Israel
Jude, was ist das? Das erste Zitat lautet so: "Wie ein gemästetes arbeitsunfähiges Tier taugt der Jude nur für die Schlächterei." Dieser Satz stammt aus der Schrift eines Kirchenvaters. Johannes Chrysostomos schrieb es im Jahr 386. Jude, das ist ein Tier.
Jude, was ist das eigentlich? Das zweite Zitat lautet so: "Darum wisse, lieber Christ und zweifle nicht daran, dass du nächst dem Teufel keinen bittereren, giftigeren, heftigeren Feind hast als einen rechten Juden." Dieser Satz stammt aus der Predigt eines Reformators. Martin Luther schrieb es im Jahr 1543, zwei Jahre vor seinem Tod. Jude, das ist ein Feind.
Jude, was ist das eigentlich? Das dritte Zitat lautet so: "Es ist nicht so schlimm, ein Gotteslästerer oder ein Dieb oder ein Vagabund oder ein Ehebrecher zu sein, als von einem Geschlecht der Juden abzustammen." Dieser Satz stammt aus dem Schrifttum eines Franziskanerpaters. Der namenlose Mönch schreibt es am Ende des 16. Jahrhunderts. Der Jude ist ein Scheusal.
Jude, was ist das eigentlich? Ein viertes Zitat lautet so: "Die Auserwählung von Juden fand allein an der Rampe von Ausschwitz-Birkenau statt. Starke wurden für die Zwangsarbeit und Schwache für den Gasofen ausgewählt. Diese Auserwählung ist die einzige, an die ich glaube." Dieser Satz stammt aus dem faszinierenden Buch "Mein Judentum". Günther Andersch schrieb es im Jahre 1978. Jude, das ist ein Mensch, nur ein ganz normaler Mensch.
Jude, was ist das eigentlich? Ein letztes Zitat lautet so: "Ich selber wünschte verflucht und Gott getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch." Dieser Satz stammt aus dem Brief eines Apostels. Paulus schrieb es im Jahre 58 an die römischen Christen. Jude, das ist ein Bruder. Jüdin, das ist eine Schwester, Juden, das sind die Geschwister.
Es ist nicht hier der Ort, um nachzuweisen, dass große Kirchenmänner in Sachen Israel grobe Fehlurteile gefällt haben. Es ist hier nicht die Zeit, um aufzuzeigen, dass große Schrifttheologen im Blick auf Israel wie geblendet gewesen sind. Es ist nicht die Stunde des Korrigierens, sondern des Proklamierens. Juden und Christen haben einen Vater, deshalb kommen sie nicht voneinander los. Juden und Christen gehören zu einer Familie, deshalb sind sie schicksalshaft miteinander verbunden. Juden und Christen sind blutsverwandt, deshalb haben sie es miteinander zu tun. Sicher ist es ein Schmerz, dass Jesus Christus keine Anerkennung in Israel gefunden hat. Gewiss ist das eine Not, dass wir wegen dem Kreuz übers Kreuz gekommen sind. Ohne Zweifel ist es ein Dämpfer auf all unseren Gottesdiensten, dass wir nicht gleichsam im Familienchor das Lob Gottes anstimmen können. Aber das alles ändert nichts an der Tatsache, dass Juden und Christen vor Gott auf Gedeih und Verderb zusammengehören.
Jude, was ist das eigentlich? Mein Bruder. Jüdin, was ist das? Meine Schwester. Juden, was ist das? Meine Geschwister. Ihnen und uns gilt jenes Geheimnis, das Paulus damals nicht verhehlen, sondern verkündigen wollte. Gottes Gerechtigkeit schließt alle ein. Gottes Barmherzigkeit schließt allen auf. Gottes Herrlichkeit schließt alles ab. Also seine Geheimnisträger, nicht Geheimniskrämer wissen:
1. Er schließt alle ein
Viele haben es als Buch gelesen oder als Film gesehen, ich meine das Tagebuch der Anne Frank. Dieses jüdische Mädchen lebt mit ihren Eltern und andern Leidensgenossen im Dachgeschoss eines Amsterdamer Geschäftshauses. Dort haben sie sich während des Krieges vor der deutschen Besatzungsmacht versteckt. Monatelang fristen sie ihr Dasein. Äußerlich gesehen geht es ihnen nicht schlecht. Sie können gehen, aber nur bis zur Tür, vor der die Schergen lauern. Sie können sehen, aber nur bis zur Straße, die an einer Grachte entlang führt. Sie können leben, aber nur in ihrer kleinen und begrenzten Welt. Deshalb nerven sie sich, deshalb streiten sie sich, deshalb machen Eifersüchteleien alles so schwer. "Unsere Wohnung ist schön", schreibt die kleine Anne eines Abends ins Tagebuch, "unser Leben ist voller Geheimnisse, aber wir sind eingeschlossen wie der Vogel im Käfig."
Nun leben wir nicht im Versteck. Unsere Bleibe ist vielleicht ein Miets- oder Penthaus. Jahrelang fristen wir unsere Tage, denn Shakespeare hat recht: "Nur Frist und Zeitgewinn ist unser Leben." Äußerlich gesehen geht es uns gut, sehr gut sogar. Wir können gehen, aber nur bis zur Tür, vor der der Scherge Tod lauert. Wir können sehen, aber nur bis zur Straße, die ins Grab führt. Wir können leben, aber nur in unserer kleinen und begrenzten Welt. Deshalb fallen wir uns auf die Nerven. Deshalb streiten wir uns wegen Kleinigkeiten. Deshalb machen Eifersüchteleien alles so schwer. Unsere Wohnung ist schön, ohne Zweifel, unser Leben ist voller Geheimnisse, keine Frage, aber wir sind eingeschlossen wie der Vogel im Käfig.
Und dieser Käfig heißt Unglaube. Die Juden sitzen drin, weil sie Jesus nicht erkennen. Die Heiden sitzen drin, weil sie Jesus nicht anerkennen. Alle sitzen drin, weil sie Jesus die Gottessohnschaft nicht zuerkennen. Die Lebensgemeinschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf ist kaputt gegangen. Die Beziehungskiste zwischen Vater und Kinder ist in die Brüche gegangen. Das Miteinander ist dahin. Gott hat um seiner Gerechtigkeit willen alle eingeschlossen in den Unglauben.
Manche sind an ihre Sorgen gebunden. Sie wissen nicht, wie die Aufgaben nach den Ferien zu bewältigen sind. Sorgen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Manche sind an ihre Depression gefesselt. Sie glauben nicht, dass es noch Licht in ihr Tief fällt. Depressionen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Manche sind an ihre Krankheiten gekettet. Sie können keine Stunde mehr ohne Schmerzen leben. Krankheiten sind schlimm, aber nicht das Schlimmste. Manche sind an ihre Verzweiflungen geschmiedet. Sie kommen von den Lasten nicht mehr los. Verzweiflungen sind schlimm, aber nicht das Schlimmste.
Eingeschlossen in den Unglauben, das ist das Schlimmste. Eingesperrt in den Ungehorsam, das ist das Schlimmste. Von Gott getrennt sein ist das Allerschlimmste, denn seperatum a deo, von Gott getrennt sein, das ist die Hölle. Seine Gerechtigkeit schließt alle ein, das ist der erste Teil des Geheimnisses, und der zweite Teil:
2. Er schließt allen auf
Im Amsterdamer Dachgeschoss dehnt sich die Zeit. Wohl wurde das Versteck durch keine Patrouille aufgespürt, aber es blieb ein schmerzlicher Kerker. Vor allem die junge Anne wollte leben, mehr leben, richtig leben, deshalb suchte sie nach einem Schlüssel, die die Klappe nach unten ins Treppenhaus öffnen könnte. Sie fand auch solche, kleine und große, dicke und dünne, aber keiner passte ins Schloss. Nichts, aber auch gar nichts ließ sich aus den Angeln bewegen. Die Tür blieb zu. Anne Frank besaß nicht den richtigen Schlüssel, ihre Eltern und ihre Leidensgenossen auch nicht.
Keiner besitzt ihn, um dem Gefängnis zu entfliehen. Die Juden meinten zwar, ihn gefunden zu haben. 365 Verbote und 248 Gebote müssen doch greifen. Aber der Schlüssel der Gebote passt nicht. Die Heiden meinten zwar, ihn gefunden zu haben. "Tue recht und scheue niemand" ist doch ein passabler Öffner. Aber der Schlüssel der Rechtschaffenheit pass nicht. Die Religiösen meinten, ihn gefunden zu haben. Irgendein Guru ist doch besser als gar nichts. Aber der Schlüssel der Religion passt nicht. Nichts lässt sich aus den Angeln heben. Die Tür bleibt zu.
Nur einer besitzt den richtigen Schlüssel, einer, von dem es heißt, dass ihn seine Zusagen nicht reuen. Wenn Gott gesagt hat: "In meine Hände habe ich dich gezeichnet", dann ist das nicht in den Sand geschrieben. Wenn Gott versprochen hat: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen", dann ist das nicht in den Wind geschrien. Wenn Gott versichert hat: "Ich habe Gedanken des Friedens und nicht des Leides", dann ist das nicht Folge eines Gedankenschlages. Er steht zu seinem Wort. Er bleibt sich treu. Er ist barmherzig. Deshalb greift er nach dem Schlüssel namens Jesus. Der hat die Form eines Kreuzes. Mit diesem Hauptschlüssel springt der Kerker auf.
Zöllner und Sünder haben diese Erfahrung gemacht. Ein Leben ohne Grauzonen tat sich vor ihnen auf. Lahme und Krüppel haben diese Erfahrung gemacht. Ein Leben ohne Begrenzungen wurde für sie möglich. Mühselige und Beladene haben diese Erfahrung gemacht. Leben ohne Verzweiflung wurde lebenswert. Und seit Paulus selbst dies erfahren hat, gibt es keinen mehr, dem die Tür zum wirklichen Leben verriegelt bleiben muss.
Sicher lässt sich der Jesusschlüssel nicht handhaben wie ein Hausschlüssel, der unser Haus öffnet oder wie ein Autoschlüssel, der unser Fahrzeug in Gang setzt. Jesus begibt sich nicht in unsere Hand und wir haben Jesus nie im Griff. Aber auf unsere Bitte hin will er entsperren und entriegeln. "Herr, es ist so eng in meiner Welt. Überall ecke ich an. Verletzungen tun weh. Schließe auf!" "Herr, es ist so stickig in meiner Welt. Alles ist wie abgedichtet. Es fehlt die Luft zum Atmen. Öffne mir!" "Herr, es ist so dunkel in meiner Welt. Kein Meter Sicht vor dem Auge. Jeder Schritt ein Risiko. Lass Licht durch die Tür fallen." Keiner bittet umsonst, denn seine Barmherzigkeit schließt allen auf.
3. Er schließt alles ab
Die Geschichte Anne Franks hat ein trauriges Ende. Eines Morgens poltern Kommissstiefel die Treppe herauf. Uniformierte schaffen sich mit Gewalt Zutritt und räumen das Nest aus. Anne und ihre Leidensgenossen werden abgeführt. Nazistische Grausamkeit schließt alles ab.
Die Geschichte Israel wird anders enden. "Ganz Israel wird errettet werden." Diese Verheißung steht. Ob die Sammlung der Juden auf dem ersten zionistischen Kongress durch Theo Herzl im Jahre 1897 der Anfang war, weiß ich nicht. Ob die Ausrufung des neuen Staates Israel mit dem Namen Erez Israel (Land Israel) durch David Ben Gurion der nächste Schritt dazu war, kann ich nicht sagen. Ob die gegenwärtige Flut von jüdischen Heimkehrern aus vieler Herren Länder eine letzte entscheidende Wende zum Ende darstellt, ist mir unbekannt. Aber Paulus macht bekannt, dass sich am Schluss kein Uniformierter mit Gewalt Zutritt nach Jerusalem verschaffen und das jüdische Nest ausräumen kann. Die Juden und Judengenossen werden nicht abgeführt, sondern heimgeführt.
Gottes Herrlichkeit schließt alles ab. Keine Endlösung wird’s geben, sondern eine Erlösung, so wie der Psalmist beschrieben hat: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen: Der Herr hat Großes an ihnen getan." Dann wird man sehen, wie Jesus seine jüdischen Brüder und Schwestern in die Arme schließt. Dann wird man beobachten, wie Jesus seine nichtjüdischen Brüder und Schwestern willkommen heißt. Dann wird man erleben, wie sich Juden und Christen als Brüder und Schwestern um den Hals fallen. Dann wird man's hören, jenes Lied, in Dur, crescendo, tutti: "Der Herr hat Großes an uns getan. Des sind wir fröhlich."
Was für ein Durchblick? Wer dieses Ziel im Auge hat, braucht die nächsten Schritte nicht zu fürchten.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]