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Sehnsucht nach Sichtbarkeit

Vom Wunsch, Gottes Herrlichkeit zu sehen, 2. Mose 33,17-23
Wer wie Mose daran leidet, dass sein Lebensweg kein gemütlicher Spazierweg, sondern ein gefährlicher Wüstenweg ist, wird wie Mose flehen: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Aber Gott erfüllt diese Bitte anders: Mose erfährt Gottes Gütigkeit und Barmherzigkeit und Freundlichkeit. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Aufbruchstimmung am Sinai, liebe Gemeinde. Reisevorbereitung in der Wüste. Bewegung im israelitischen Biwak. Zeltpflöcke werden gelöst, Planen werden gerollt, Kisten werden gepackt. Frauen raffen ihre Siebensachen zusammen, Männer schirren die Ochsengespanne, Kinder tollen auf den Wagen. Endlich, nach langen Wochen des Wartens, soll es weitergehen, nicht zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, sondern vorwärts zu den Honigtöpfen Kanaans. Auffallenderweise hält zu diesem Zeitpunkt der Anführer Mose keine Stabsbesprechung ab, um mit Aaron, Hur und seinem persönlichen Adjutanten Josua die Marschroute festzulegen. Er unternimmt auch keine Inspektion, um sich selbst von der Reisetauglichkeit seiner Truppe zu überzeugen. Dieser Chef besteigt erst recht keinen Befehlsstand, um letzte Anweisungen an sein Volk zu geben. Nein, Mose befindet sich überhaupt nicht auf den Füßen, sondern auf den Knien. Am Rande des Geschehens faltet er die Hände. Der Gottesmann betet. Er weiß, dass er jetzt mehr braucht als eine ausgeklügelte Wegbeschreibung, mehr als gut gesattelte Tiere, mehr als feldmarschmäßig ausgerüstete Truppen. Für die Durchquerung der Wüste, die alles andere als ein Spaziergang sein wird, braucht es den Herrn selbst. Immer brauchen wir diesen Herrn, wenn wir eine dunkle Zukunft durchmessen wollen. Deshalb redet er mit Gott, so wie man mit einem Kollegen redet. Er ringt mit ihm, so wie man mit einer Person ringt. Er läuft in seinen Herrn hinein, um ihm den Weg zu verstellen. Wer solch stürmisches Bitten als unverschämte Bettelei abtut, hat wenig von richtigem Beten verstanden. Biblische Beter sind Gott auf den Leib gerückt. "Herr," sagt Mose, "ich habe so viel Vergesslichkeit gesehen. Kaum waren die Elitetruppen des Pharao im Meer verschwunden, da war auch die Erinnerung an deine starke Hand weg. Herr, ich habe so viel Undankbarkeit gesehen. Kaum war die Marschverpflegung als Manna vom Wüstenhimmel gefallen, da schimpften sie über leere Feldflaschen. Herr, ich habe so viel Gottlosigkeit gesehen. Kaum war ich auf den Berg geklettert, da ging der Tanz um das goldene Kalb los. Herr, nach so viel Vergesslichkeit und Undankbarkeit und Gottlosigkeit lass mich jetzt deine Mächtigkeit sehen, lass mich jetzt deine Gewichtigkeit sehen, lass mich jetzt deine Herrlichkeit sehen. Ich möchte ein Pfand für deine Nähe. Ich möchte einen Beleg deiner Gegenwart. Ich möchte einen Beweis dafür, dass ich keinem Lügner aufgesessen bin. Tret' aus deiner Unsichtbarkeit. Komm in meine Wirklichkeit. Zeig mir deine Herrlichkeit." So kühn diese Bitte ist, so verständlich ist sie zugleich. Wo Dunkelheit ist, da ist Sehnsucht nach Licht. Wo Liebe ist, da ist Sehnsucht nach Einswerden. Wo Glaube ist, da ist Sehnsucht nach Schauen. Wo Angst und Zweifel und Unzulänglichkeit ist, da ist Sehnsucht nach Herrlichkeit. Wer wie Mose daran leidet, dass sein Lebensweg eben kein gemütlicher Spazierweg, sondern ein gefährlicher Wüstenweg ist, der schon durch manche Durststrecken ging und der noch viele Gefahrenzonen zu überwinden hat, der wird ihn verstehen und mit ihm flehen: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Und Gott weist diese ungeheure Bitte nicht brüsk ab. Aber Mose wird darauf aufmerksam gemacht, dass ihrer Erfüllung letzte Grenzen gesetzt sind.

Als Kinder bekamen wir zu Weihnachten ein Teleskop geschenkt. Die Freude war groß. Bei Nacht konnten wir Mond und Sterne beobachten. Aber wehe, wenn uns eingefallen wäre, damit am Tage die Protuberanzen, die Sonnenflecken zu studieren. Sonnenlicht zerstört unser Auge. Gott aber ist heller als tausend Sonnen, nicht mehr in Watt oder Lumen anzugeben, ein verzehrend Feuer. Wehe uns, wenn uns einfiele, ihm Auge in Auge gegenüberzutreten! Gotteslicht zerstört unser Leben. Ein Jesaja ahnte es. Als im Tempel dieses Licht anging, schrie er: "Weh mir, ich vergehe." Ein Paulus erfuhr es. Als vor Damaskus der Himmel aufblitzte, fiel er blind vom hohen Ross auf das Pflaster. Ein Seher Johannes erlitt es. Als auf Pathmos der Herr selber die Szene betrat, stürzte er und lag wie ein Toter auf dem Fußboden. Gottes Sichtbarkeit ist keiner gewachsen. "Kein Mensch wird leben, der mich sieht", muss sich Mose belehren lassen. Kein Mensch wird weiterleben, der dem Gotteslicht ausgesetzt ist. Kein Mensch wird überleben, der in das Strahlungsfeld des Höchsten gerät. Gottes Unsichtbarkeit ist unser Schutz. Deshalb wird die Bitte Moses nicht so erfüllt, dass er die Herrlichkeit Gottes erlebt, aber dafür seine Gütigkeit und seine Barmherzigkeit und seine Freundlichkeit erfährt. Davon redet dieser geheimnisvolle Text und wir tun gut daran, auch davon zu reden.

1. Gottes Gütigkeit zeigt sich an einem Namen

"Ich will dir den Namen des Herrn kundtun." Mose hört also den Namen Gottes. Was das bedeutet?

Es gibt Menschen, die leben ohne Namen. Sie tauchen in der Anonymität unter. Sie zeigen sich nur inkognito. Namenlose Menschen sind uns unheimlich. Sie sind unberechenbar und deshalb gefährlich. Mit Anonymen wollen wir nichts zu tun haben. Dann gibt es Zeitgenossen, die kennen wir mit Namen. Ihr Amt weist sie als hochgestellte Persönlichkeiten aus. Sie gehören zur Elite der Doktoren, Direktoren, Professoren und anderen Geistesakkumulatoren. Wir treten ihnen nicht schulterklopfend gegenüber. Keiner wagt es, "Hallo, altes Haus!" zu sagen. Ehrerbietig halten wir Abstand. Und dann gibt es solche, die nennen ihre Namen. Klassendenken ist ihnen fremd. Falscher Stolz zeichnet sie nicht aus. Hochnäsig sind sie nicht. Sie meinen es gut mit uns. Sie kommen uns nahe. Sie bieten uns Freundschaft an.

Genau so will dieser Gott nicht ohne Namen leben. Er taucht nicht in der Anonymität unter. Einen Gott inkognito gibt es nur in den Naturreligionen. Namenlose Götter sind unheimlich, unberechenbar, gefährlich, deshalb haben wir am besten nichts mit ihnen zu tun. Dieser Gott will auch keine höchstgestellte Persönlichkeit sein. Er reiht sich nicht in die Elite eines Götterhimmels ein, wo er den ersten Platz beansprucht. Auf unsere Ehrentitel ist er ohnehin nicht angewiesen. Dieser Gott nennt seinen Namen. Er meint es gut mit Mose. Er kommt ihm näher. Er bietet ihm seine Freundschaft an. Nun muss er nicht allein seines Weges ziehen. Dieser Name verbürgt Gottes Gegenwart. In Hör- und Rufweite ist er ihm nahe. - Er ist jedem nahe, seit er in seinem eigenen Sohn uns noch näher gerückt ist. An Weihnachten ist seine Güte offenkundig geworden. Jesus Christus ist das Du Gottes. In ihm macht er mit uns Du. Seither dürfen wir mit ihm per Du reden, immer, in jeder Wüste, an allen Kreuzungen: "Du Herr, Du kennst mein Tief, in das ich geraten bin. Kein Mensch kann mich herausholen. Er wird immer dunkler und einsamer um mich. Höre mich. Du Herr kennst meinen Stress, in dem ich stecke. Ich weiß nicht mehr, wo ich zuerst hinlangen soll. Die Arbeit erdrückt mich. Rette mich. Du Herr kennst mein Bangen vor der Zukunft. Alle Wege liegen im Schatten. Nichts ist mehr sicher. Leite mich!" Jetzt gilt: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden. Doch, Gottes Gütigkeit zeigt sich an einem Namen.

2. Gottes Barmherzigkeit zeigt sich an einer Hand

"Ich will meine Hand über dir halten." Mose spürt also die Hand Gottes. Bisher wusste er nur von ihr. Sein Volk war ja unter die Hand Pharaos geraten, der seine Gastarbeiter nach Strich und Faden ausnützte. In Pithom und Ramses brannten sie Ziegel, errichteten Häuser und bauten Pyramiden. Wer aufmuckte, hatte nichts zu lachen. Die Kapos knüppelten die Aufmüpfigen nieder. Jeder Widerstand wurde im Keime erstickt. Es bestand nicht die geringste Chance, dieser eisenharten Hand zu entkommen. Dann aber holte Gott diesen Mose von der Viehweide und schickte ihn mit leeren Händen zu dem Tyrannen. Eine Landplage nach der andern schüttelte die Ägypter. Was blieb ihnen anders übrig, als ihre billigen Arbeitskräfte schließlich ziehen zu lassen. So kam es zu jenem unvergesslichen Exodus aus jahrelanger Unterdrückung und jedes Kind wusste es: "Der Herr hat uns mit mächtiger Hand aus Ägypten geführt." Wenn also jetzt Mose in einer engen Felsenkluft diese Hand über sich spürte, dann konnte er gewiss sein: Ich bin in Gottes Hand. Keine andere Macht darf Hand an mich legen, Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende - bis heute nicht. Er hat nämlich seinen Arm ganz lang gemacht. Jesus Christus ist die Hand Gottes. Er hat sie ausgestreckt zu dem blinden Bartimäus, der im Dunkeln hockte und nur noch tasten konnte. Er hat sie dem Jüngling von Nain auf den Kopf gelegt und ihm ein neues Leben gegeben. Er hat sie dem Langzeitkranken am Teich Bethesda gegeben und ihm die notwendige Kraft zurückgegeben. Er hat sie der Dirne am Jakobsbrunnen hingestreckt und sie aus dem Schlamm der Schuld herausgezogen. Er hat sie so weit ausgestreckt und nicht einmal dann zurückgezogen, als ein Zimmermannsnagel diese Hand durchbohrte. Mit blutenden Händen sagte er zu dem Verbrecher: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Jesus will jeden erreichen und decken. Deshalb zeigt er am Ostermorgen seine Hände und sagt: Friede sei mit euch! Bis zum heutigen Tag hat dieser Herr seine schützende und bewahrende Hand nicht abgezogen. Wer sich an seine Seite stellt, der weiß auch in den dunkelsten Stunden, in schwierigen Entscheidungen, in herbem Abschied: "Ich bin geborgen o seliger Stand, so heut wie morgen in Gottes Hand." Gottes Barmherzigkeit zeigt sich an einer Hand.

3. Gottes Freundlichkeit zeigt sich in einer Spur

"Ich will meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen." Mose entdeckt also die Spur Gottes. Er macht sie aber nicht so aus, dass er nach vorne blickt. Vor der Zukunft hängt nach wie vor ein dunkler, schwerer, undurchdringbarer Vorhang. Mose schaut rückwärts. Und in der Rückschau sieht er mit staunenden Augen, wie gnädig dieser Gott mit ihm umgegangen ist. In Ägypten ist keine Familie zurückgeblieben. Im Roten Meer ist kein Israelit ertrunken. In der Wüste Sin ist kein Kind verhungert. In Raphidim ist auch nicht einer verdurstet: lauter Stationen auf einem Weg, der wie ein Umweg aussah, in Wirklichkeit aber ein Schnellweg zum richtigen Ziel war. Alle Gottesmänner haben diese Erfahrung gemacht, auch die Jünger Jesu. In der Rückschau gingen ihnen die Augen dafür auf, wie zielbewusst dieser Herr sie geleitet hat. Kapernaum, Tiberias, Jericho, Bethanien, Jerusalem: lauter Orte auf einem Weg, der wie durchkreuzt aussah, in Wirklichkeit aber der Kreuzweg Jesu war. - Auch wir kommen über diese Erfahrung nicht hinaus. Wohl wünschen wir uns die Spur Gottes als Loipe, auf der wir sicher und gefahrenlos in die Zukunft hineingleiten könnten. Aber Gottes Spur ist uns nicht als Loipe für die Zukunft, sondern nur als Fußspur in der Vergangenheit gegeben. Nur in der Rückschau erkennen wir den Weg Gottes, aber dort können wir ihn mit staunenden Augen erkennen. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Gehen Sie die letzten 20, 40 oder 70 Jahre zurück. Müssen nicht auch Sie im Rückblick auf dunkle und helle Tage, auf schöne und bittere Stunden, auf glückliche und schwere Augenblicke bekennen: Gott hat es also wohlbedacht, und alles, alles recht gemacht, gebt unserem Gott die Ehre? Keine Stürme waren und sind so stark, dass sie die Fußspuren Gottes in unserem Leben verwehen könnten. Gottes Freundlichkeit zeigt sich an einer Spur.

Eine russische Legende erzählt von zwei Mönchen. Sie lasen in einem alten Buch, dass es am Ende der Welt eine Tür gebe, hinter der sich Himmel und Erde berührten und die Herrlichkeit Gottes zu schauen sei. Fasziniert von dieser Aussicht zogen sie los und durchstreiften die ganze Erde. Alle Entbehrungen und alle Gefahren konnten sie von ihrem Ziel nicht abbringen. Schließlich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür und mit bebendem Herzen traten sie ein. Als sie ihre Augen erhoben, fanden sie sich vor dem Betschemel ihrer alten Klosterzelle. Und dann begriffen sie: Der Ort, wo sich Himmel und Erde berührt, befindet sich nicht am Ende der Welt, sondern hier in unserem Lebensraum. Wer hier seine Knie beugt und seine Hände faltet, der wird Gottes Gütigkeit, Barmherzigkeit und Freundlichkeit erfahren und so mit Johannes sprechen können: Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Amen