Einführung in Psalm 77 und die Thematik der Verzagtheit
Wir wollen uns heute Abend Psalm 77 vornehmen. Ich hatte ihn bereits heute Morgen beim Psalm 73 erwähnt. Psalm 77 ist ebenfalls von Asaf. Ich habe ihn einmal überschrieben mit „Gottes Medizin bei Verzagtheit und schlaflosen Nächten“ oder „Gedankenstopp“. Das muss man immer wieder lernen.
Ich möchte zu Beginn diesen Psalm lesen: Psalm 77, dem Chorleiter nach Jedutun von Asaf, ein Psalm.
Meine Stimme ruft zu Gott, und ich will schreien,
meine Stimme ruft zu Gott, dass er mir Gehör schenke.
Am Tag meiner Bedrängnis suchte ich den Herrn.
Meine Hand war des Nachts ausgestreckt und ließ nicht ab,
meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden.
Denke ich an Gott, so stöhne ich,
sinne ich nach, so verzagt mein Geist.
Du hieltest offen die Lieder meiner Augen,
ich war voll Unruhe und redete nicht.
Ich durchdachte die Tage von alters her,
der Jahre der Uhrzeit gedachte ich.
Ich sah nach des Nachts in meinem Herzen,
überlegte ich und forschte mein Geist:
Wird der Herr auf ewig verwerfen
und künftig keine Gunst mehr erweisen?
Ist seine Gnade für immer zu Ende?
Hat das Wort aufgehört von Generation zu Generation?
Hat Gott vergessen, gnädig zu sein?
Hat er im Zorn verschlossen seine Erbarmungen?
Da sprach ich: Das ist mein Schmerz –
oder andere übersetzen: Das ist ja mein Kranksein –,
dass sich die Rechte des Höchsten geändert hat.
Ich will gedenken der Taten Jahs,
ja, deiner Wunder von alters her will ich gedenken.
Ich will nachdenken über all dein Tun
und über deine Taten will ich sinnen.
Gott, dein Weg ist im Heiligtum.
Wer ist ein so großer Gott wie unser Gott?
Du bist der Gott, der Wunder tut,
du hast deine Stärke kundgetan unter den Völkern,
du hast dein Volk erlöst mit deinem Arm,
die Söhne Jakobs und Josephs.
Dich sahen die Wasser, Gott,
dich sahen die Wasser, sie bebten,
ja, es erzitterten die Tiefen.
Die Wolken ergossen Wasser,
das Gewölk ließ eine Stimme erscheinen,
und deine Pfeile fuhren hin und her.
Die Stimme deines Donners war im Wirbelwind,
Blitze erleuchteten die Welt,
es zitterte und bebte die Erde.
Durch das Meer führt dein Weg
und deine Pfade durch große Wasser,
doch deine Fußspuren erkannte niemand.
Wie eine Herde hast du dein Volk geleitet
durch die Hand Moses und Aarons.
So weit das Wort Gottes.
Asafs anhaltende innere Kämpfe und die Achterbahn des Lebens
Ich hatte heute Morgen schon gesagt: Bei diesem Psalm merkt man, dass Asaph das Problem, das in Psalm 73 beschrieben wird, immer noch hat. Vielleicht kennt ihr das auch.
Man hat den Herrn um etwas gebeten, gebetet, und dann ging es vielleicht eine Zeit lang gut. Doch irgendwann steckt man wieder fest. Manchmal kommt einem das Leben wie eine Achterbahn vor – auf und nieder, Himmel und Hochjauchzen, dann wieder zu Tode betrübt.
Früher habe ich immer gedacht, das Leben sei wie eine Hängebrücke, von Sonntag bis Sonntag. In der Mitte gibt es dann so einen Durchhänger, und man war froh, wenn es eine Bibelstunde gab.
Aber wie gehen wir mit uns selbst um und wie sorgen wir für unsere Nöte?
Wer war Asaf? Hintergrund und Bedeutung seiner Rolle
Ich möchte für diejenigen, die heute Morgen nicht dabei waren, noch einmal kurz erklären, wer Asaph war. Wir hatten heute Morgen bereits gesagt, dass sein Name bedeutet: „Gott hat sich unser angenommen“. Er war ein hochmusikalischer Mann. David hatte ihn schon vorgesehen, Chorleiter im Tempel Salomos zu werden.
Ich erinnerte daran, dass David nach Gottes Geheiß den Tempel nicht bauen durfte, obwohl er die Pläne bereits vollständig erstellt hatte. Gott hatte gesagt: „Du hast Blut an deinen Fingern, ich möchte, dass dein Sohn das macht.“ Dennoch erlaubte Gott David, alles schon vorzubereiten. Er stellte die Baupläne fertig, sammelte das gesamte Material zusammen und ordnete, wer wann, wie und wo am Tempel arbeiten sollte.
Außerdem führte David eine neue Gottesdienstordnung ein, die es vorher so nicht gab. Er sorgte dafür, dass ein Tempelchor entstand, ebenso ein Orchester, und dass Asaph der Chorleiter davon werden sollte. Asaph wird mehrfach im Ersten Buch der Chronik genannt, und nicht nur er, sondern auch seine Söhne.
Wir sagten, dass Asaph Lieder und Psalmen gedichtet und komponiert hat. Zwölf davon stehen in unserer Bibel, nämlich Psalm 50 sowie die Psalmen 73 bis 83. Die Nachkommen von Asaph werden zum Beispiel in Esra 3, Vers 10 genannt. Dabei handelt es sich nicht um seine direkten Söhne, denn Esra lebte ja deutlich später.
Seine vier Söhne werden im Ersten Buch der Chronik 25, Verse 1 und 2 erwähnt. Dort wird gesagt, dass sie geisterfüllt den Gottesdienst begleiteten. Offensichtlich war es eine musikalische Familie, in der diese Begabung weitervererbt wurde.
Wie gesagt, zur Zeit von Serubbabel und Esra kehren die Nachkommen Asaphs mit nach Jerusalem zurück und nehmen dort wieder ihre Position ein, um beim Gottesdienst zu singen.
In Psalm 77, Vers 1, steht: „Dem Chorleiter nach Jeduton von Asaph, ein Psalm.“ Manchmal steht über einem Psalm eine Melodieangabe. Das bedeutet, dass die Melodie von einem anderen Lied übernommen wird. Das kennen wir auch heute noch aus unseren Liederbüchern, wo verschiedene Lieder nach der gleichen Melodie gesungen werden können.
Hier aber wird der Komponist genannt. Offensichtlich hat Asaph den Text geliefert und Jeduton die Melodie komponiert. Jeduton wird im Ersten Buch der Chronik 16 und im Ersten Buch der Chronik 25 genannt. Dort wird von ihm gesagt, dass er zu den Auserwählten gehörte, um den Namen Gottes zu preisen.
Er war also ebenfalls von David ausersehen, beim Komponieren und Musizieren dabei zu sein. Es wird erwähnt, dass er begabt war, auf Trompete, Zimbeln, Zither und Harfe zu spielen. Er scheint ebenfalls ein musikalisches Genie gewesen zu sein. Auch von ihm wird gesagt, dass er geisterfüllt spielte.
Ich sagte heute Morgen schon, dass dies das Kennzeichen der biblischen Psalmen und Lieder ist: Es handelt sich nicht einfach um Musik, sondern durch sie soll Gott geehrt werden. Psalm bedeutet grundsätzlich ein geistliches Lied mit Instrumentalbegleitung.
Aufbau und Gliederung des Psalm 77
Schauen wir uns Psalm 77 an. Das heißt, ab Vers 2 beginnt der eigentliche Textfluss, und man könnte ihn gliedern. Ich versuche mal, die verschiedenen Strophen zu erfassen, die wir bei den Psalmen immer betrachten, je nachdem, welcher Textinhalt vorliegt.
Verse 2 bis 7 schildern das Problem, das Asaph hat. In den Versen 8 bis 10 werden fünf sehr dringliche Fragen an Gott gestellt. In Vers 11 erkennt Asaph sein Problem, und dann ändert er sein Denken. Er sagt viermal „Ich will“, das heißt, er nimmt sich bewusst etwas vor.
Die Verse 14 bis 21 schildern seine geänderte Blickrichtung. Nun schauen wir uns diese einzelnen Strophen einmal genauer an.
Asaphs innere Not und das Grübeln (Verse 2–7)
Schauen wir uns also Strophe 1 an, die Verse 2 bis 7. Ich habe sie hier vorne aufgeschrieben und lese sie noch einmal vor. Vielleicht erkennen wir an diesem Abschnitt etwas, was das eigentliche Problem bei Asaf ist.
Er schildert sein Verhalten so: „Meine Stimme ruft zu Gott, und ich will schreien, meine Stimme ruft zu Gott, dass er mir Gehör schenke. Am Tag meiner Bedrängnis suchte ich den Herrn, meine Hand war des Nachts ausgestreckt und ließ nicht ab, meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden. Denke ich an Gott, so stöhne ich, sinne ich nach, so verzagt mein Geist. Du hieltest offen die Lieder meiner Augen, ich war voll Unruh und redete nicht. Ich durchdachte die Tage vor Alters, der Jahre der Urzeit gedachte ich. Ich sah nach des Nachts in meinem Herzen, überlegte ich, und es forschte mein Geist.“
Wie würden wir das bezeichnen? Was hatten wir heute Morgen gelernt bei Psalm 73? Ich, ich, ich – jawohl, das unterstreichen wir jetzt mal und machen es fett: Mir, meiner, ich, mich. Nein, es geht nur um ihn, er dreht sich um sich selbst. Und was hatten wir gesagt? Was ist das? Grübeln. Asaf grübelt.
Wir könnten sagen: Asaf, du hast doch in Psalm 73 etwas gelernt. Hast du es vergessen? Ich traue mich nicht, ihm einen Vorwurf zu machen. Mir geht es oft selbst so. Aber das ist schon dramatisch, wenn man das sieht, oder?
Kennst du solche Situationen auch? „Meine Stimme ruft zu Gott, ich will schreien. Meine Stimme ruft zu Gott, dass er mir Gehör schenke.“ Gott, schläfst du? Vielleicht kennst du das auch von deinem Beten, und du denkst, dein Gebet geht nur bis zur Decke und kommt nicht bei Gott an.
Er verzweifelt, er sucht Gott, er sucht seine Hilfe bei Gott. Er hat sich nicht von Gott abgesagt, das hat er aus Psalm 73 gelernt. Aber er erwartet von Gott Hilfe, und es kommt keine Antwort. Ich glaube, das kennt jeder.
„Meine Stimme ruft zu Gott, dass er mir Gehör schenke. Am Tag meiner Bedrängnis suchte ich den Herrn.“ Und das finde ich so dramatisch, wie er es schildert: „Meine Hand war des Nachts ausgestreckt, ließ nicht ab.“ Man merkt, wie sehr ihn das bedrückt.
Später sagt er: „Du hieltest offen die Lieder meiner Augen.“ Er war so in innerer Not, dass er nicht schlafen konnte. Er hat nachts gerufen, er hat gebetet, und er bekommt keine Antwort. Dann sagt er etwas: „Meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden.“
Kennst du das auch? Ich kannte einen jungen Mann, der damals bei uns in der Gemeinde war. Er ist inzwischen verzogen und hat geheiratet. Aber damals, während seiner Jugendzeit, bekam er immer wieder solche Anfälle – starke Migräne. Wenn das kam, schloss er sich in seinem Zimmer ein, ließ die Jalousien runter, hängte alle Poster und Bibelsprüche von seiner Wand ab und schob sie in die Schublade.
Wenn ich ihn in seinem dunklen Zimmer besuchte, sagte er immer: „Gott hört nicht. Wofür habe ich mich bekehrt?“ Und wenn man ihm dann sagte: „Denk doch mal an den Psalm“, antwortete er: „Ach, hör mir auf mit dem frommen Geschwätz, ich kann es nicht mehr hören.“ „Meine Seele weigerte sich, getröstet zu werden.“
Ich hoffe nicht, dass das bei dir der Fall ist. Aber wie oft kommt es vor, dass man jemandem trösten will, man hat den Eindruck, der hat so einen Ostfriesenerz an und das Perldrauf. Du kannst versuchen, ein Bibelwort zu sagen, und er lässt sich nicht trösten.
„Denke ich an Gott, so stöhne ich, sinne ich nach, so verzagt mein Geist.“ Man merkt die Verzweiflung, die Trostlosigkeit von Asaf.
Ich frage mich: Asaf, wie hast du deinen Beruf ausgeübt, wenn du so etwas hattest? Wie kannst du vorne stehen und Halleluja singen lassen? Vielleicht kennst du das auch: Du tust irgendeinen Dienst in der Gemeinde, aber die Gemeinde ist gar nicht danach. Und dann weißt du: Ja, aber ich muss es ja tun, was sollen die anderen denn denken?
Und dann tust du deinen Dienst, bist aber eigentlich stets neben dir. Ich denke, man kann sehr gut nachvollziehen, was Asaf hier sagt. Ja, er will sich an Gott wenden, aber es ist, als wenn da ein Vakuum wäre. Nichts da, es kommt keine Antwort.
Er kann nicht schlafen: „Du hieltest offen die Lieder meiner Augen, ich war voll Unruhe, redete nicht.“ Kennst du solche Geschwister? Wenn man verzweifelt ist, zieht man sich zurück. Möchte man keine Gemeinschaft mit anderen haben?
Ihr kennt wahrscheinlich die Geschichte von den beiden Jüngern, die am Ostermorgen nach Emmaus gehen. Sie waren niedergeschlagen, verzweifelt. Ihre Hoffnung war dahin. Und was tut man, wenn man enttäuscht ist? Man sondert sich ab, geht aus der Gemeinschaft heraus und sagt: „Es versteht mich ja doch keiner.“ Also geht man alleine.
Dieser Jünger, der in Lukas 24 nach Emmaus geht, findet einen, der auch geht. Oft finden sich solche, die verzweifelt sind. Endlich einer, der mich versteht. Aber was passiert, wenn zwei, die niedergeschlagen sind, miteinander gehen und sich ihr Elend gegenseitig vorheilen? Es wird noch schlimmer.
Sie ziehen sich gegenseitig runter. Da kannst du noch so viel sagen: „Such dir jemanden, der dich wieder ermutigt.“ „Ach, der versteht mich nicht.“ Und das ist bei uns so, oder? Wir suchen uns solche, die genauso mies drauf sind wie wir.
Das findet man in jeder Gemeinde. Da gibt es immer so ein Grüppchen, die nur muffeln. Das ist das sogenannte Muffelbild in den Gemeinden. Ich habe schon mal gesagt: Wer ein neues Gemeindehaus baut, der sollte nicht so einen rechtwinkligen Raum bauen, sondern immer solche Kojen, Schmollwinkel, wo man sich zurückziehen kann.
Und das ist häufig so: Wir ziehen uns zurück, die anderen verstehen mich sowieso nicht. Und Asaf ist auch so einer: „Ich sang des Nachts, in meinem Herzen überlegte ich, es forschte mein Geist.“ Er denkt an die alten Zeiten, und das kennt er auch. Früher war alles besser. Klar, früher war alles besser. Ach, wäre ich doch wieder früher irgendwo.
Man müsste noch mal zwanzig sein, ja. Wir merken: Asaf verzweifelt. Ich, meiner, mir, mich – er dreht sich nur um sich selbst. Hättest du ihn angesprochen, hätte er gesagt: „Ja, ich habe doch Recht, oder? Gott antwortet nicht. Früher, bei Gerich Müller und Hudson Taylor, da hat er Wunder getan, aber heute?“
Die drängenden Fragen an Gott (Verse 8–10)
Und Asaf ist noch nicht fertig; die nächste Strophe wird sogar noch intensiver. In den Versen acht bis zehn stellt er fünf Fragezeichen, also fünf Fragen, die ich als sehr heftig empfinde.
Die erste Frage lautet: Wird der Herr auf ewig verwerfen und künftig keine Gunst mehr erweisen? Das erinnert stark an das Volk Israel damals in der Wüste. „Hast du uns in die Wüste geführt, damit wir hier sterben?“ Ja, wir waren in Ägypten in Sklaverei, aber die Fleischtöpfe waren gut. Plötzlich sieht man die Vergangenheit nur noch im rosaroten Licht. Das Schlechte vergisst man, aber das war doch viel besser. Und leider neigen wir Senioren sehr dazu, zurückzuschauen, in den Rückspiegel unseres Lebens, und dann meinen wir, der Sonnenuntergang im Rückspiegel wäre das goldene Zeitalter. Wird der Herr also auf ewig verwerfen und künftig keine Gunst mehr erweisen?
Die zweite Frage lautet: Ist seine Gnade für immer zu Ende? Er sagt, er habe darüber nachgedacht, wie es früher war. Wie war das damals mit dem Volk Israel? Wie viele Wunder hat Gott in der Wüste getan? Und jetzt?
Die dritte Frage lautet: Hat das Wort aufgehört von Generation zu Generation? Redet Gott nicht mehr? Wie war das damals mit den Propheten? Wie war das damals, als Gott persönlich mit Mose gesprochen hat? Das waren noch Zeiten, oder? Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Gott, wo bist du geblieben? Du hast dich im Himmel zurückgezogen und kümmerst dich nicht mehr um uns Menschen. Hat er im Zorn seine Erbarmungen verschlossen?
Danach lässt Asaf ein musikalisches Zwischenstück spielen. Offensichtlich hat er diesen Psalm später gedichtet, als er wieder zurechtgekommen ist. Er lässt die Zuhörer an seinem inneren Herzenszustand teilhaben. Ich bin dankbar, dass wir solche ehrlichen Psalmen in der Bibel finden, weil sie etwas widerspiegeln, was auch wir erleben – auch in der heutigen Zeit. Das ist sogar positiver als bei Psalm 73.
Asaf stellt seine Fragen an Gott, und das ist immer die richtige Adresse. Interessant finde ich, dass Gott ihm keinen Vorwurf macht. Er sagt nicht: „Asaf, überlege mal, welche Stellung du hast! Das gehört sich doch nicht für dich, du bist ein geistlicher Mann, reiß dich mal zusammen!“ Das macht mir Mut. Es zeigt, dass Gott es aushält, wenn wir Fragen stellen. Gott möchte, dass wir mit unseren Nöten und Problemen zu ihm kommen, und er hält das aus.
Ich weiß nicht, wie das bei euch war, als eure Kinder klein waren und dann ins Teenageralter kamen und anfingen zu motzen. Wenn Kinder ins Teeniealter kommen, werden die Eltern schwierig, sagt man allgemein. Plötzlich finden sie alles, was die Eltern machen, gar nicht mehr gut. Vorher waren die Eltern immer lieb, aber plötzlich verbieten sie einem alles Mögliche.
Wie hat das Thomas Mann oder Mark Twain gesagt? Ich glaube, es war Mark Twain: „Als ich vierzehn war, war mein Vater unmöglich, ich konnte kein Wort mit ihm wechseln. Als ich 21 war, habe ich mich gewundert, wie viel er in den sieben Jahren gelernt hat.“ Und das ist manchmal so, oder? Wir verhalten uns auch Gott gegenüber manchmal wie Teenager, und wir werfen ihm Vorwürfe vor.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als mein Jüngster im Teeniealter war. Damals fuhr ich den Volvo, das ist ja der schnellste Panzer der Welt, sagt man. Er stand vor mir und sagte: „Vater, ich komme gegen dich nicht an.“ Ich antwortete: „Das brauchst du auch nicht, du bist wie dein Volvo.“ Manchmal denke ich, wir reagieren Gott gegenüber auch so.
Damals, als er mir das gesagt hat, habe ich geschmunzelt, was ihn noch mehr aufgeregt hat. Aber manchmal habe ich auch den Eindruck, dass Gott schmunzelt, wenn wir so mit ihm reden: „Du benimmst dich wie ein kleines Kind.“ Kleine Kinder, die im Trotzalter sind, stampfen mit dem Fuß auf, werfen etwas vom Tisch und zettern herum, obwohl sie wissen, dass sie gegen die Eltern nicht ankommen.
Ich erinnere mich, wie unsere Tochter aus der Schule kam, und sie hatten dort gelernt: Was muss ich tun, um bei meinen Eltern meinen Willen durchzusetzen? Sie hatten in Rollenspielen geübt. Zu Hause versuchte sie das auszuprobieren, ob das klappt. Nach kurzer Zeit sagte sie: „Das klappt bei euch ja gar nicht.“ Und bei Gott klappt das auch nicht.
Manchmal kommt es mir so vor, als hätten Christen irgendwo einen Groll gegen Gott. Heute gibt es die unmöglichsten Ratschläge. Es gibt fromme Psychotherapeuten, die sagen: „Du musst Gott vergeben, dass er nicht deinen Willen tut.“ Huch, habe ich gedacht, wo steht denn das? In meiner Bibel steht das nicht. Das klingt fromm, ist aber Unsinn.
Ja, wir dürfen Gott unsere Fragen stellen. Und Gott hält es aus, auch wenn unsere Fragen dumm sind. Ich finde es interessant, wie Asaf von Gott zubereitet wird. Diese fünf Fragen lauten kurz gesagt: Hat er mich verworfen? Ist seine Gnade zu Ende? Redet er nicht mehr? Hat Gott mich vergessen? Wo ist sein Erbarmen?
Das sind die besten Voraussetzungen, um depressiv zu werden.
Erkenntnis und bewusster Wendepunkt im Denken (Verse 11–13)
Und Asaph denkt über sich selbst nach, und dann kommt Vers 11. Ihr erinnert euch: Heute Morgen im Psalm 73 war es Vers 16, der sozusagen die Wende im Denken von Asaph herbeiführte. Asaph erkennt plötzlich – was sagt er da? –, da sprach ich: „Das ist mein Schmerz, dass sich die Rechte des Höchsten geändert hat.“
Vielleicht fragst du dich: Ist das denn biblisch? Hat Gott sich verändert? Sagt die Bibel nicht: „Ich bin derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit“? Unser Gott verändert sich nicht. Asaph begreift: Ich denke, Gott hätte sich verändert. Und das ist mein Kranksein. Er hat sozusagen ein falsches Gottesbild. Er denkt, Gott sei willkürlich. Früher hat Gott vielleicht zu Mose geredet, aber heute redet er mit mir nicht mehr. Er ist nicht mehr derselbe.
Und plötzlich merkt er: Was unterstelle ich denn Gott? Ich unterstelle ihm, dass er sich geändert hat – und das ist mein Kranksein.
Wenn wir in solch einer Situation sind, in der wir Gott Vorwürfe machen, weil wir meinen, er spreche nicht mehr mit uns, er handle nicht, er antworte nicht, dann denken wir oft: Früher war Gott anders. Doch Asaph erkennt hier: Nein, ich habe mich verändert, nicht Gott. Das ist mein Fehler, das ist mein Schmerz. Nicht Gott ist schuld.
Und er merkt hier genau dasselbe wie im Psalm 73: Dieses falsche Gottesbild, dieses falsche Denken über Gott muss ich bewusst stoppen.
Im Psalm 73 hatten wir heute Morgen gesagt: „Da dachte ich nach, eine mühevolle Arbeit war es in meinen Augen, bis ich hineinging in das Heiligtum Gottes.“ Psalm 73 zeigt, dass man seine Situation wirklich objektiv sehen kann, wenn man aus der Perspektive Gottes schaut und nicht aus der eigenen.
Wir merken hier: Die ganzen Verse bis Vers 10 waren aus der Perspektive von Asaph – Ich, meiner, mir, mich. Und an diesem Punkt, in Vers 11, wird ihm bewusst: Das ist falsch.
Dann nimmt er sich etwas vor. Wir merken: Meine falschen Gedanken über Gott zu stoppen, ist eine ganz bewusste Willensentscheidung. Und Asaph sagt viermal „Ich will“.
In Vers 12 heißt es: „Ich will gedenken der Taten Jahs, ja deiner Wunder von alters her will ich gedenken. Ich will nachdenken über all dein Tun und über deine Taten will ich sinnen.“
Wir erkennen: Gedanken stoppen und aus der Perspektive Gottes denken setzt einen bewussten Willensakt voraus – „Ich will“.
Ich habe in den letzten Tagen schon erwähnt, wie auffallend oft in der Bibel steht: „Ich will danken, ich will preisen, ich will loben.“ Das sind Willensentscheidungen. Gott erwartet von mir, dass ich sage: „Ich will.“
Viele Menschen und viele Christen beten an dieser Stelle: „Herr Jesus, verändere mein Denken.“ Hier wird deutlich: Das ist falsch. Wenn ich sage: „Herr Jesus, verändere mein Denken“, dann bin ich Patient und bitte: „Mach was mit mir.“ Und wenn das nicht geschieht, dann war es ja Gott schuld.
Aber Asaph sagt hier: „Ich will.“ Und das merken wir sehr deutlich, zum Beispiel bei uns in der Gefährdetenhilfe, bei den Jungs, die zu uns kommen. Du kannst nur einem Menschen helfen, der sich helfen lassen will.
Wir sagen immer: Wir sind keine Therapie. Du bekommst hier keine Medizin, du bekommst hier nicht irgendeine Methode, und plötzlich bist du anders. Sondern du musst wollen, sonst kann ich nicht helfen.
Ich kann einem Gefährdeten ein besseres Umfeld geben, ich kann ihn herausnehmen aus seiner schlechten Beziehung, ich kann ihn mit dem Wort Gottes konfrontieren – aber er muss wollen.
Und das ist ein Punkt, wo wir oft falsch denken. „Herr Jesus, bitte löse mich von meiner Bindung. Herr Jesus, bitte hilf mir, dass ich nicht mehr rauche, hilf mir, dass ich nicht mehr trinke.“ Prost! Und das funktioniert nicht.
Sondern ich muss selber sagen: „Herr Jesus, mit deiner Hilfe will ich.“ Natürlich brauche ich die Hilfe Gottes, klar. Aber Gott braucht auch meinen Willen dazu.
Zur Lebensveränderung gehört mein Ja, und das wird häufig übersehen. Gott verändert uns Menschen nicht einfach nur so.
Im Neuen Testament schildert Paulus im Epheserbrief, Kapitel 4, das sehr deutlich. Dort macht er das an dem Beispiel eines Diebes fest. Er sagt: „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern arbeite mit seinen Händen, damit er dem Bedürftigen mitteile.“ Das ist christliche Therapie.
Das heißt: Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr. Bis dahin wäre es nur Abstinenz – also etwas Böses nicht mehr zu tun. Aber dann sagt Paulus: Es geht weiter.
Gott ist nicht zufrieden damit, dass du nicht mehr stiehlst, nicht mehr trinkst, keine Drogen mehr nimmst oder keine Tabletten mehr schluckst. Das wäre nur Abstinenz.
Sondern derjenige arbeite mit seinen Händen. Die Hände, die vorher geklaut haben, sollen jetzt etwas Sinnvolles tun. Damals hatten sie für sich gestohlen, und jetzt sollen sie etwas tun, um anderen zu helfen.
Also: „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern arbeite mit seinen Händen, damit er dem Bedürftigen mitteile.“
Und das muss kommen. Wenn ich mich bekehre zu meinem Jesus, dann muss sich in meinem Leben etwas verändern, und dazu gehört auch mein Wille.
Hier bei Asaph merken wir auch: Sein Problem sind nicht Alkohol, nicht Tabletten, nicht Drogen, sondern seine Gedanken. Das, was in den ersten Versen war, nennen wir ganz einfach Egoismus: Ich, meiner, mir, mich.
Und Gott sagt: Lass das weg. Schau mich an und denke aus meiner Perspektive. Aber du musst es wollen.
Deswegen sagt Asaph hier in Vers 12 bis 13: „Ich will, ich will, ich will, ich will.“ Danach hat er eine andere Blickrichtung.
Ab Vers 12 fängt er an, von sich selbst wegzuschauen, und er spricht von den Taten Jahs, von „deiner“, „dein“, „deine“.
Das heißt: Umdenken muss bewusst eingeübt werden.
Die neue Perspektive auf Gottes Wirken (Verse 14–21)
Und wenn wir jetzt die nächsten Verse lesen, Vers 14 bis 21:
Gott, dein Weg ist im Heiligtum,
wer ist ein so großer Gott wie unser Gott?
Du bist der Gott, der Wunder tut.
Du hast deine Stärke kundgetan unter den Völkern,
du hast dein Volk erlöst mit deinem Arm,
die Söhne Jakobs und Josephs.
Dich sahen die Wasser vom Hoden Meer,
dich sahen die Wasser, sie bebten,
ja, es zitterten die Tiefen.
Die Wolken ergossen Wasser,
das Gewölk ließ eine Stimme erscheinen,
und deine Pfeile fuhren hin und her.
Die Stimme deines Donners war im Wirbelwind,
Blitze erleuchteten die Welt.
Es zitterte und bebte die Erde.
Durch das Meer führt dein Weg,
und deine Pfade durch große Wasser,
doch deine Fußspuren erkannte niemand.
Fällt euch bei dem Abschnitt etwas auf? Richtig, ich habe es jetzt farbig gemacht. Man merkt, dass plötzlich eine andere Blickrichtung bei ihm ist. Er hat Gott im Blickfeld, vorher hatte er sich selbst im Blickfeld.
Ich finde das spannend, denn normalerweise würde man den Bibeltext nicht hierhin legen, damit ihr selbst in eurer Bibel nachschauen könnt. Aber daran kann man sehr schön deutlich machen, wie sich der Blickwinkel ändert. Vielleicht unterstreicht ihr in eurer Bibel einmal im ersten Teil die Wörter Ich, meiner, mir, mich und im zweiten Teil die Wörter Du, deiner, dich.
Wir merken: Er denkt neu über die Geschichte seines Volkes nach und entdeckt in dieser Geschichte überall die Fußspuren Gottes.
Ab Vers 16 beziehungsweise ab Vers 17 wird gesagt: „Du hast dein Volk erlöst“. Danach schildert er praktisch die Wüstenwanderung:
„Dich sahen die Wasser vom Hoden Meer,
dich sahen die Wasser, sie bebten,
es erzitterten die Tiefen,
die Wolken ergossen Wasser.
Das Gewölk ließ seine Stimme erscheinen,
deine Pfeile fuhren hin und her.
Denkt man an die Begebenheit am Horeb:
Die Stimme deines Donners war im Wirbelwind,
Blitze erleuchteten die Welt,
es zitterte und bebte die Erde.
Durch das Meer führte dein Weg
und deine Pfade durch große Wasser,
doch deine Fußspuren erkannte niemand.“
Wenn man durchs Wasser geht, kann man Fußspuren nicht mehr sehen. Viele Dinge, die Gott getan hat, erkennen wir erst im Nachhinein. Aber er erkennt, dass es der Weg Gottes war. Er merkt, dass überall in der Vergangenheit Gott gehandelt hat, dass er nicht vergessen hat zu helfen.
Plötzlich wird sein Herz wieder dankbar.
Vielleicht ist das auch eine praktische Hilfe, wenn du meinst, Gott hört nicht mehr, wenn du rufst, und du bekommst keine Antwort: Denke darüber nach, was Gott in deinem Leben schon alles getan hat. Fang an, es aufzuschreiben.
Wenn du beginnst aufzuschreiben, was Gott in deinem Leben alles getan hat, wird dein Herz dankbar. Dann bekommt man eine völlig andere Blickrichtung.
Ich finde das wunderbar in diesem Psalm 77. Er ist sozusagen die zweite Auflage vom Psalm 73 und doch ein Stück weit weiter.
Wir merken, dieses bewusste Umdenken, dieser Gedankenstopp und das Sehen aus der Perspektive Gottes – das muss man immer wieder einüben.
Zusammenfassung und Ermutigung zum Vertrauen auf Gottes Führung
Und jetzt gliedere ich diesen Psalm noch einmal genauso wie heute Morgen den Psalm 73. Erinnert ihr euch? Im Psalm 73 ziehen die ersten Verse einen nach unten, und die letzten Verse ziehen einen wieder nach oben.
In diesem Psalm ist es ganz genauso. Die Verse 2 bis 7 und dann die Verse 8 bis 10 – ich habe es noch einmal hervorgehoben: „ich“, „meiner“, „mir“, „mich“ und dann die fünf Fragen an Gott. All das zieht ihn nach unten. Dann denkt er nach: „Da sprach ich, das ist mein Schmerz, dass sich die Rechte des Höchsten geändert hat.“ Sein Denken verändert sich, und jetzt geht es wieder aufwärts. „Ich will, ich will, ich will, ich will, du hast deinen Weg“ – und es geht aufwärts.
Vielleicht ist es hilfreich, wenn man Psalmen so gliedert und aufschreibt. Das könnt ihr ganz leicht selbst zu Hause machen. Kreist euch einfach den entsprechenden Vers in der Mitte des Psalms ein. Die ersten Verse ziehen ihn gedanklich nach unten, die nachfolgenden bringen ihn wieder hoch.
Ganz zum Schluss, der letzte Vers – in diesem Fall Vers 21 – ist sozusagen ein Lobgesang, ein Rückblick auf das, was Gott getan hat: „Asaph erkennt: Wie eine Herde hast du dein Volk geleitet durch die Hand Moses und Aarons.“ Das ist das Ergebnis seines Nachdenkens.
Auch wenn Gott im Augenblick vielleicht zögert, mir eine Antwort zu geben – in der Vergangenheit war das bei der Wüstenwanderung auch manches Mal so. Wie lange haben sie warten müssen, bis sie im verheißenden Land ankamen? Von Ägypten nach Kanaan hätten sie nach Entfernung in 14 Tagen gehen können. Doch es wurden 40 Jahre daraus, weil sie ungehorsam waren.
Aber Gott hat sie geführt, und so darfst du auch wissen: Er leitet auch dich. Auch wenn du vielleicht momentan den Eindruck hast, er antwortet nicht direkt, warte. Er kennt deinen Weg und er kennt dein Ziel. Deshalb dürfen wir guten Mutes sein, dass er uns wirklich ans Ziel bringt. Amen.