unser Anliegen, an dem wir wachsen wollen. Das muss nicht nur schlecht sein.
Noch einmal zurück zum Grund für Gemeindegründung: Inwiefern hilft Gemeindegründung dabei, neue evangelistische Beziehungen zu entwickeln beziehungsweise die geistlichen Bedürfnisse der Menschen vor Ort kennenzulernen?
Ich glaube, wenn wir als Team mit 30 Mitgliedern hier nicht an dem Ort wohnen würden, wo wir wohnen, wäre es uns kaum möglich, mit diesen Leuten Beziehungen zu leben – zumindest nicht in der Form. Wir leben in der gleichen Community, sind in den gleichen Schulen, gehen auf den gleichen Tennisplatz, spielen dort Tennis, gehen auf die gleichen Dorffeste.
Nur dort können wir diesen Menschen begegnen, ihre Nöte kennenlernen und Vertrauensräume schaffen, in denen man über diese Nöte sprechen kann. Für mich gibt es keinen anderen Weg, als bei diesen Menschen vor Ort zu sein und Gemeinde mit ihnen zu bauen und zu leben.
Ich erinnere mich, dass wir auch anfänglich, als wir 2002 Gemeinde gegründet haben, in einem Dorf in einer sehr ländlichen Region, wo es vorher noch keine Gemeinde gab, aus einem evangelischen Bibelgesprächskreis entstanden sind. Wir haben damals gesagt: Nur wenn du hier am Ort oder in unmittelbarer Nähe wohnst und die Vision teilst, Menschen hier am Ort zu erreichen, kannst du mitmachen.
Ein Gemeindetransfer ist willkommen, wenn du die Vision teilst. Aber wenn du nicht hier wohnst und das nicht teilst und einfach nur einen neuen Stuhl brauchst, den du wärmen kannst, dann bist du hier nicht so erwünscht. Das ist schon konfrontativ, manche verstehen das nicht. Aber ich glaube, sonst kommt man nicht weiter, das eigentliche Ziel zu verfolgen, Menschen am Ort zu erreichen.
Du bist selbst in der Gemeindegründung im Wipptal beteiligt. Wie kam es dazu? Was hast du aus dem bisherigen Prozess gelernt?
Wir sind vor sieben, acht Jahren als Familie in das Tal gezogen, damals noch aus Innsbruck. Das war ein langer Weg von über zehn Jahren, in dem wir darüber gesprochen und gebetet haben – auch mit Leuten aus der Gemeinde in Innsbruck, die uns begleitet haben, mit Netzwerken wie X29 und anderen Freunden.
Für mich wurde immer klarer, seit ich Bibelschule gemacht und Theologie studiert habe, dass der Fokus Gottes in der Schrift nicht das Individuum ist, sondern sein Volk, seine Kirche, seine Braut.
Je mehr ich mich mit der Bibel beschäftigt habe, desto größer wurde mein Wunsch, egal was ich mit meinem Leben mache – damals war noch gar nicht absehbar, dass ich das vielleicht einmal Vollzeit machen würde – mich mit seiner Kirche zu beschäftigen und Zeit und Energie in sie zu investieren.
Wenn die ganze Schrift diesen Fokus hat, scheint das ein guter Fokus für mein Leben zu sein. Das wurde immer mehr zu meinem Wunsch.
Österreich hat wenige Gemeinden in ländlichen Regionen. In Tirol, wo wir wohnen, gibt es am ehesten Gemeinden in den Ballungsräumen, in den kleineren Städten und im Haupttal, wo der Inn von Westen nach Osten fließt.
Aber in den Seitentälern, wo bis zu 40.000, 50.000 oder 60.000 Menschen wohnen, gibt es keine uns bekannte evangeliumszentrierte, Jesus verkündigende Ortsgemeinde.
Das heißt nicht, dass es dort keine Gläubigen gibt, absolut nicht. Aber es gibt wenige Gemeinden.
Da haben wir als Tiroler auch ein Anliegen oder einen Auftrag gesehen.
So haben wir ganz pragmatisch gesagt: Welches Tal ist das nächste? Wir haben Freunde in den Tälern kennengelernt, die zum Glauben gekommen sind, und so war eine offene Tür in diese Richtung.
Es war aber keine Vision oder ein Brief vom Himmel, dass genau dieses Tal das Ziel ist, sondern es war das erste Tal in der Nähe mit den ersten Kontakten.
Dann sind wir umgezogen, und es war trotzdem ein langer Weg mit vielen Auf und Abs. Für manche war das zu lange.
Im Nachhinein bin ich dankbar, dass Gott uns Geduld gelehrt hat.
Vor etwa drei Jahren haben wir begonnen, mit einem Team von zehn Leuten die Gemeindegründung vorzubereiten. Wir haben uns ein Jahr Zeit genommen, darüber zu sprechen, was Gemeindegründung bedeutet, welche Merkmale wichtig sind, warum wir lehren, was wir lehren, warum wir glauben, was wir glauben, was es bedeutet, die Region mit dem Evangelium zu erreichen, was Gemeindemitgliedschaft bedeutet und so weiter.
Vor zwei Jahren haben wir dann öffentlich gegründet und sind jetzt seit knapp zwei Jahren unterwegs. Wir sind dankbar für das, was wir schon lernen durften.
Ihr bietet auch gemeinsames evangelistisches Bibellesen für Männer und Frauen an. Warum ist das wichtig? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?
Ich persönlich wurde vor acht, neun Jahren fast schon erschrocken oder konfrontiert mit meiner eigenen Theologie.
Es ist das eine, von der Kanzel zu predigen, dass Gottes Wort Kraft hat, dass Gottes Geist das Wort verwendet, um Menschen zu verändern (Römer 10). Der Glaube kommt aus der Verkündigung. Das haben wir schon besprochen.
Aber ich habe bei mir selbst festgestellt: Wenn es darum geht, dass ich einen Freund, ein Familienmitglied oder einen Nachbarn habe, den ich liebe und der Jesus kennenlernen soll, dann war meine Theologie von der Kanzel oft anders als meine praktische Theologie.
Ich habe intuitiv gedacht: Was braucht es, damit diese Person zum Glauben kommt? Mein grandioses Vorbild als Christ, meine apologetisch ausgetüftelten Antworten, die fünf Bücher, die die Person lesen muss, dass die Person mich kennenlernt und so weiter.
Das alles hat seine Berechtigung. Ich bin viel in Apologetik und guten Büchern und vorbildlichem Leben.
Aber wenn ich ehrlich bin, war meine Hoffnung oft wenig darin, dass diese Menschen sich mit dem lebendigen Wort Gottes beschäftigen.
Das hat in mir einen fast schon provokanten Hunger geweckt zu sagen: Ist es nicht das Beste, was ich Menschen geben kann, einen offenen Tisch mit einer offenen Bibel anzubieten und sie einzuladen, mit mir diesen Jesus in der Bibel zu entdecken?
Das ist nicht nur eine Methode, sondern die Methode aller Christen seit Beginn des Christentums.
Ich habe mich gefragt, bin ich manchmal zu zurückhaltend, zu vorsichtig oder zu skeptisch, Leute einzuladen, mit mir die Bibel zu lesen?
Das hat bei uns etwas in Gang gesetzt. Wir haben uns gesagt: Lass uns wieder mutiger werden und Leute fragen: Hast du Lust, diesen Jesus kennenzulernen, nach dem wir unsere Zeit stellen? Den Jesus, von dem wir das Christentum haben, von dem wir christliche Werte haben? Hast du dich mal mit seiner Biografie beschäftigt? Weißt du etwas über sein Leben?
Gerade bei uns, wo es einen gewissen Grundwasserspiegel an religiösem Wissen gibt und man den Namen Jesus kennt, hat es geholfen, mutiger ins Gespräch zu gehen und zu sagen: Ich bin begeistert von diesem Jesus und der Bibel. Ich liebe es, mit anderen darüber zu reden. Ich würde mich total freuen, wenn du mitkommst.
Wir haben dann Bibel und Wein oder Bibel und Schokolade genannt, unsere Runden. Das klingt lecker, und das ist es auch.
Der Name war auch eine provokante Anspielung, weil viele unserer katholisch geprägten Freunde mit der Bibel eher etwas verbinden, das nicht schön oder freudig ist. Im Mittelalter war die Bibel nur auf Latein, und heute wird sie vielleicht noch vom Priester vorgelesen, aber die Emotion dabei ist oft Schläfrigkeit oder Langeweile.
Dagegen steht ein gutes Glas Wein oder Schokolade – das macht Freude.
Das hat bei der Einladung oft ein Schmunzeln hervorgerufen: Bibel und Wein, das klingt komisch.
Wir haben tolle Erfahrungen gemacht. Leute, die in und mit diesen Gruppen zum Glauben gekommen sind.
Aktuell habe ich keine aktive Bibel-und-Wein-Gruppe, bin aber seit ein paar Monaten wieder am Nachdenken, eine neue Gruppe zu starten. Es braucht immer ein paar Leute, die Lust haben.
Aus unserer Gemeinde heraus gibt es auch noch andere, die solche Gruppen leben.
Generell kann man das nennen, wie man will. Aber was wir wirklich erlebt haben, ist, dass die Beschäftigung mit Menschen vor dem offenen Buch der Bücher einen riesigen Unterschied macht. Und wir haben erlebt, dass Gott das wirklich verwendet.
Alex, wir müssen auf die Uhr schauen. Du hast ja gesagt, dass du gleich wegmusst. Lass uns noch kurz über Jüngerschaft sprechen, und zwar im Kontext von Gemeindegründung.
Wie würdest du Jüngerschaft definieren?
Jüngerschaft ist der Prozess, in dem der Jünger, also der Christ, reifer wird. Dieser Prozess geht von dem aus, der reifer wird, indem er Hilfe annimmt, und von dem, der reifer ist, indem er dem anderen hilft. Es geschieht immer in beide Richtungen. Am Ende ist Jüngerschaft ein gemeinsamer Weg in gelebten Beziehungen, vor allem mit der offenen Bibel. Ziel ist es, Jesus ähnlicher zu werden, schöner zu werden, so wie er schön ist.
Sehr gut. Welche Rolle spielt Jüngerschaft ganz grundsätzlich in der Gemeinde, besonders in der Gemeindegründung?
Jüngerschaft spielt eine essentielle Rolle. Ich glaube, Christsein kann man in vielen Aspekten mit Jüngerschaft gleichsetzen. Ein Christ zu sein bedeutet, ein Jünger zu sein. Per Definition ist ein Christ kein Einzelkämpfer, kein „lonely wolf“ oder Ranger, der alleine durch den schweren Urwald der Welt kämpft. Ein Christ lebt immer in Gemeinschaft, braucht andere und weiß, dass andere ihn brauchen.
Gemeindegründung ohne Jüngerschaft geht nicht, Gemeinde ohne Jüngerschaft geht nicht. Das, was wir in der Gemeinde erleben – sonntags von der Kanzel, in Liedern, im Katechismus, im Abendmahl, in Gebeten – ist Jüngerschaft. Ebenso das, was im Alltag passiert, wenn sich einer mit dem anderen trifft, gemeinsam ein Buch liest, ins Leben investiert, sich zum Essen einlädt und ineinander investiert. Das ist gelebte Jüngerschaft, immer mit Raum für den Geist Gottes, damit sein Wort uns verändert – und das mit ganz bewusster, intentionaler Investition ineinander.
Von daher ist Gemeindegründung ohne Jüngerschaft undenkbar, Gemeinde ohne Jüngerschaft undenkbar, Christsein ohne Jüngerschaft undenkbar. Dennoch können wir in der Jüngerschaftskultur in der Gemeinde noch deutlich besser werden. Es gibt noch viel Luft nach oben. Ich glaube, das wird nicht so selbstverständlich gelebt. Der Auftrag Gemeinde wird oft auf den Sonntagsgottesdienst oder vielleicht noch eine Gemeindeveranstaltung in der Woche reduziert. Aber das Leben zu teilen, einander ins Leben zu sprechen und das auch zu wünschen, das Vorleben und Nachmachen dieser Dinge, ist wenig in der Gemeindekultur verankert.
Wie können wir das besser entwickeln?
Das ist fast ein eigenes Thema, vielleicht ein Podcast für sich. Aber ich glaube, es beginnt ganz fundamental. Die meisten Antworten, und das ist kein Kalenderspruch, haben mit dem Evangelium zu tun. Die meisten Nöte können wir nur im Evangelium begegnen – oder anders gesagt, mit Theologie. Unser Denken, unser Verständnis von Gott und von uns selbst prägt am meisten, wie und warum wir Dinge tun.
Daher würde ich ansetzen bei der Frage: Was bedeutet Kirche, was bedeutet Gemeinde? Wenn für mich Kirche nur der Sonntag ist, an dem ich mir eine Brise geistliches Aroma abhole oder eine gewisse Segnung für die kommende Woche, dann ist das zwar besser, als wenn ich nicht komme, aber es kratzt nur an der Oberfläche dessen, was Gott für uns bereithält. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von seiner Vision für gelebte Kirche.
Es geht um das Lehren, das Sprechen, das Vorleben dessen, was Gemeinde bedeutet – Menschen zu investieren. Klar haben, was Kirche ist, was Gemeindemitgliedschaft bedeutet. Für uns als Hoffnungskirche haben wir ein Gemeindeversprechen formuliert. Das ist heute in vielen Gemeinden nicht mehr üblich, war aber lange Zeit in der Kirche üblich: zu definieren, was es bedeutet, Mitglied dieser Kirche zu sein.
Wir haben ein Versprechen formuliert, das ein bisschen an ein Eheversprechen erinnert. Was wollen wir einander versprechen, wenn wir Mitglieder dieser Kirche sind? Wir sagen nicht: „Achtung, du trittst jetzt in eine Sekte ein, kannst nie wieder raus und musst dein Leben hier verschreiben.“ Sondern wir versprechen einander: Ich möchte mir Zeit für dich nehmen, für dich beten, es soll mir nicht egal sein, wenn du sündigst, und es soll dir nicht egal sein, wenn ich sündige, weil Sünde schrecklich ist und Jesus zu lieben besser als die Sünde. Ich möchte meine Talente für das Wachstum unserer Kirchenfamilie einsetzen.
Für uns bedeutet Kirche Familie, und wir wollen einander versprechen – mit Gottes Hilfe und immer imperfekt –, dass wir uns investieren wollen. Als Gemeinde wollen wir das ausleben. Viel von dem, was wir unter gelebter Jüngerschaft verstehen, beginnt damit.
Meine Vision für Kirche ist, Kirchenfamilie zu sein, wo ich nicht nur bejahe, sondern glaube und spüre: Ich kann nicht alleine, ich soll nicht alleine. Kirche ist Gemeinde, Familie zu leben. Wir versuchen, mit dem Versprechen – für manche ist es nur ein Zettel, der irgendwo im Ordner landet – jedes Mal daran zu erinnern.
Vor zwei Wochen haben wir gesagt, dass zwei neue Mitglieder aufgenommen werden wollen. Wir haben das der Gemeinde mitgeteilt, und in drei Wochen werden wir sie aufnehmen. Wenn wir sie aufnehmen, erinnern wir an das Versprechen und beten für sie auf dieser Basis. So wollen wir einander erinnern.
Darum leben wir Bibelkreise, darum leben wir Jüngerschaftsbeziehungen, darum treffen wir uns zum Mittagessen – weil wir Gemeindefamilie leben wollen. Ich glaube, an der Erinnerung, was das Evangelium ist, was Gott im Blick hat, wenn er eine Kirche sammelt, wo er eines Tages ewig sichtbar unter seinem Volk wohnen wird, und dass wir hier auf Erden schon einen Vorgeschmack davon erleben können.
Diese Vision, diese Theologie allein prägt und verändert uns, sodass wir mehr im Alltag leben wollen. Praktisch kann man sicher noch viel sagen, aber das ist das, was uns am meisten verändert.
Boah, wow, Alex, vielen Dank. Man merkt richtig deine Leidenschaft für andere Leben, Gemeinde bauen, Kirche bauen – sehr schön.
Ja, dann würde ich sagen, können wir das eigentlich abschließen für euch, die ihr zuhört. Wenn euch der Podcast gefallen hat, behaltet ihn nicht für euch, teilt ihn gerne. Das ist kein Geheimnis, das gehütet werden muss. Lasst andere daran teilhaben, empfiehlt den Podcast gerne weiter oder lasst eine Fünf-Sterne-Bewertung da.
Alex, welches Buch kannst du uns empfehlen? Speziell zu unserem Thema oder ganz allgemein?
Ja, zum Thema Gastfreundschaft hast du schon gesagt: „Offene Türen öffnen Herzen“ von Rosaria Butterfield finde ich sehr hilfreich. Es gibt das auch auf Englisch beim CV Verlag – für diejenigen, die Englisch können – mit Stimme und Gesängen von Rosaria.
Ansonsten haben wir gerade bei Werbung, und das ist jetzt mehr Eigenwerbung, das Buch „Du lebst nur einmal“ von John Piper, neu verlegt. Das Buch hat mich sehr bewegt, auch als junger Christ. Es ist eine gute Erinnerung und Herausforderung. Wer Piper schätzt, wird es mögen, wer ihn nicht schätzt, eben nicht. Es ist konfrontativ, aber auch klar im Evangelium, worum es im Leben geht.
Mir geht es so, dass ich diese Erinnerung immer wieder brauche: Diese große Vision, wer Gott ist und wofür ich lebe.
Zum Gemeindebau und Gemeindealltag gibt es beim Bethanien Verlag eine ganze Reihe zu den „neuen Merkmalen gesunder Gemeinde“. Dort gibt es ein tolles Buch zu einer Evangelisationskultur und zu einer Jüngerschaftskultur. Diese Bücher haben wir als Gemeindegründungsteam durchgearbeitet. Es ist eine kompakte Variante der neun Merkmale gesunder Gemeinde. Man muss nicht alles methodisch gleich sehen, aber als Futter zum Nachdenken und um Dinge weiter zu bewegen, finde ich das sehr hilfreich.
Cool, danke dir. Was ist deine größte persönliche Herausforderung, wenn es um Gastfreundschaft oder Gemeindegründung geht?
Immer wieder mich daran zu erinnern, dass es mehr Menschen und mehr Nöte gibt, als ich Kapazitäten habe. Einfach zu wissen: Ja, ich bin begrenzt. Und mich selbst nicht als vermeintlichen Retter zu sehen. Das klingt jetzt vielleicht hochmütig, aber so meine ich das gar nicht. Man verfällt leicht in den Modus: Hier gibt es ja noch 25 Leute, die ich treffen muss. Das sage ich als jemand, der das wirklich erlebt.
Meine Frau hilft mir da enorm, weil sie ein anderer Typ ist, mehr Ruhe braucht und mehr auf gesunde Grenzen für uns als Familie achtet. Ich tendiere dazu, Grenzen zu überschreiten, was nicht so hilfreich ist.
Mit dem zu jonglieren und zu wissen, wann es okay ist, mal eine Kapazitätsgrenze im Moment der Not zu überschreiten – das ist gut. Aber auch zu wissen, dass Gemeindegründung kein Hundertmetersprint, sondern ein Marathonlauf ist. Wir wollen das nicht nur ein paar Wochen machen, sondern lange Zeit gesund auf Grenzen achten.
Ja, das ist eine Herausforderung. Das habe ich mir auf jeden Fall gemerkt. Euer Motto als Familie Reindl – „Wir wollen für andere leben“ – so ähnlich hast du es ausgedrückt.
Genau, Familie für andere sein.
Sehr schön. Meine letzte Frage: Welchen Tipp hast du für unsere Hörer, den sie gleich diese Woche umsetzen können? Vielleicht zum Thema Gastfreundschaft.
Vielleicht lebst du das schon, vielleicht noch gar nicht. Wenn du es noch nicht lebst, dir das aber wünschst, dann fang klein und machbar an. Fang heute an, dafür zu beten. Und das ist mehr als ein Kalenderspruch: Wir glauben, dass Gott Gebet hört und uns verändert.
Fang an, für eine konkrete Person zu beten, vielleicht für eine Möglichkeit pro Woche, konkret auf Leute zuzugehen. Vielleicht auch außerhalb deiner Bubble. Wir haben ja alle eine Bubble, Leute, mit denen wir uns verstehen. Vielleicht gibt es jemanden außerhalb dieser Bubble, der nicht so oft eingeladen wird und sich freuen würde, Zeit mit dir zu verbringen.
Fang klein an, geh auf eine Person zu, nimm dir eine Person pro Woche, in die du investierst. Fang klein an, mach’s machbar. Das wäre mein konkreter Tipp.
Alex, vielen herzlichen Dank!
Sehr gerne, danke für die eineinhalb Stunden mit dir. Wahnsinn, du bist ein professioneller Podcaster, habe ich schon gemerkt. Immer wieder gezielt was einstreuen und zu den Zuhörern sprechen – top, sehr vorbildlich.
Danke an euch fürs Zuhören, danke dir, Alex. Wir hören uns beim nächsten Mal. Alles Gute, ciao ciao, tschüss!