Sorgen und Träume des Pharao
Liebe Freunde,
Pharao, der König von Ägypten, hatte schlechte Laune, weil er schlecht geschlafen hatte. Der Grund dafür war ein schlechter Traum. Er wusste genau, dass jeder Traum eine bestimmte Bedeutung hat. Es gibt ja eine ganze Wissenschaft der Traumdeutung. Manchmal spricht auch Gott durch Träume zu den Menschen. Außerdem begabt Gott manche Menschen mit der Gabe der Traumdeutung.
Der Pharao konnte seine Träume jedoch nicht erklären, und auch seine Traumdeuter wussten keine Antwort. Das bereitete ihm große Sorgen.
Nach Wilhelm Busch ist es ja ein alter Brauch: Wer Sorgen hat, hat auch Likör. Also verlangte der Pharao erst einmal nach einer Krokodilsträne. Das war ein Schnaps, ungefähr das, was für uns heute der Adlershofer Wodka ist. Der Unterschied ist nur, dass, wenn du die Krokodilsträne trinkst, das Heulen verschwindet, während beim Adlershofer Wodka das große Heulen erst kommt.
Da erscheint der Oberkellner – wir kennen ihn noch aus der letzten Predigt – und bringt die große Kürbisflasche. Als er hört, was seinem Herrn und Gebieter solche Sorgen bereitet, beginnt der Oberkellner angestrengt nachzudenken. Das fällt dem Pharao natürlich sofort auf.
Ein Beamter, der denkt – und das noch im Dienst – das ist auffällig. Der misstrauische Pharao fragt: „Was denkst du?“ Der Oberkellner antwortet vorsichtig: „Wie kann ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich rede?“ Daraufhin wird ihm von der Majestät befohlen, laut zu denken.
Die Begegnung mit Josef und die Traumdeutung
Und da erzählt er: Ich habe doch damals im Gefängnis einen jungen Juden kennengelernt. Joseph hieß er, und er konnte Träume deuten. So wie er die Träume gedeutet hat, stimmte das auch.
Der Pharao sagt: So wird dieser Mann Herr werden. Joseph wird daraufhin sofort aus dem Gefängnis in den Palast des Pharaos gebracht.
Der Pharao erzählt nun Joseph seine Träume. Das steht im ersten Buch Mose, Kapitel 41. Er sagt: Ich habe heute Nacht geträumt. Ich stand am Ufer des Nils, und da stiegen aus dem Nil sieben fette Kühe. Danach kamen sieben dünne, hässliche Kühe. So etwas Hässliches habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen, sagt der Pharao. Die dünnen Kühe fraßen die dicken und blieben danach genauso dünn und hässlich.
Dann hatte ich noch einen zweiten Traum. Ich sah sieben schöne, volle Kornähren dastehen. Danach kamen sieben dünne Ähren, und die dünnen fraßen die dicken. Das sind meine Träume. Was soll das bedeuten?
Beide Träume, sagt Joseph, bedeuten genau dasselbe: Die sieben fetten und die dünnen Kühe und Ähren stehen jeweils für sieben Jahre. Für Ägypten kommen jetzt sieben fette Jahre mit guten Ernten, reiche Jahre. Danach folgen sieben Jahre mit Missernten, Dürrejahre, Hungerjahre. Das ist es, was dir Gott mit deinen Träumen mitteilen will.
Josephs Weisheit und Gottes Geist in der Führung Ägyptens
Damit hätte Joseph seine Rede eigentlich beenden können. Doch er redet noch weiter. In großen Zügen und klaren Umrissen schildert er nun, was angesichts der kommenden 14 Jahre geschehen muss.
Er sagt, man müsse im ganzen Land große Magazine bauen, in denen das Getreide gelagert wird. Jeder Bürger soll den fünften Teil seiner Ernte dort abliefern. So könnte man die Hungersnot überstehen.
Man fragt sich, woher Joseph diesen staatsmännischen Blick hat. Man muss sich vorstellen: Er wurde als siebzehnjähriger Bauernjunge nach Ägypten verkauft – als Sklave. Dort arbeitete er sich zum Hausdiener des Pharao hoch. Weil er sich weigerte, mit dessen Frau zu schlafen, kam er ins Gefängnis. Dort saß er die ganze Zeit im Zuchthaus.
Kaum zwei Stunden nach seiner Haftentlassung legt er dem König des Landes einen kompletten Wirtschaftsplan vor, der Millionen Menschen das Leben rettet. Solche Ratschläge konnte Joseph geben, weil er, so steht es ausdrücklich in Vers 38, den Geist Gottes hatte.
Manche denken, der Heilige Geist sei nur zum Predigen oder Zungensprechen nötig. Das mag sein, aber darüber hinaus gibt der Heilige Geist Weisheit und Verstand in allen Lebenslagen und in allen Dingen. Der Heilige Geist ist nicht nur zuständig für geistliche Dinge, sondern auch für weltliche Angelegenheiten – in diesem Fall für Wirtschaftsfragen.
Es ist niemand anderes als der Heilige Geist selbst, der in Ägypten den Siebenjahresplan und die Planwirtschaft eingeführt hat.
Josephs Aufstieg und seine Haltung zur Macht
Als Joseph seine Pläne entwickelt hatte, sagte der Pharao in 1. Mose 41,39: „Weil dir Gott das alles kundgetan hat, ist keiner so verständig und weise wie du. Du sollst über mein Haus sein, und dein Wort soll mein ganzes Volk gehorchen. Nur dem königlichen Thron will ich höher sein als du.“
Zum Zeichen seiner neuen Macht und Würde erhielt Joseph vom Pharao einen Ring an den Finger und eine Kette um den Hals. Er wurde in eine Staatskarosse gesetzt und der Bevölkerung mit den Worten vorgestellt: „Dieser Mann ist der Vater des Landes.“
Das nennt man eine Karriere. Früh saß er noch im Gefängnis, wo man ihm den üblichen Löffel Vierfruchtmarmelade, ein Stück Brot und einen Blechstopf Muckefuck durch die Tür reichte. Am Mittag war er schon der mächtigste Mann im ganzen Land, vor dem die Volksmassen sich ehrfürchtig verneigten.
Als Joseph im Triumphzug durch die Stadt fuhr und die Bevölkerung ihm zujubelte, kneifte er sich immer wieder in den Arm, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Aber nein, diese Traumkarriere war Wirklichkeit. An einem einzigen Tag war dieser Mann aus der Tiefe des Zuchthauses auf den höchsten Regierungsposten aufgestiegen.
Nicht jeder Mensch hält so einen steilen Aufstieg aus. Erfolg kann manchen den Kopf verdrehen. Manche werden größenwahnsinnig oder missbrauchen ihre Macht für persönliche Zwecke. Den Emporkömmling erkennt man daran, dass er, nachdem er sich nach oben gekämpft hat, selbst zum Schuft wird. Gerade diejenigen, die aus einfachen Verhältnissen kommen, sind oft die ersten, die oben angekommen anfangen, abzusahnen.
Joseph war kein Emporkömmling. Er hatte niemals daran gedacht, einen solchen Regierungsposten zu erlangen. Er tat keinen Finger krumm für seine Karriere; es war einzig und allein das Werk Gottes. Als Joseph ganz unten war, zog Gott ihn hoch. Und als er ganz oben war, zog er daraus keine persönlichen Vorteile.
Es wäre naheliegend gewesen, dass Joseph gesagt hätte: „So, ihr Ägypter, ihr habt mir die schönsten Jahre meines Lebens geklaut, als ich bei euch im Gefängnis war. Jetzt bin ich oben, jetzt sitze ich an der Quelle, jetzt habe ich die Macht. Jetzt werde ich mich gesundstoßen, jetzt werde ich aus meinem Posten rausschlagen, was ich nur rausschlagen kann, und mich schadlos halten.“
Aber Joseph wollte sich nicht rächen. Er wollte auch nicht reich werden oder herrschen. Er wollte dienen. Er wollte diesem Land, in dem er lebte, dienen. Mit dieser Gesinnung war er offensichtlich eine ganz große Ausnahme.
Macht, Verantwortung und Gerechtigkeit
Im Großen und Ganzen ist die Weltgeschichte bisher so verlaufen, dass diejenigen, die Macht hatten, auch davon profitieren wollten. Über die Jahrtausende hinweg haben die Machthaber zwar gewechselt, doch eines blieb meist gleich: Diejenigen, die Macht besitzen, haben meistens auch das meiste.
Wenn jemand um die Macht kämpft und sagt: „Ich will an die Macht, damit ich etwas davon habe“, ist das zwar schäbig, aber wenigstens ehrlich.
Anders verhält es sich, wenn jemand sagt: „Ich will an die Macht, um die Macht gerecht zu verteilen“, und dann beim Verteilen zuerst sich selbst das größte Stück, zum Beispiel das größte Grundstück, sichert. Das ist doppelt schäbig.
Wer die Abschaffung der Privilegien der herrschenden Klasse fordert, sollte auch dann, wenn er selbst in diese Klasse aufgestiegen ist, an dieser Forderung festhalten. Er sollte nicht plötzlich anfangen, für sich selbst Privilegien zu beanspruchen.
Es ist vollkommen in Ordnung, dass Menschen, die etwas leisten und der Allgemeinheit etwas zurückgeben, sich auch etwas leisten können. Je höher ein Mensch steht, desto größer ist seine Verantwortung, sein Risiko – und desto höher sollte auch sein Lohn sein. Das ist gerecht.
Soziale Unterschiede hat es schon immer gegeben, und sie wird es auch immer geben, selbst im Sozialismus. Gleichmacherei hat mit Sozialismus nichts zu tun.
Aber es hat auch nichts mit Sozialismus zu tun, wenn diejenigen mit der größten Macht die größten Grundstücke, die teuersten Villen und die luxuriösesten Datschen besitzen.
Gesellschaftliche Beobachtungen und persönliche Integrität
Da treffen sich auf der Straße zwei. Und da sagt der eine: „Na guten Tag, Paul, wo gehst du denn hin?“ Da antwortet der andere: „Ich gehe Golf spielen.“
Daraufhin sagt der erste: „Was, spielen? Golf fahren musste man, das ist modern. Golf spielen ist doch altmodisch.“
Der andere fragt: „Wieso ist Golf spielen altmodisch?“
Da sagt der erste: „Na hör mal, das ist doch bekannt: Golf ist ein Spiel, typisch für die Reichen, für die Playboys. Das ist doch etwas typisch bürgerlich-kapitalistisches.“
Darauf entgegnet der Ballschirmkopf: „Ach so, in Golfform, das ist dann wohl etwas typisch Sozialistisches.“
Ich bewundere einen Mann wie Joseph, der seine hohe Stellung nicht für eine private Bereicherung ausgenutzt hat. Als er das ägyptische Wirtschaftsleben in die Hand bekam, flossen Millionenbeträge durch seine Hände. Keiner konnte ihn kontrollieren, er hatte keinen Kontrolleur über sich.
Es wäre für ihn kein Problem gewesen, etwas für sich abzuzweigen, in seiner eigenen Tasche zu wirtschaften oder sich am Ufer des Nils eine nette kleine Datsche zu bauen – so wie der Herr Biermann, dieser Supermarxist, der die Kapitalisten und wer weiß wen alles kritisiert hat. Er machte sich zum Sprecher der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Er war päpstlicher als der Papst und marxistischer als Marx.
Jetzt, wo er am Ufer der Elbe in Hamburg wohnt, hat er sich eine Villa gekauft für 350.000 Mark West. Das haben wir gerne bei solchen Leuten.
Solche Praktiken kommen für Joseph nicht in Frage. Und ich will euch erst sagen, warum. Joseph hatte ein Prinzip – und das war ein unwandelbares Prinzip, das sich nicht veränderte, egal in welchem Land er sich aufhielt. Er hatte einen Grundsatz, und der Grundsatz von Joseph lautete: „Nichts für mich.“
Josephs Prinzip und Gottes Ehre
Damit ihr seht, wie wichtig dieser Grundsatz für ihn war, müssen wir jetzt noch einmal ein kleines Stück zurückblenden. Wir gehen zurück zu dem Moment, als Josef aus dem Gefängnis kommt. Ich habe ja gesagt, er kommt unmittelbar aus der Zelle des Zuchthauses in den Palast des Pharao.
Geblendet von der Herrlichkeit und den Kostbarkeiten dieses Palastes tritt er nun vor den Thron. Der ganze Hofstaat ist versammelt, und alle starren ihn an. Soll das also jetzt der Mann sein, der einzige in Ägypten, der die Träume des Pharao deuten kann? Alle Augen sind auf ihn gerichtet.
Der Pharao eröffnet nun das Gespräch mit Josef. Er sagt: „Man sagt von dir, wenn du einen Traum hörst, dann kannst du ihn deuten.“ Darauf gibt Josef eine Antwort: „Das steht nicht in meiner Macht, sondern bei Gott.“
Er lehnt also die Ehre ab, dass er selbst Träume deuten kann, und sagt, diese Ehre gehört Gott. Was hier in der Bibel mit dem Satz „das steht nicht in meiner Macht“ ausgedrückt wird, ist im Hebräischen nur ein einziges Wort. Man müsste es eigentlich übersetzen mit „das gehört nicht mir“ oder noch kürzer: „nichts für mich“.
„Nichts für mich“ als Lebensmotto
Nichts für mich – das ist der erste Satz, den Joseph spricht, als er aus dem Gefängnis entlassen wird. Nichts für mich – das ist sein Grundsatz, mit dem er nun achtzig Jahre lang Ägypten regiert und dieses Volk durch die schlimmsten Wirtschaftskrisen zu einer wirtschaftlichen Blüte führt.
Nichts für mich – das ist das Geheimnis seines Lebens. Es ist das Schlüsselwort für ein Leben, das von Gott gesegnet war und zum Segen für ein ganzes Volk und viele andere Völker wurde. Auch dein Leben kann gesegnet werden und ein Segen für andere Menschen sein, wenn du diesen Grundsatz für dein Leben übernimmst: nicht für mich.
Das ist in unserer Zeit besonders wichtig, denn dieses egoistische Wohlfahrtsdenken und diese Raffgier – dieses unersättliche Mehrhabenwollen – sind die großen Gefahren unserer Zeit. Die meisten Menschen scheinen nach dem Grundsatz zu leben: alles für mich, wenn ich nur habe, wenn ich nur kriege.
Wenn du immer alles für dich haben willst, dann bist du ein ganz armes Schwein, auch wenn du äußerlich noch so reich bist. Mit dieser Gesinnung – alles für mich, Hauptsache ich kriege viel – wirst du nie glücklich werden. Nie, weil du nie alles bekommst, was du haben möchtest. Du bleibst immer unbefriedigt.
Aber du kannst dein Leben und das Leben anderer reicher machen, wenn du Gottes Liebe durch dich strömen lässt. Teile alles, was du hast. Geteilte Schätze verdoppeln sich – so haben wir es vorhin in dem Lied für die neue Jahreslosung gesungen.
Ich schlage vor, dass du das im neuen Jahr einmal ausprobierst. Du hast es in deiner Hand, ob du dein Leben reich machst oder arm. Die Devise „Nichts für mich“ macht dein Leben reich. Die Devise „Alles für mich“ macht dein Leben arm. Und außerdem ist sie für einen Christen sowieso nicht akzeptabel.
Christliche Glaubwürdigkeit und Lebensstil
Vor ein paar Jahren fand in Nairobi die Weltkirchenkonferenz statt. Einige Kirchenfürsten wohnten dabei in sündhaft teuren Hiltonhotels. Dass dies in einem unterentwickelten afrikanischen Land geschah, in dem bitterste Armut herrscht, schadete den frommen Reden und Solidaritätsbekundungen dieser Christen erheblich.
Ab einem bestimmten Lebensstandard werden Christentum und Sozialismus unglaubwürdig. Du bist kein Kirchenfürst, und in dem Land, in dem du wohnst, herrscht keine bittere Armut. Aber genau das ist das Problem. Hier herrscht Wohlstand, hier herrscht die Gier nach mehr – nach immer mehr und dem Wunsch, alles haben zu wollen.
Wenn man sieht, wie die Menschen gerade heute Nachmittag, kurz vor Weihnachten, wie von einer Kaufwut besessen durch die Kaufhäuser strömen, kann man nur das große Kotzen bekommen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieses gigantische Gekramsche aus Anlass des Geburtstags des Mannes inszeniert wird, der wie kein anderer nach dem Grundsatz lebte: „Nichts für mich.“
Jesus, der Sohn Gottes, dessen Geburt wir in vierzehn Tagen feiern, wollte für sich selbst nichts, als er in diese Welt kam. Das Einzige, was er davon hatte, in diese Welt zu kommen, war ein einfacher Stall. Das begann mit seiner Geburt, als es für ihn nur eine Krippe gab, in der er liegen konnte, und endete mit seinem Tod, als er ans Kreuz genagelt wurde.
Zwischen diesen beiden Punkten lag ein Leben voller Armut und Einfachheit. Jesus sagte: „Ich bin nicht gekommen, um mich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen.“
Jesus will nichts für sich haben. Er will von dir überhaupt nichts haben. Er möchte dir etwas geben: die Vergebung deiner Schuld.
Versöhnung und göttliche Liebe im Umgang mit Schuld
Eines Tages, um wieder auf unsere Geschichte zurückzukommen, kommt es zu einer Begegnung zwischen Josef und seinen Brüdern, die ihm gegenüber schuldig geworden sind. Die Hungersnot betrifft nicht nur Ägypten. Solche Wirtschaftskrisen breiten sich über Grenzen und Länder aus. Sie fragen nicht danach, wo eine politische Grenze verläuft. Alle Menschen um Ägypten herum müssen mithungern – auch in Kanaan, wo Josefs Brüder wohnen. Dort herrscht ebenfalls Hunger.
Die Leute machen sich alle auf den Weg nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Eines Tages sitzt Jakob mit dem Rest seiner Söhne am Tisch. Als sie nur noch die letzten Kartoffelschalen haben, sagt der alte Jakob: „Also wisst ihr was, Jungs, ihr könntet eigentlich auch mal nach Ägypten gehen.“
In dem Moment, in dem er das Wort „Ägypten“ ausspricht, schauen sie sich alle ganz erschrocken an. Jakob bemerkt das natürlich (1. Mose 42,1) und fragt: „Was guckt ihr denn so komisch?“ Doch die Brüder schweigen. So wie sie schon 22 Jahre lang geschwiegen haben – sie haben verschwiegen, dass sie ihren Bruder als Sklaven nach Ägypten verkauft haben.
Doch das Schweigen hilft nichts. Der Vater schickt sie los, auch sie sollen in Ägypten um Getreide bitten gehen. So machen sie sich auf den Weg und stehen schließlich eines Tages vor dem Mann, der die Getreideverteilung leitet. Sie ahnen nicht im Geringsten, dass dieser Mann ihr eigener Bruder ist.
Josef erkennt sie jedoch sofort. Als er seine Brüder sieht, wie sie vor ihm im Staub knien, mit der Stirn bis zum Erdboden geneigt – so, wie es sich für Bittsteller gehört –, fällt ihm der Traum aus seiner Kindheit wieder ein. Ich habe ihn euch ganz am Anfang erzählt: Josef hatte geträumt, dass seine Garben aufrecht standen, während sich die Garben seiner Brüder vor seiner neigten.
Jetzt wird dieser Traum Wirklichkeit. Das, was er damals geträumt hat, erfüllt sich. Am liebsten möchte Josef seinen Brüdern um den Hals fallen und sagen: „Brüder, kommt, steht doch auf, euch ist doch längst alles vergeben.“ Doch das sagt er nicht. Stattdessen beschuldigt Josef seine Brüder. Er sagt: „Ihr seid Spitzel, ihr seid hierher gekommen, um das Land auszukundschaften!“
Die Brüder beteuern jedoch: „Nein, wir sind harmlose Bürger. Wir haben Hunger und möchten Getreide.“ „Nichts gibt es“, sagt Josef, „ihr seid Spitzel, ihr seid Kundschafter!“ Und er steckt sie ins Gefängnis.
Jetzt sitzen die Brüder im gleichen Gefängnis wie Josef – genauso unschuldig wie er, aber nicht so lange, nur drei Tage. In diesen drei Tagen redet Gott mit ihnen. Sie erkennen in dieser Zeit alles, was ihnen hier passiert: Dass sie unschuldig im Gefängnis sitzen, denn sie waren keine Spitzel. In diesem Punkt sind sie unschuldig.
Aber sie erkennen auch, dass das, was ihnen passiert, die Quittung für ihre alte Schuld ist – dass sie ihren Bruder verkauft haben. Mit anderen Worten: In diesen drei Tagen erkennen sie, was sie getan haben, und es packt sie die Reue.
Die Härte und Tiefe wahrer Liebe und Vergebung
Als Joseph seine Brüder ins Gefängnis schickt, tut er das nicht aus Rache. So kleinlich war dieser Mann nicht. Er hatte seinen Brüdern längst vergeben. Nicht aus Rache, sondern aus Liebe schickte er sie dorthin, damit sie zur Reue kommen.
Göttliche Liebe, die echte Liebe, ist nicht sentimental und weichlich wie eine Weihnachtsschnulze. Echte Liebe ist hart. Hart wie eine Grippe oder ein Kreuz aus Holz. Wir denken oft, Liebe heißt, sich gegenseitig jeden Schmerz zu ersparen und sofort mit dem Trost der Vergebung zu kommen. Doch Gott hat es mit dem Trost der Vergebung nicht so eilig.
Bevor Gott zu dir sagt: „Deine Sünde ist dir vergeben“, bringt er dich erst einmal zur schmerzlichen Erkenntnis deiner Schuld. Als Joseph seine Brüder ins Gefängnis schickte, blutete seine Seele. Aber versteht ihr, es musste sein. Sie sollten erst das ganze Ausmaß ihrer Schuld erkennen, damit sie dann wirklich die Vergebung ergreifen konnten.
Wenn Gott dich ins Leiden schickt, blutet auch ihm die Seele. Wenn du leidest, leidet Gott noch viel mehr als du. Gott liebt dich doch. Manchmal fasst er sich nur deswegen so hart an, damit du das ganze Ausmaß deiner Schuld erkennst und endlich Gottes Vergebung suchst und empfängst.
Das sind harte Stunden, wenn das Licht von oben in unser Leben fällt, wenn wir vor uns selbst erschrecken und vor dem, was wir getan haben. Aber das sind die schönsten Stunden, wenn wir uns in echter Reue vor Jesus beugen und sagen: „Herr, vergib mir.“ Dann schlägt für uns die Stunde der Freiheit. Wir treten aus dem finsteren Gefängnis unserer Gefangenschaft heraus in das volle Scheinwerferlicht von Gottes Liebe.
Denn ein Licht ist gekommen, das unsere Nacht erhellt hat. Dieses Licht wird niemals verlöschen in unserer Welt.
