Einführung und Gebet um göttlichen Beistand
Doch rufen wir den Herrn noch um seine Hilfe an, bevor wir fortfahren. Wir können dabei sitzen bleiben.
Ja, Herr Jesus, deine Herrlichkeit bleibt ewig. Wir beten, dass du, der herrliche Gott, zu uns sprechen möchtest. Ja, wir bitten um dein Reden, Herr Jesus. Wir sehnen uns danach, deine Stimme zu hören. Rede zu uns, lehre uns.
Wir bitten um deinen Beistand und deine ganze Hilfe, auch für diese Stunde, und danken dir dafür. Amen!
Rückblick auf die vorherige Predigt und Einführung in die Seligpreisungen
Ja, wir sind gestern Abend in Kapitel 5 stehen geblieben, zum Schluss gab es einen Exkurs. Dieser Exkurs erlaubte mir nicht mehr, zum Hauptthema zurückzukehren, da die Zeit einfach vorbei war. Es fehlen mir etwa zwanzig Minuten. Dafür bin ich selbst verantwortlich, weil ich die Zeit schlecht durchdacht und eingeteilt habe.
Nun habe ich mich entschlossen, aufgrund einer Anregung – ich weiß nicht genau, ob sie gestern Abend oder heute beim Frühstück von meiner Gastgeberin kam – zur siebten und achten Seligpreisung doch einige Sätze zu sagen.
Gestern lasen wir bei der sechsten Seligpreisung den Vers: „Selig sind, oder wohl denen, die ein reines Herz haben.“ Das war Anlass, uns darüber Gedanken zu machen, dass es auch auf das Herz der Sache ankommt. Dass bei uns das Herz, also die Beweggründe unseres Tuns, wichtiger sind als das, was wir äußerlich zeigen.
Der weise Salomo sagt: „Behüte dein Herz mehr als alles, denn von ihm sind die Ausgänge des Lebens“ (Sprüche 4,23).
Verbindung zwischen reinem Herzen und Frieden untereinander
Wir sehen nun, wie diese Aussage beziehungsweise diese Seligpreisung „Selig sind, die ein reines Herz haben“ zur nächsten führt. Diese hat sehr präzise etwas mit Frieden untereinander zu tun.
Die siebte Seligpreisung lautet in Matthäus 5,9: „Glückselig die Friedensstifter.“ Luther hat hier mit „Selig die Friedfertigen“ übersetzt. „Friedensstifter“ ist eigentlich die treffendere Bezeichnung, denn sie werden „Söhne Gottes“ heißen.
Wie hängt das mit einem reinen Herzen zusammen? Es geht darum, dass wir nicht nach außen etwas demonstrieren, was wir innerlich gar nicht meinen oder sind. Wenn wir einander etwas vormachen, dann haben wir kein reines Herz. In diesem Zustand wächst kein Vertrauen untereinander.
Der Geist Gottes verbindet uns mit dem Herrn und miteinander. Wenn der Geist Gottes uns nicht verbindet und aneinander bindet, dann sind wir nicht so verbunden, wie es der Herr für seine Gemeinde wünscht. Wenn wir uns etwas vormachen, kann dieses Vertrauen nicht wachsen. Der Geist Gottes zieht sich zurück.
Dann mögen wir zwar eine korrekte Form haben, vielleicht sogar ein schönes Programm, viel Aktivität oder eine gut organisierte Gemeinschaft. Doch der Geist Gottes zieht sich zurück. Die Gegenwart des Herrn wird dann nicht mehr erkennbar.
Darum hängt es sehr direkt zusammen: Frieden untereinander ist nur möglich, wenn wir ein reines Herz haben.
Praktische Beispiele für Frieden und Gemeinschaft
Und das heißt auch: Wenn ich anfange, mich über Geschwister zu ärgern – das kommt vor –, dann mache ich manchmal Leuten auch Ärger. Sie ärgern sich über mich. Ich bin dann aber sehr dankbar, wenn sie kommen und es mir sagen: „Das hat mich aufgeregt.“
Dann habe ich die Gelegenheit, zu sagen: „Das tut mir leid. Das war unbedacht, was ich sagte. Es war verkehrt, was ich tat.“ So entsteht Gemeinschaft.
Aber wenn ich mich über jemanden aufrege und ärgere, sei es auch nur wegen einer so geringfügigen Sache, wie dass er vielleicht schon wieder dieses unpassende Lied vorgeschlagen hat, dann komme ich nach Hause und sage meiner Frau immer dasselbe.
Dann beginnt man nicht nur schlecht zu denken, sondern auch schlecht übereinander zu reden. Wenn wir schlecht übereinander reden, zerstören wir die Gemeinschaft und den Frieden untereinander.
Das hat etwas mit einem reinen Herzen zu tun. Wir zeigen es nicht offen, wir tun ganz freundlich, nett und anständig. Aber wir denken das Unsrige. Und danach reden wir hinter dem Rücken voneinander auch das Unsrige.
Dann sind wir Schauspieler. Das griechische Wort dafür ist Hypokrites, was Schauspieler bedeutet. Es wäre gar nicht schlecht, wenn wir dieses Wort immer mit „Schauspieler“ übersetzen.
Wir dürfen keine Schauspieler sein – Leute, die einfach ihren Part gut spielen, aber die Sache eigentlich gar nicht meinen.
Bedeutung und Herausforderung des Friedensstiftens
Selig sind die Friedenstifter – und dieser Ausdruck bedeutet eigentlich Friedensmacher, ein Eirene. Poyos oder Eireno Poyos ist jemand, der Frieden schafft.
Wir können Frieden machen, allerdings nicht auf dieselbe Weise wie der Herr. Er hat Frieden durch das Blut seines Kreuzes geschaffen, und das kann nur Gott, nur der Sohn Gottes. Dennoch wird uns hier deutlich gemacht, dass wir dazu beitragen können. Ja, wir können Frieden erwirken, bewirken und herstellen – Frieden unter Brüdern. Das können wir bewirken, erwirken und herstellen.
Dabei kostet es uns etwas. Den Herrn hat es alles gekostet, Frieden zwischen uns und Gott zu schaffen. Und auch uns wird es etwas kosten, wenn wir in dieser Sache glücklich sein wollen – als solche, die Frieden fördern, Frieden stärken und Frieden bewirken. Wir sollen alles tun, um Unfrieden zu vermeiden. Es kostet uns etwas.
Es ist einfach, das zu tun, was amerikanische Präsidenten der Reihe nach immer wieder gemacht haben. Die etwas Älteren unter uns erinnern sich sicher noch daran – ich zähle ja schon zu ihnen –, an Präsident Jimmy Carter. Er brachte Anwar Sadat und Menachem Begin zusammen. Mit dem berühmten Jimmy-Carter-Strahlen in der Mitte standen links und rechts die beiden verfeindeten Politiker. Er brachte sie bei der ersten Konferenz am Camp David zusammen, das war noch in den 1970er Jahren.
Friedenstifter – selige Friedenstifter! Solche Worte wurden sogar in diesem Zusammenhang zitiert. Dabei hat es Carter gar nichts gekostet, keinen Deut. Im Gegenteil: Es hat ihm ziemlich viel Ansehen gebracht. Es hat ihn nichts gekostet.
Uns hingegen wird es sehr viel kosten, wenn wir dazu beitragen wollen, dass Frieden entsteht, wo Unfriede herrscht, und dass Frieden gewahrt wird.
Lernen vom Vorbild Christi im Frieden stiften
Und das lernen wir vom Herrn, denn er konnte nur Frieden schaffen, indem er die Stelle der Schuldigen einnahm. Dort, wo wir auf unser Recht bestehen, hätte der Herr ebenfalls auf sein Recht bestanden. Dann wäre niemals Frieden zwischen den Menschen und Gott entstanden.
Hätte er immer darauf bestanden, dass die Menschen ihm gehorchen, ihn ehren und dienen, wäre nie Frieden geworden zwischen Gott und den Menschen. Deshalb musste er für die Schuld anderer bezahlen und auf sein Recht verzichten.
Wir werden Frieden stiften, wenn wir bereit sind, auf unser Recht zu verzichten und Unrecht an uns geschehen zu lassen. Das widerspricht unserem ganzen Gemüt und geht uns gegen den Strich. Es ist wirklich so, als würde man ein Pferd gegen den Strich bürsten.
Ich bin kein Pferdeliebhaber, aber wahrscheinlich gibt es hier einige, die es sind. Für sie muss das besonders schmerzhaft sein. So schwer fällt es uns, Unrecht einfach hinzunehmen und nicht darauf zu bestehen, Recht zu bekommen.
Paulus sagt das den Korinthern im 1. Korinther 6,7. Die Korinther hatten Streit miteinander, und es ging so weit, dass sie sich gegenseitig vor Gericht verklagten. Paulus fragt in 1. Korinther 6: Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen? Lasst ihr euch nicht lieber Unrecht geschehen?
Oder wisst ihr nicht, dass ihr damit selbst Unrecht tut und andere übervorteilt? Brüder, wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden?
Praktische Konsequenzen des Friedensstiftens
Wenn wir in dieser Sache den Fußstapfen des Herrn folgen und Frieden bewirken, dann wird von uns Frieden ausgehen. Wir können uns vornehmen, in der Hand des Herrn Werkzeuge zu sein, durch die Frieden unter den Brüdern entsteht. Nicht Unfriede, nicht Zerwürfnis, nicht Entzweihungen, nicht Parteiungen sollen von uns ausgehen.
Frieden können wir bewirken, wenn wir Böses nicht mit Bösem vergelten (Römer 12,17). Frieden können wir auch fördern, wenn wir bereit sind, auf eigene Vorteile und Vorrechte zu verzichten.
Ich erinnere an Abraham und Lot. Die Hirten Abrams und Lots hatten Zank und Streit. Dann sagt Abraham: „Lasst uns doch nicht zanken, denn wir sind Brüder.“ Im nächsten Satz steht: „Und die Kanaaniter waren im Land.“ Das ist interessant. Es geht auch darum, wie die Gottlosen uns betrachten.
Abraham sagt also: „Lasst doch nicht Zank sein unter uns, denn wir sind Brüder.“ Und was tut Abraham? Er gibt Lot die Wahl, was er lieber haben möchte. Dabei hätte Abraham das Recht gehabt, als der Ältere und als derjenige, der Lot überhaupt mitgenommen hatte, zu sagen: „Schau, dieses Land gehört jetzt mir, das muss man einfach einsehen, ist doch klar und logisch.“ Lot hätte sich beugen müssen, aber wahrscheinlich hätte er immer in seinem Herzen gedacht: „Dieser Abraham, der muss immer Recht behalten.“ Das hätte ihn dauernd gewurmt.
So aber sagte Abraham zu Lot: „Wähle du dir das bessere Land aus.“ Und so blieb Friede.
Es wird uns also etwas kosten, Frieden zu erhalten, Frieden zu fördern und Frieden zu wahren. Es kostet Selbstverleugnung. Das heißt, es kostet manchmal uns selbst.
Beispiel aus dem Leben von Georg Whitfield
Ein Beispiel – und mit diesem schließe ich die siebte Seligpreisung aus dem Leben von Georg Whitfield ab. Ich habe eine fast unerlaubte Bewunderung für Georg Whitfield. Dabei muss ich immer darauf achten, dass sie in Grenzen bleibt.
Georg Whitfield war, man kann das wohl sagen, seit den Tagen der Apostel der vom Herrn am meisten gebrauchte Evangelist – wirklich ein Mann Gottes. Er war ein enger Freund von John Wesley. Doch John Wesley hat ihn einmal auf eine wirklich unerlaubte und hinterhältige Weise hintergangen. Das brachte großen Schaden für die gesamte Arbeit von Whitfield mit sich.
Die Folge war, dass viele Anhänger von Georg Whitfield versuchten, ihn gegen John Wesley aufzubringen. Sie wollten, dass Whitfield diesem Mann endlich die Meinung sagt, ein klares Wort spricht und für klare Verhältnisse sorgt. Sie wollten, dass er John Wesley gegenüber etwas deutlich ausspricht.
Solche Anhänger fragten Georg Whitfield: „Mr. Whitfield, und Sie wollen, dass möglichst viele das hören: Glauben Sie, dass wir John Wesley im Himmel sehen werden?“ Darauf antwortete Georg Whitfield: „Nein, ich befürchte, dass wir ihn nicht sehen werden. Denn er wird dem Thron Gottes so nahe sein, und wir, die wir so weit hinten stehen, werden keinen Blick von ihm erhaschen.“
Ja, das war seine Art: auf keinen Fall Entzweihung unter Brüdern zu fördern, sondern das Gegenteil zu bewirken. Durch diese Haltung, Gesinnung und Art blieben diese beiden Brüder nach einer kurzen Zeit der Entfremdung bis an ihr Lebensende herzlich verbunden – auch wenn sie theologisch recht verschieden dachten.
Ich glaube nicht, dass der Herr Georg Whitfield am Richterstuhl Christi tadeln wird und ihm sagen wird: „Georg, warum hast du ihm nicht tüchtig den Kopf gewaschen?“ Ich glaube es nicht. Vielmehr wird er ihm sagen: „Wohlgetan, du getreuer Knecht! Selig bist du, du warst ein Friedenstifter.“
Die achte Seligpreisung: Verfolgung um der Gerechtigkeit willen
Und dann die achte Seligpreisung: Selig sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.
Das zeigt uns auch, dass, wenn ich ein Friedensstifter bin, ich auch bereit sein muss, verfolgt zu werden. Nun, wir werden ja nicht in der Weise verfolgt, wie wir es verstehen, dass man uns vertreibt, in Gefängnisse schleift oder mit Verfügungen und Verboten versucht, uns unschädlich zu machen. Aber Verfolgung beginnt eigentlich schon dort, wo man abgelehnt wird, wo man Ablehnung spürt.
Verfolgung ist einfach das höchste Ausmaß von Ablehnung. Ein Verfolger ist jemand, der öffentlich geächtet wird, der verunglimpft wird, der als Gefahr für die Gemeinschaft gilt. Unter Umständen verliert er seinen ganzen Besitz und kann damit all seine Pläne begraben. Eigene Wünsche kann er nicht durchsetzen, auch das natürliche Verlangen nach Zuwendung oder nach Anerkennung kann nicht erfüllt werden.
Es geschieht ihm Unrecht, er wird vielleicht sogar gepeinigt. Daraus sollten wir eigentlich lernen, dass es ganz normal ist, auch Zurücksetzungen zu erleben. Das ist ungefähr das meiste an Verfolgung, was wir erleben: vielleicht Zurücksetzung im Beruf, vielleicht Spott oder auch unter Geschwistern.
Ich habe das mehr als einmal erlebt, wirklich mehr als einmal, wie Brüder tödlich beleidigt waren und seitdem, und ich denke jetzt an einen, der über Jahre deswegen einen Groll im Herzen hegt. Es ging alles um die Sache, Älteste in einer Gemeinde einzusetzen, weil er nicht berücksichtigt wurde. Eine Zurücksetzung. Und das war ihm einfach zu viel. Ein schon so geringes Ausmaß, vielleicht war es ungerecht, kann sein, ein so geringes Ausmaß an dem, was Verfolgung im vollen Sinn ist, und das konnte er schon nicht vertragen.
Wenn es einmal nicht nach unserem Kopf geht, gibt es Brüder und Schwestern, die deswegen beleidigt sind und eine offene Rechnung haben, weil die Vorhänge im Versammlungsland eine andere Farbe haben, als sie vorgeschlagen hätten. Ja, sie fragen sich: Warum hat man mich nicht gefragt? Warum dahin? Und das wurmt sie ihr Leben lang.
Nein, selig sind die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. Wenn wir Frieden fördern wollen, müssen wir auch bereit sein, Dinge einzustecken, einfach Dinge anzunehmen und nicht darauf sinnen, zurückzugehen. Wir müssen dazu bereit sein, sonst werden wir nicht solche sein, die Frieden, Gemeinschaft untereinander und Vertrauen untereinander stärken.
Wer das aber tut, ist wirklich selig.
Georg Whitfield als Vorbild des Friedenstifters
Georg Whitfield erhielt auch von denen, die theologisch ganz anders dachten als er, den Beinamen "the peacemaker", der Friedenstifter. Solange Georg Whitfield lebte, existierten in der englischsprachigen Welt im achtzehnten Jahrhundert drei theologisch sehr verschiedene Strömungen der Erweckungsbewegung.
Diese waren die Hernhuterströmung, die bei den Engländern Moravians genannt wurde, dann die Weslianer, die eher arminianisch gesinnt waren, und schließlich Georg Whitfield und die Menschen, die durch ihn zum Glauben kamen. Diese waren in der Theologie calvinistisch geprägt.
Diese drei sehr unterschiedlichen Strömungen blieben so lange zusammen und arbeiteten gemeinsam, wie Georg Whitfield lebte. Er verstand es wirklich, durch seinen Wandel, sein Zeugnis, sein Vorbild und seinen Einfluss, diese Gruppen zusammenzuhalten. Er war wahrhaftig ein Friedenstifter.
Kurz nach seinem Tod entfernten sich diese drei Strömungen voneinander und gingen fortan getrennte Wege. Ja, selig sind die Friedenstifter! Was für ein Segen ist es in Versammlungen, wenn Geschwister da sind, die es verstehen, Herzen an den Herrn und so auch aneinander zu binden. Welch ein großer Segen!
Überblick über Matthäus Kapitel 18: Gemeinschaft der Kinder Gottes
Nun wollen wir uns noch dem Kapitel 18 zuwenden und es uns wenigstens in einem Überblick ansehen. Ja, Matthäus Kapitel 18 ist die vierte Königsrede im Matthäusevangelium. Dieses Kapitel beschreibt die Gemeinschaft der Untertanen des Reiches, oder wir sagen heute die Gemeinschaft der Kinder Gottes.
Dieses Kapitel zitieren wir recht häufig, und gerade in der Brüderbewegung wird es sehr gern herangezogen. Deshalb sollten wir nicht so befangen sein, wenn wir die Evangelien lesen und denken, sie handeln nicht von den Christen, von den Kindern Gottes. Wir verwenden diese Texte ja laufend. Matthäus 18 wird immer wieder angeführt, und hier geht es wirklich um das Zusammenleben der Christen – das Leben im Reich oder das Zusammenleben in der Gemeinde.
Das Kapitel wird gern zitiert wegen des Abschnitts über Gemeindezucht und besonders wegen Vers 20, der das ganze Programm der Brüderbewegung beinhaltet. Das zeigt, dass die Väter der Brüderbewegung sehr klar sahen, was Gemeinde wirklich ist und worauf es ankommt. Zwei oder drei, die im Namen des Herrn versammelt sind, eins in seinem Namen, an ihn und an ihn allein gebunden und so miteinander verbunden – das ist Gemeinde. Da ist der Herr in unserer Mitte, darauf kommt es an.
Was den Rest des Kapitels betrifft, finden wir es eher schwierig. Ich meine damit nicht theologisch schwierig, sondern schwierig in der Umsetzung. Kapitel 13, glaube ich, liegt den meisten von uns eher. Ich jedenfalls rede lieber und finde es einfacher, über die Geheimnisse des Reiches zu sprechen, als hier das Zusammenleben zu praktizieren. Das fordert sehr viel mehr!
Die ersten Verse Matthäus 18: Demut als Grundlage des Zusammenlebens
Nun beginnen wir, indem wir einige Verse daraus lesen: die ersten vier Verse aus Matthäus 18, also die Verse 1 bis 4.
In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel?
Jesus rief ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.
Darum: Wer sich selbst erniedrigt wie dieses Kind, der ist der Größte im Reich der Himmel.
Bedeutung von Gemeinde und Demut
Zusammenleben in der Gemeinde
Was ist Gemeinde? Gemeinde bedeutet zunächst, in der rechten Beziehung zum Herrn zu stehen. Das heißt, zu erkennen, wer er ist, sich dadurch an ihn zu binden und ihm untertan zu sein. Daraus entsteht eine Beziehung zu all denen, die ebenso an ihn glauben. Das macht das Zusammenleben in der Gemeinde aus.
Das ist die Gemeindeordnung, die wirklich alles entscheidet. Alle anderen Dinge sind ihr untergeordnet. Hier wird von der Beziehung zu Gott gesprochen: Demut, klein werden, wie die Kinder sein – klein vor Gott und auch klein gegenüber den anderen.
Das ist also die erste Forderung. Ich habe es so formuliert: Demut ist das erste Prinzip des Zusammenlebens. Tatsächlich geht es hier um die Beziehung zu Gott, aber auch zueinander.
Die Jünger unterhalten sich darüber, wer der Größte ist. Sie vergleichen sich miteinander. Es geht also um die Beziehung zueinander. Wer ist hier der Größte? Wie stehen wir zueinander im Reich der Himmel? Wie wird es einmal sein?
Wir können uns jetzt in der Gemeinde fragen: Wie stehen wir zueinander? Wer hat am meisten zu sagen? Wer hat das Sagen? Wer ist hier der Chef? So offen wird das meistens nicht gesagt, manchmal allerdings schon.
Ich weiß von einem Bruder in einer Gemeinde, die seit einigen Jahren besteht. Dort ging es darum, nach Jahren des Dienstes und der Arbeit zu klären, wer die Ältesten in der Gemeinde sind, welche die Vorsteher sind. Im Laufe dieser Gespräche hat einer auf den Tisch geklopft und gesagt: „Bin ich nun ein Ältester oder nicht?“ Damit hat er gerade gezeigt, dass er keiner ist.
Solche offenen Äußerungen sind relativ selten. Aber solche Gedanken – wer von uns ist der Größte, wer hat das Sagen – sind in den Herzen der Jünger vorhanden. Sie messen sich miteinander: Wer von uns ist der Größte? Wer von uns beiden? Und wer hat das Sagen?
Das erste Prinzip des Zusammenlebens ist die Antwort des Herrn auf all diese Fragen, die die Jünger bewegen. Das erste Prinzip des Zusammenlebens ist Demut. Wir müssen klein werden.
Wenn wir nicht klein werden, erschweren wir das Zusammenleben, belasten es oder zerstören es vielleicht sogar. Das ist im Lauf der Kirchengeschichte und in einzelnen örtlichen Gemeinden immer wieder passiert. Gemeinden sind auseinandergebrochen.
Ich bin völlig davon überzeugt, dass der wirkliche Grund dafür – vielleicht nicht immer, aber in den allermeisten Fällen – nicht in lehrmäßigen Überzeugungen liegt, bei denen man sich nicht einig ist. Das wird meistens nur als Vorwand verwendet.
Der wirkliche Grund ist meistens, dass einer einfach das Sagen haben will. Wenn er sich nicht durchsetzen kann, hat das entsprechende Folgen.
Vergleich mit hebräischen Akzenten: Herren und Knechte in der Gemeinde
Nun, für diejenigen, die Hebräisch lernen, kommt irgendwann der Moment, in dem sie mit einem Akzentsystem im hebräischen Testament in Berührung kommen. Dieses System ist wichtig für den korrekten Vortrag des Textes in der Synagoge. Es bestimmt die besondere Art, wie der biblische Text vorgelesen wird.
Es gibt zwei Klassen von Akzenten: Die eine Klasse trennt, das heißt, hier müssen Zäsuren gesetzt werden. Die andere Klasse verbindet, also bindet Wortgruppen oder Worte miteinander.
Interessanterweise werden die verbindenden Akzente Servi genannt, was „Knechte“ bedeutet. Die trennenden Akzente nennt man Domini, was „Herren“ heißt. In der Gemeinde ist es ähnlich: Es sind immer die Herren, die trennen. Das sind die Leute, die die Ersten sein wollen, die bestimmen wollen, die das Sagen haben wollen. Von ihnen geht Trennung aus.
Diejenigen hingegen, die dienen, verbinden. Sie sind wirklich dienend, klein und binden die Herzen der Geschwister zusammen.
Daraus können wir uns fragen: Was willst du sein? Willst du ein Herr sein, der trennt? Oder willst du ein Diener sein, der verbindet?
Demut ist das erste Prinzip des Zusammenlebens. Wir müssen klein werden, und darauf besteht der Herr. Der Eingang ins Reich hat es uns bereits gelehrt.
In Matthäus 7 und Johannes 3 wird gezeigt, dass wir in der Geburt völlig abhängig sind. Wir haben nichts dazu beigetragen, nicht einmal mit unserem Willen. Keiner von uns hat sich beim Schöpfer gemeldet und gesagt: „Ich will auch geboren werden.“ Es liegt ganz außerhalb unserer Verfügung.
Genauso ist es mit der Wiedergeburt. Dieses Denken ist für uns schwer zu begreifen. Doch wenn wir darüber nachdenken, demütigt es uns sehr und macht uns klein. Es bleibt nichts, was wir uns zuschreiben könnten – gar nichts.
Dann ist Gott groß. Wenn Gott groß ist und wir klein sind, dann sind wir ins Reich eingegangen, sind zum Leben eingegangen.
Der Sohn lehrt uns schon das erste Prinzip, das leitende Prinzip in dieser Gemeinschaft: Wir sind klein, alle sind wir klein. Gott allein ist groß, wir sind klein.
Das müssen wir lernen: uns entsprechend klein zu machen und so zu sehen, wie der Herr uns sieht.
Demut als klarer Blick auf Gott und uns selbst
Demut, so sagte Ralph Jeannis, ein Evangelist und Gemeindegründer in Nordafrika und später in Frankreich, ist nichts anderes als ein klarer Blick. Es ist der klare Blick, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ein klarer Blick dafür, wer Gott ist und wer ich bin.
Der klare Blick für den Herrn bedeutet, dass wir ihm alles verdanken. Ebenso gehört dazu der klare Blick für uns selbst: Wir haben nichts dazu beigetragen und nichts verdient – im Gegenteil.
Zu diesem klaren Blick gehört auch, dass alles, was wir an Begabung haben, von Gott stammt. Vielleicht können wir besser reden als andere oder unsere Argumente schneller und so gut präsentieren, dass sie alle überzeugen. Auch das haben wir von Gott empfangen. Wenn wir uns daraufhin einbilden oder ausrechnen, deshalb sei ich mehr als die anderen, dann haben wir den klaren Blick verloren.
Wenn Gott dir solche Gaben gegeben hat, dann hat er sie dir gegeben, damit du den anderen dienst. Und nichts anderes tust du, als ihnen dienst – gar nichts anderes.
Wir haben gestern gesehen: Die Gemeinde ist der Ort, an dem Gott selbst wohnt. Jesaja 66,1-2 sagt, dass er in der Höhe, in der Herrlichkeit wohnt. Gleichzeitig wohnt er auch an einem anderen Ort – bei denen, die zerschlagene Herzen haben. Da wohnt Gott, bei den Demütigen, bei den Gedemütigen. Da wohnt Gott unter uns, wenn wir so sind.
Philipper 2,3-4 sagt: Tut nichts aus Parteisucht oder eitlem Ruhm, sondern in der Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Denn jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das der anderen.
Einen anderen höher achten als sich selbst – kann man das wirklich ehrlich tun? Ist das nicht einfach eine Art Demutsmasche, wenn man es sagt, aber eigentlich nicht so meint? Ich weiß, ich bin besser als der andere. Wie kann ich da den anderen höher achten als mich selbst?
Solange ich mich für mehr oder besser halte als andere, habe ich den klaren Blick nicht. Wenn wir aber den klaren Blick dafür haben, wer Gott ist, wer wir sind und dass wir ihm alles verdanken, dann sind wir davon überzeugt: Ich bin nicht mehr und nicht besser als irgendjemand.
Dann kann ich von Herzen den Bruder und die Schwester höher achten als mich selbst. Manchmal verwendet man auch seine Mittel und Wege, um das zu tun.
Spurgeons Predigt über Demut und Leiden
Spurgeon hielt einmal eine Predigt mit dem Titel „Süße Früchte an einem dornigen Baum“. Der dornige Baum steht dabei für die Leiden, die Gott in unser Leben bringt. Die süßen Früchte sind die positiven Eigenschaften, die daraus entstehen. Eine dieser süßen Früchte ist die Demut.
Er spricht von sich selbst und sagt: „Von Natur aus und von mir her bin ich wie eine Seifenblase.“ So sind wir von Natur aus – wie eine Seifenblase: viel größer im Volumen als in der Substanz, großer Umfang, aber wenig Substanz.
Gott musste ihn durch Leiden führen, durch Schmerzen und Nöte. Manchmal lag er wochenlang im Bett und konnte sich fast nicht bewegen vor Schmerz. Er litt an Gicht und sagte, dass ihn das lehrte, den bescheidensten Bruder und die einfachste Schwester von Herzen zu schätzen und zu lieben. Diese Menschen sollten wir höher achten als uns selbst.
Ja, Gott demütigt uns, weil wir es selbst nicht wollen. Er demütigt uns und verwendet dazu verschiedene Mittel. Er gebraucht auch uns gegenseitig, damit wir gedemütigt werden. Wir müssen einfach klein werden und lernen, den anderen höher zu achten als uns selbst.
Vergleich mit Bergen: Perspektive von oben
Ein schöner Vergleich
Ein Bruder bei uns hat einmal einen Vergleich gebracht, der seitdem hängen geblieben ist. Vor vielen Jahren hat er diesen Vergleich geäußert.
Wenn wir so durch die Landschaft gehen, sehen wir Erhöhungen und messen Berge aneinander. Einige sind höher, andere weniger hoch – zum Beispiel im Kanton Bern in der Schweiz. Dort gibt es eine prächtige Gruppe von Viertausendern. Im Nachbarkanton Wallis gibt es noch höhere Berge. Der höchste Berg der Schweiz liegt im Kanton Wallis, nicht im Kanton Bern. So können die Walliser von ihrer höchsten Spitze auf die Berner Alpen herabblicken.
Nun, so sind wir Menschen. Wir sehen diese Unterschiede und messen uns aneinander. Dann sagen wir: „Ich bin höher als du.“
In den Siebzigerjahren hat uns die technische Entwicklung Bilder aus dem All geliefert – ungefähr aus dieser Zeit stammen die ersten Aufnahmen unseres schönen blauen Planeten aus großer Entfernung. Wenn wir diese Bilder von oben sehen, wo sind dann die Unterschiede zwischen dem Monte Rosa, dem höchsten Schweizer Berg, und der Jungfrau? Diese Unterschiede fallen völlig flach zusammen. Nicht einmal der Mount Everest erscheint höher als irgendein anderer Berg.
Von oben betrachtet sind diese Unterschiede gleich null, sie sind nicht vorhanden. Wenn wir also von oben sehen, wer wir sind und wie wir sind – von Gott her betrachtet – gibt es keine Unterschiede. Gemessen an ihm fallen sie vollkommen flach.
Dieser Blick lehrt uns, als Bruder und Schwester höher zu warten als uns selbst und von ganzem Herzen Freude an jedem Bruder und jeder Schwester zu haben.
Warnung vor Ärgernissen und Anstößen
Und dann sagt der Herr das Nächste, und ich muss schauen, dass ich im Text weiterkomme. Ein weiteres, was der Herr hier sagt, lesen wir in den Versen 6 bis 10.
Wer irgendeines dieser Kleinen, die an mich glauben, ärgert, dem wäre es nütze, dass ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.
Wehe der Welt der Ärgernisse wegen, denn es ist notwendig, dass Ärgernisse kommen. Doch wehe dem Menschen, durch den das Ärgernis kommt.
Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so hau ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist dir besser, lahm oder als Krüppel in das Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder mit zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden.
Und wenn dein Auge dich ärgert, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, einäugig in das Leben einzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle des Feuers geworfen zu werden.
Ärgernisse.
Bedeutung von Ärgernissen in der Gemeinde
Der Herr warnt uns davor, seinen Kindern Ärgernisse und Anstöße in den Weg zu legen.
Vor einigen Tagen habe ich ein Büchlein gelesen, das von einem sehr guten Freund von mir stammt. Er ist Missionar in Italien, Walter Adank. Er hat in Süditalien eine Gemeinde gegründet und aufgebaut. Nun ist er in den Norden gezogen, und auch dort hat der Herr sein Werk bestätigt. Eine Gemeinde ist entstanden. Vor zwei Wochen war ich dort bei seinem Dienst und habe das Büchlein gesehen, das er geschrieben hat. Das Thema lautet „Vergebung unter Brüdern“.
Darin steht unter anderem folgender Satz, den ich beim Lesen besonders bemerkenswert fand. Ich habe das Büchlein auf dem Weg von der Schweiz nach Norddeutschland gelesen. Dort heißt es: Im Reich der Himmel besteht ein ungeheures Potenzial zum Bösen, weil jeder von uns potenziell dazu fähig ist, einen Bruder zu verderben und ihm Anstöße in den Weg zu legen.
Er bezieht sich dabei auf das Kapitel Matthäus 18, das von Vergebung unter Brüdern handelt. Wehe uns, wenn wir Anstöße den Brüdern in den Weg legen! Nun, wodurch legen wir Anstöße? Wenn wir in diesem Zusammenhang lesen, sagt der Herr zuerst, dass wir klein und demütig werden müssen. Wer nicht demütig wird, also von sich eingenommen ist und so auftritt, legt unter Brüdern Anstöße in den Weg. Das macht es den anderen sehr schwierig, dem Herrn nachzufolgen. Es erschwert das Zusammenleben und legt Anstöße.
Wir sollten uns wirklich bewusst machen, was der Herr hier sagt. Ich möchte nicht behaupten, dass jemand verloren geht, nur weil er Anstöße legt, wenn er ein Kind Gottes ist. Aber es sind deutliche Worte des Herrn: Wehe dem, der Anstöße legt. Wenn wir groß werden wollen, dann entfaltet sich in uns dieses Potenzial zum Bösen. In uns steckt wirklich ein Potenzial, Gemeinden zu zerstören. Ist uns das klar? Wenn wir angesehen sein wollen, Erfolg haben wollen und wollen, dass andere uns und unserer Sache dienen, dann werden wir zerstören.
Ein englischer Puritaner des siebzehnten Jahrhunderts, John Trapp, sagte einmal: „All sin will go down well with those who are resolved to rise high.“ Das heißt so viel wie: Jede Sünde geht leicht hinunter bei denen, die entschlossen sind, hoch hinauszukommen. Das ist interessant formuliert. Wer entschlossen ist, hoch hinauszukommen, dem fällt jede Sünde leicht.
Dann wird er Anstöße den Kleinen legen, denjenigen, die dem Herrn gehören und ihm dienen wollen, die einander dienen wollen. Er legt ihnen Anstöße in den Weg und macht ihnen die Nachfolge, das Leben, den Wandel und das Gemeindeleben schwer. Davor bewahre uns der Herr! Das ist ungeheuer ernst.
Paulus spricht von Worten, die genauso ernst sind. Er spricht im 1. Korintherbrief von solchen, die die Gemeinden zerstören – durch Parteiungen, Aufgeblasenheit und Besserwisserei. Dort sagt er in diesem Zusammenhang: Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Das ist ungeheuerlich. Ich erschrecke, wenn ich solche Worte höre. Ich möchte niemand sein, der eine örtliche Versammlung zerstört oder verdirbt. Wehe denen, durch die Anstöße kommen!
Darum versichern wir uns, dass wir nicht eines dieser Kleinen verachten. Hier stellt sich auch die Frage: Den anderen höher achten oder verachten? Man kann das auf Deutsch schön mit der Vorsilbe „ver-“ ausdrücken: verachten heißt nicht achten, sondern das Gegenteil, kleinachten, verachten. Den Bruder achten oder verachten? Der Herr sagt: Seht zu, dass ihr niemanden von diesen Kleinen verachtet.
Warum diese Warnung? Weil wir sehr anfällig dafür sind. Wir sind sehr anfällig, einen Bruder oder eine Schwester nicht offen mit Verachtung zu überschütten, aber sie in unserem Herzen abzuschreiben. Zum Beispiel denken wir: „Der kapiert nie etwas“ oder „Der kann sich nicht so geschickt ausdrücken“ oder „Ist vielleicht auch in seiner Art nicht so gewinnend“.
Wir fallen schnell darauf herein, die zu bevorzugen, die sich und ihre Sache gut präsentieren können. Dann denken wir: „Ja, die brauchen wir, der nützt mir, das ist ein nützlicher und guter Typ.“ Andere lassen wir links liegen. Damit verachten wir sie im Grunde. Das ist eine sehr reale, nicht nur gefährliche, sondern auch sehr häufige Sünde unter uns.
Ich erinnere an jemanden, der auch verachtete, weil er nach dem Äußeren urteilte – Goliath. Als er David sah, verachtete er ihn (1. Samuel 17). Das ist also Philisterart, die Heiligen zu verachten. Es ist heidnisch, und wir können es auch weltlich nennen. In der Welt ist das so, aber im Haus Gottes soll es nicht so sein.
Gründe, niemanden zu verachten
Nun, warum sollen wir nicht verachten? Der Herr gibt uns Gründe, warum wir niemanden von diesen Kleinen verachten dürfen.
In Vers 10 heißt es: „Seht zu, dass ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet.“ Jetzt folgt der Grund: „Denn ich sage euch, dass ihre Engel im Himmel allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der im Himmel ist.“ Außerdem ist der Sohn des Menschen gekommen, um das Verlorene zu retten.
Dann folgt das Gleichnis vom Hirten, der ein Schaf sucht. Hier geht es nicht um verlorene Sünder allgemein, sondern um einen verlorenen Bruder. Es gibt auch Fälle, in denen ein Bruder abirrt. Darauf wird anschließend direkt Bezug genommen, wenn von einem Bruder gesprochen wird, der sündigt.
Daher nennt der Herr drei Gründe, warum wir die Kleinen nicht verachten dürfen. Der erste Grund ist schwer zu verstehen. Es gibt Erklärungen, die so kompliziert sind, dass ich sie bis heute nicht ganz verstanden habe – das mit dem Angesicht und den Engeln und so. Aber etwas verstehe ich ganz gut, und ich denke, das verstehen wir alle gut.
Der Herr sagt: „Seht zu, dass ihr keine dieser Kleinen verachtet, denn sie stehen in einer ganz besonderen Beziehung zum Vater im Himmel.“ Willst du jemanden verachten, den der Vater liebt?
Dann folgt der zweite Grund: Willst du jemanden verachten, für den der Sohn des Menschen gekommen ist, um ihn zu suchen und zu retten?
Und drittens: Willst du jemanden verachten, den der Herr, wenn er auch abgeirrt ist, zur Herde zurückführen will? Er setzt alles daran, ihn zur Herde zurückzuführen.
Wieso also einen solchen verachten? Das führt uns zum nächsten Abschnitt über Gemeindezucht.
Gemeindezucht als Weg zur Wiederherstellung
Hier sollten wir den Zusammenhang sehen, worum es geht, und auch beachten, was eigentlich das Ziel dieser ganzen Geschichte ist. Das Ziel ist nicht, jemanden nach allen Regeln der Kunst und nach dem Handbuch korrekt auszuschließen. Das Ziel ist, jemanden zu gewinnen. Gewinnen, darum geht es.
So wie der Hirte, wenn ein Schaf abgeirrt ist, möchte, dass es zurückkommt zur Herde, so sollen auch wir jemanden, der abgeirrt ist, zu gewinnen suchen. In Vers 15 steht: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, geh hin und überführe ihn unter vier Augen. Wenn er auf dich hört, dann hast du deinen Bruder gewonnen. Wir wollen den Bruder gewinnen, nicht verachten.
Aber häufig genug ist es so, dass ein Bruder sich nicht nur ungeschickt verhält, sondern etwas tut, was eigentlich nicht erlaubt ist. Dann schreibt man ihn gleich ab: „Ich habe doch gleich gedacht, das ist so einer.“ Und man verachtet ihn, hakt ihn ab. Doch der Herr sagt hier: Nein, wir wollen ihn gewinnen, nicht verachten.
Ich gehe jetzt nicht auf die weiteren Einzelheiten ein, sondern möchte nur daran erinnern, worum es dem Herrn bei diesen ganzen Schritten geht. Es geht darum, alles zu tun: Schritt eins, und wenn das nicht funktioniert, dann Schritt zwei, und wenn auch das nicht klappt, dann Schritt drei. Versuche alles, um ihn zu gewinnen.
Wenn du alles getan hast, dir im Gebet die Augen ausgeweint hast und dir die Füße abgelaufen hast, alles versucht hast, dann kann der Tag kommen, an dem du ihn mit blutendem Herzen wie einen Heiden und Zöllner ansehen musst. Aber erst dann.
Auf Vers 20 komme ich noch zurück. Die Verse 21 bis 35 habe ich überschrieben mit „Wehe dem, der nicht vergeben kann“. Es ist eines der bekanntesten Gleichnisse des Herrn, und ich brauche dazu gar nicht viel zu sagen.
Im Vers 35 steht: „Wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt, so wird auch euer himmlischer Vater euch nicht vergeben.“ Von Herzen vergeben heißt, nichts aufrechnen, nichts zurückbehalten, um später wieder darauf zurückzukommen. Es bedeutet nicht, einfach pro forma zu sagen: „Ja, ich muss ihm ja vergeben.“ Das meint der Herr nicht.
Von Herzen vergeben heißt, dass man freudig gern vergibt und es nicht nachträgt. Noch schlimmer ist es, wenn man, wie mein Freund Walter Radang beschreibt, einem Bruder begegnet, der sehr viel Übles erlitten hat und sagt: „Ich hoffe, dass Gott ihm vergeben mag, aber ich werde ihm nie vergeben.“ Das ist wenig offen gesagt.
Wenn wir in unserem Herzen so denken, dann geraten wir in ein Gefängnis. Dieses Gefängnis ist nicht die Hölle – ein Kind Gottes kommt nicht in die Hölle – aber es ist das Gefängnis, in dem sich derjenige befindet und bleibt, solange er nicht von Herzen vergibt. Er muss sich und seine Position immer rechtfertigen und dreht sich ständig um sich selbst.
Wie in einer Zelle läuft er herum, über ihm ist die Zementdecke, seine Gebete werden nicht erhört. Er hat den Trost und die Gegenwart Gottes nicht in seinem Herzen, sondern fühlt sich allein mit sich und seinen finsteren Gedanken. Willst du das? Ich will das nicht.
Es ist keine Kleinigkeit, die dieser Mann im Gleichnis vergeben musste. Es waren immerhin hundert Denare, hundert Tageslöhne. Ich weiß nicht genau, wie die durchschnittlichen Löhne in Deutschland sind, sagen wir 150 Euro am Tag oder 15 Euro, das ist nicht nichts, schon etwas.
Jemand schuldet dir 15 Euro, da denkst du schon, damit könnte ich dies und das machen. Es ist also nicht nichts. Aber verglichen mit dem, was vergeben worden war, ist es nichts. Und so empfinden wir manche Dinge, die Geschwister uns antun.
Das ist kein Pappenstiel: „Der hat mir das und das gesagt und das angetan, ich habe diesen oder jenen Schaden durch ihn erlitten, mein Ruf ist beschädigt, jenes ist geschädigt.“ Und dann meinen wir, dass wir auf Genugtuung bestehen dürfen.
Dabei haben wir vergessen, was der Herr uns alles vergeben hat. Ich sage nicht, dass wir Sünde einfach immer wischen sollen, Schwamm darüber, nicht darüber reden. Man muss oft über Sünde sprechen, gerade dieses Kapitel zeigt das.
Aber von Herzen vergeben heißt wirklich vergeben. Wirklich vergeben. Wehe dem, der das nicht kann.
Der Herr in unserer Mitte als Herzstück der Gemeinschaft
Nun will ich abschließen, indem ich noch einmal auf diesen Vers 20 verweise. Das ist wirklich das Herz der ganzen Lehre des Herrn über das Zusammenleben der Seinigen, auch in diesem Kapitel: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ Der Herr ist in unserer Mitte.
Das muss für die Jünger ungeheuer gewesen sein, als sie so etwas hörten: der Herr in ihrer Mitte. Sie dachten an das, was im Volk Gottes, in Israel, erstmals geschehen war, als Mose die Stiftshütte richtete. Da zog Gott mit seiner Herrlichkeit mitten unter dieses Volk. Die Herrlichkeit Gottes war überwältigend. Und genau das wird hier denen zugesagt, die in seinem Namen versammelt sind – so, wie er es sich gedacht hat: Er ist in ihrer Mitte.
Wir Christen sind oft dem Trugschluss oder der Illusion erlegen, dass wir die Gegenwart des Herrn, die einmal erlebt wurde, irgendwie festhalten könnten. Der Herr war an Pfingsten gekommen. Genau das war in ihrer Mitte geschehen, mit allen bekannten Ergebnissen: der Herr in der Mitte. Das ist auch das Geheimnis für das unwiderstehliche Zeugnis der Apostel und der damaligen Gemeinden.
Dann versucht man, diese Gegenwart irgendwie zu bannen oder in den Griff zu bekommen. So sind wir Menschen: Wir wollen die Dinge kontrollieren. Man meinte, man könne die Gegenwart des Herrn, seine Herrlichkeit, durch prächtige Gebäude festhalten. Manche dachten ernsthaft, man könne die Gegenwart Gottes in einer Handvoll Mehl bewahren – das sei die Gegenwart Gottes. Andere versuchten, die Gegenwart des Herrn durch vollendete Organisationen oder ausgeklügelte Lehrsysteme an sich zu binden.
Es ist immer wieder der Versuch, den Herrn und seine Sache in die Hand zu bekommen. Aber der Herr ist nie in unserer Hand – niemals! Ich hoffe, dass das verstanden wird. Wir sind ganz in seiner Hand, vollständig – was die Rettung betrifft und auch unseren gesamten weiteren Wandel. Wir sind ganz in seiner Hand, und es gibt keinen anderen Weg, auf dem die Gegenwart des Herrn in unserer Mitte sichtbar wird, als dass wir uns ganz ihm ergeben. Völlig ihm ergeben, so dass wir ganz in seiner Hand sind und er mit uns tun kann, was er will.
Das ist allerdings schwerer, als einfach ein ausgeklügeltes, korrektes Lehrsystem zu handhaben oder eine Organisation zu verwalten oder sich ein Programm auszudenken. Denn das fordert alles von uns. Aber kann es etwas Glücklicheres geben, als völlig in der Hand des Herrn zu sein? So dass er in uns persönlich und auch unter uns als Gemeinde wirklich herrschen kann, dass er unter uns Herr ist.
Sollte das nicht unser Gebet werden – mehr und mehr –, dass das wirklich geschehe? Dass wir etwas davon auch in unserer Zeit erfahren dürfen?