Historische Entwicklung des Stuttgarter Stadtkerns
Hier haben Sie einen der schönen Blicke auf unser schönes Stuttgart. Früher hatten wir in der Schule ein Lesebuch mit dem Titel „Unser schönes Stuttgart“.
Um 1200 sammelte sich der innerste Kern von Stuttgart um das Schloss. Ein neues Schloss gab es damals nicht. Es gab nur das Schloss und die entstehende kleine Kirche, die zwar gleich als Basilika geplant war, die Stiftskirche.
Damals war jedoch noch nicht daran gedacht, das Chorherrenstift von Beutelsbach nach Stuttgart zu holen. Eine solche Entscheidung fiel erst um 1300.
Der Stadtkern, die alte Stadt, entstand etwa um 1250. Um 1350 kam die Leonhardsvorstadt hinzu, die bis zum Schellenturm reichte. Manche von Ihnen kennen vielleicht den Schellenturm oder auch die Esslinger Vorstadt.
Erst um 1450, als Stuttgart an den Meer gewachsen war, entstand jenseits des Grabens, heute die Königstraße, die obere Vorstadt mit dem Dominikanerkloster. Dieses Kloster hatte ein großes Hospital, daher der Name Hospitalkirche und Hospitalhof. Bis zum See, zur Seestraße, die damals die Grenze des mittelalterlichen Stuttgart bildete.
Erst sehr viel später, im letzten Jahrhundert, also in den Gründerjahren, als Deutschland reich wurde, platzte das alte Stuttgart aus den Nähten.
Zuerst erfolgte die Ausdehnung nach Westen. Typisch dafür sind die katholische Marienkirche, die evangelische Matthäuskirche in Häslach und vor allem die Hanneskirche am Feuersee.
Dann kam auch die Ausdehnung nach Osten über das Königstor, wo heute der Hauptbahnhof steht, hinaus bis zur Friedenskirche in Stöckach.
Alte Orte wie Gablenberg und Geisburg sind viel älter als Stuttgart. Heslach entstand, als die Ausdehnung nach Osten kam.
Hier, wo wir heute stehen, war damals noch nicht Stuttgart. Dort führte die alte Weinsteige hinauf durch die Weinberge. Erst in den Gründerjahren wurde die Stitzenburg bebaut.
Geistliche Prägung und Jugendarbeit im Aufbau Stuttgarts
Wir stehen hier am Gebäude Danegersstraße 19a, das gerade vom Offenen Abend umgebaut wird. Nach den Wiederaufbaujahren der 1950er Jahre war es das Zentrum des Jugendwerks, zunächst des Evangelischen Jungmännerbundes und des Mädchenwerks.
Wir wollen etwas darüber hören, wie bei der Entstehung Stuttgarts geistlich geprägte Männer und Frauen wach waren. Sie haben zugleich mit dem Aufbau der Häuser und Straßen auch geistlich und glaubensmäßig aufgebaut. Eine Errungenschaft davon war nicht nur die Diakonie, die evangelische Gesellschaft und die Mission, sondern auch die Jugendarbeit.
Eine der letzten Stationen wird die Keimzelle der Jugendarbeit sein: Hofküfermeister Engelmann. Zuerst stand der junge Mann im Blickfeld der Jugendarbeit. Er wurde aus der heimatlichen Familie auf der Alb oder im Schwarzwald herausgespült, war einsam in irgendeiner Mansardenkammer in Stuttgart. Christen sagten damals: „Ich muss diese einsamen jungen Männer sammeln, damit sie nicht in Kaschemmen umkommen.“
Das Mädchen wurde erst viel später aus der Großfamilie herausgespült. Die Diakonisteneinrichtungen boten eine Möglichkeit, dass es überhaupt erste Frauenberufe gab.
Nach und nach entstand daraus der Jungmännerbund, der sehr viel Missionarisches betrieb – mit einer tollen Konzeption. Man kann nicht bei jeder Andacht in der Jungschar oder im Jugendkreis vor Ort sagen: „Kommt zu Jesus!“ – das schleift sich ab. Aber man muss bei den Landestreffen, Landesfreizeiten und Posauntagen ganz klar zum Herrn rufen. Danach will man 52 Wochen lang im Glauben stärken und nachfüttern.
Das war ursprünglich die Konzeption des Jungmännerwerks und Mädchenwerks, das hier seine Zentrale hatte.
Die englische Kirche und internationale Verbindungen Stuttgarts
Jetzt marschieren wir hinunter, mehr in die Esslinger Vorstadt. Sie haben also einen ideal schönen Tag erwischt, an dem man sogar noch einen Eindruck von Stuttgart bekommt: die Stadt zwischen Wald und Reben, mit einem der wenigen Weinberge noch unterhalb vom Bismarckturm. Diesen sieht man heute schön. Vor uns steht die englische Kirche, die 1868 erbaut wurde. Sie ist ein Zeichen dafür, dass England nach und nach Interesse an dem aufstrebenden Stuttgart bekam.
Stuttgart war durch seine Könige sehr stark mit dem russischen Zarenhaus verbunden, und das war für die Engländer schon interessant. Man musste in dieses Geflecht zwischen Württemberg und Russland hineinkommen. Doch Stuttgart war im 19. Jahrhundert auch eine aufstrebende Industriestadt. Gustav Siegle, der das Sieglehaus gründete, war beteiligt an der Gründung von BASF, dem Vorgängerunternehmen. Auch Knosp und Simolin waren Partner, die mit Siegle zusammenarbeiteten. Später kamen Bosch und Daimler hinzu. Stuttgart war also eine aufstrebende Industriestadt, und die Engländer kamen.
Es gab eine kleine englische Gemeinde, die ihre Gottesdienste in der Weißenhauskapelle am Charlottenplatz abhielt – von 1846 an, bis eine reiche englische Dame die Kirche stiftete, die 1868 eingeweiht wurde. Schon damals geschah dies durch den Bischof von Gibraltar. Die Auslandsgemeinden der anglikanischen Kirche unterstehen nämlich dem Bischof von Gibraltar. Dieser hat an seinem Felsen nicht viel zu tun; die Affen kann er nicht versorgen. So war ein gutes anglikanisches Kirchenleben möglich.
Dabei sollten wir uns klar machen, dass Württemberg und überhaupt Deutschland immer wieder von geistlichen Impulsen profitiert haben, die aus England kamen. Angefangen bei den ersten irisch-schottischen Mönchen, über Bonifatius bis hin zur westlichen Erweckung. Die Stuttgarter Bibelanstalt ist im Grunde genommen ein Ableger der British and Foreign Bible Society von 1810. Alle großen Impulse, auch Missionsimpulse, kamen aus England. Diese Kirche wurde finanziell von der Society for the Propagation of the Gospel getragen. Diese Gesellschaft war ähnlich wie die große Church Missionary Society eine evangelistische Bewegung.
Die anglikanische Kirche ist bis heute finanziell sehr arm. Deshalb ist sie auf freie Werke angewiesen, die solche missionarischen Unternehmungen unterhalten. Wegen der zwei Weltkriege ist die englische Gemeinde fast ausgestorben. Die Kirche wurde der altkatholischen Kirche überlassen, die in ihrem Ritus dem anglikanischen Ritus sehr ähnlich ist. So gibt es hier die englische Kirche und...
Die Leonhardtskirche und ihre Bedeutung im geistlichen Leben
Wir gehen jetzt nachher durch die Pfarrstraße zur Kreuzigungsgruppe der Leonhardtskirche Pfarrstraße. Das älteste Pfarrhaus der Leonhardtskirche stand in dieser Straße, wurde aber schon im Mittelalter durch das sehr schöne Pfarrhaus an der Ecke Hauptstädter Straße und Färberstraße abgelöst. Dort ist Ludwig Hofacker aufgewachsen, denn sein Vater war Amtsdekan.
Das alte Lehnherz-Pfarrhaus stand also in dieser Pfarrstraße. Dort gehen wir jetzt hinunter. Die nächste Station ist also die Kreuzigungsgruppe an der Lehnherzkirche.
Nicht alles vom alten Stuttgart wurde erst durch den Bombenkrieg zerstört. Vieles wurde auch schon vorher abgerissen. In meiner Jugendzeit, die schon lange zurückliegt, war es toll, dass das Bräuninger-Hochhaus in seiner ursprünglichen Form gebaut wurde. An dieser Stelle stand früher das Haus Reilen.
Die Marktstraße, die vom Marktplatz beziehungsweise vom Rathausplatz heraufführte, wurde auch Giesshübel genannt. Es war eine sehr sumpfige Gegend, über die eine Art Zugbrücke den Nesenbach überspannte. Früher war der Nesenbach noch sichtbar bei Bräuninger, dort unten führt er durch.
An der Stelle des Hochhauses stand das Reilensche Haus. Friedrich Reilen war sehr revolutionär eingestellt und hoffte auf eine Revolution, die das Königtum in Württemberg stürzen würde. Doch als er einmal zwei Stuttgarter Weingärtner hörte, die sagten: „Jetzt kommt bald die Revolution, ja, da wird reiches Geld weggenommen“, änderte sich seine Haltung. Das passt auch zum Predigttext von heute.
Wo fangen wir an? Natürlich beim Reilen, da gibt es einiges zu erzählen. Ab diesem Moment war er nicht mehr so sehr für die Revolution. Er heiratete eine sehr schöne junge Frau, die Pfarrerstochter aus Chemnat, Charlotte Reilen, die jedoch lebenslang krank war. Trotz ihrer körperlichen Schwäche war sie eine Pionierin des evangelischen Stuttgart.
Sie richtete das erste evangelische Schulwesen in ihrem Haus ein, stellte den Lehrer Weidle an und sammelte dreizehn Mädchen, um das Angebot zu verbreitern. Später entstand daraus das evangelische Töchterinstitut. Alles, was wir heute mit dem Mörike- und Heidehoop-Gymnasium verbinden, stammt aus diesem evangelischen Schulwesen.
Charlotte Reilen initiierte auch das erste Missionsfest in Stuttgart. Die frommen Leute sagten damals, dass die, die nicht so stark an Jesus glaubten, am Ende auch noch für Missionen seien und das verwässern würden. Das hatten sie zwar zum Teil recht, doch sie setzte das Missionsfest durch.
Sie war auch die Gründerin der Diakonissenanstalt Stuttgart. Alles wurde durch Opfergelder finanziert. Sie gab meist das erste Geld und hatte es in ihrer eigenen Familie schwer. Ihr Mann sagte, vielleicht nicht ganz zu Unrecht: „Du bist verrückt und bleibst verrückt, und mit einer Verrückten kann ich nicht zusammenleben.“ Er wanderte nach Amerika aus. Dort begegnete ihm Gott, und er fand auf einem langen Weg zum Glauben zurück. Schließlich wurde die Ehe wieder geheilt.
Also sollten wir nicht nur an Bräuninger denken, sondern auch an das Haus Reilen.
Nun stehen wir vor der Leonhardskirche, der zweiten Kirche Stuttgarts, die in der Vorstadt gebaut wurde. Sie ist dem Pferdeheiligen gewidmet, weil es hier natürlich auch den Pferdemarkt gab. Von hier aus starteten die Fuhrwerke.
In meiner Jugendzeit erlebte ich die Hauptstädter Straße als eine Straße mit vielen Gasthäusern nebeneinander. Die Pferdefuhrwerke parkten dort der Reihe nach, wie Ölsardinen. Wenn von Hülten oder Weilheim Pakete oder Koffer von den Großeltern kamen, holte man sie in der Hauptstädter Straße im Gasthaus „Zur Rose“ oder einem anderen ab. In den großen Höfen wurden sie dann abgestellt.
Es gab täglich Fuhrverkehr, denn die Post war damals noch nicht so weit entwickelt. Deshalb ist die Kirche auch Leonhard gewidmet, dem Schutzheiligen der Pferde.
Die Leonhardskirche wurde etwa 1460 von Aberlin Jörg erbaut. Ihm verdanken wir auch wichtige Bauteile der Stiftskirche, etwa die Alexanderkirche in Marbach, die schöne Uracher Kirche und die Amanduskirche. Er war ein großer Baumeister. Die Kirche wurde im Krieg ganz zerstört, aber schön wieder aufgebaut durch Professor Seiter und Professor Haim. Auch Professor Lempf war stark beteiligt. Der Chor wurde wiederhergestellt, doch man hat keinen Eindruck mehr, wie groß die Kirche war und wie viele Sitzplätze sie damals hatte.
Zu der Zeit, als Ludwig Hofacker dort predigte, vertrat er seinen erkrankten Vater, den Amtsdekan Hofacker. Der Amtsdekan war nicht der Dekan von Stuttgart, sondern Dekan für das Amt Stuttgart, zu dem hauptsächlich Degerloch, Blieningen und Bernhausen gehörten. Die Lehnherz-Vorstadt war für alles zuständig, was südlich lag.
In Stuttgart war der Pfarrer der Stiftskirche der einflussreichste Geistliche. Wer einmal Stiftskirchenpfarrer war, bestimmte das Geschehen in Stuttgart. Eigentlich wurde der Amtsdekan eher zurückgestellt.
In der Lehnherzkirche wurden bis 1806 keine Taufen oder Trauungen vollzogen. Sie war wie die Hospitalkirche eine reine Predigtkirche.
1823 war der Vater Hofacker schwer erkrankt, und Hofacker wurde als Krankheitsvertreter eingesetzt, obwohl er selbst geschwächt war. In dieser Zeit stellten die Leute sogar Leitern an die Mauern, um durch die Fenster zu hören, was gepredigt wurde.
Mit dem Ernst, den wir heute Morgen auch hörten – die Einladung zum ewigen Leben – hat Hofacker ganz Württemberg geprägt. Sein erwecklicher Ruf ist unvergessen.
In der Lehnherzkirche ist es sehr zu empfehlen, wenn man einmal Zeit hat, die Sakristei mit all den Bildern der Pfarrer zu besuchen, die dort gewirkt haben. Darunter sind auch berühmte Persönlichkeiten wie der Stadtpfarrer Dann, der vom Herzog vertrieben wurde, weil er seine Liaison mit einer Hofschauspielerin gegeißelt hatte, Albert Knapp, der Freund Wilhelm Hofackers, Hofackers Bruder, aber auch Gustav Schwab und bis in die heutige Zeit der spätere Prälat Lempf. Alle haben in der Leonhardtskirche gewirkt.
Sie war und blieb eine wichtige Predigtkirche. Auch nach dem Wiederaufbau fand der Gottesdienst der Stuttgarter Jugend immer in der Leonhardtskirche statt. Sie ist ein geistliches Zentrum mit der schönen Kreuzigungsgruppe.
Die Hauptstädter Straße und das geistliche Leben in Stuttgart
Jetzt würden wir die Hauptstädterstraße hinaufgehen. Sie hat ihren Namen nicht von der Hauptstadt Berlin, sondern von „Kopf weg, Rübe ab“. Denn der jetzige Wilhelmsplatz war eine Zeit lang Marktplatz oder Holzmarkt, Krautmarkt, Rübenmarkt genannt. Man wusste nicht genau, ob der Name „Rübenmarkt“ davon stammt, dass Rüben verkauft wurden, oder ob er mit „Rübe ab“ zu tun hat. Dort befand sich die Richtstätte, und die Hauptstädterstraße führte zu dieser Haupthinrichtungsstätte.
Wir wollen die Hauptstädterstraße hinaufgehen, um einen Blick in die Färberstraße zu werfen. Man erkennt sie heute nicht mehr so, wie sie früher war. Die Färberstraße heißt so, weil der aus Lyon vertriebene Färber Plouquet dort lebte. Vielleicht ist Ihnen der Name von Heidenheim bekannt, wo die große Wirkwarenfamilie Plucket als Färber angefangen hat. In Nesenbach wurde das Wasser damals noch nicht verschmutzt, weshalb die Färberstraße so genannt wurde. Später gab es dort viele Einrichtungen der evangelischen Gemeinde in Stuttgart.
Zum Beispiel stand dort der evangelische Saal, der heute nicht mehr existiert. Er befand sich an der Stelle, an der später die evangelische Buchhandlung einige Zeit untergebracht war, an der Ecke Färberstraße und Bachstraße. Im evangelischen Saal fanden alle zentralen Bibelstunden statt, ebenso die erste Ausbildung der Lektoren in Württemberg. Das war vergleichbar mit dem heutigen Hospitalhof. Dort wurden auch große Trauerfeiern für bedeutende evangelische Stuttgarter Bürger abgehalten.
Das ist also die Färberstraße. Dann werfen wir einen Blick zum Wilhelmsplatz. Die Hauptstädterstraße führt an der Renardskirche vorbei. Ich zeige Ihnen, wo die Färberstraße hineinführt. Hier ist die alte Färberstraße, und vorne sehen wir noch ein Stück der alten Stadtbefestigung. Man merkt also, dass die Hauptstädterstraße schon an vielen Stellen jenseits der Mauern lag.
Es wurde mich einmal gefragt, von jemandem, der selbst Leonhard heißt, warum in vielen Städten ein ungewöhnliches Gewerbe sich im Leonhardsviertel angesiedelt hat. Das hing schon seit frühen Zeiten damit zusammen, dass dort Leonhardskapellen und Leonhardskirchen standen, wo die Fuhrleute sich versammelten. Dort gab es nicht nur Kapellen, sondern auch Gaststätten und anderes.
Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie, wenn Sie mal Zeit haben, die Leonhardskirche besuchen sollten. Im Chor vorne befindet sich das Grabmal des großen Humanisten Reuchlin. Stuttgart hat auch eine Reuchlinstraße. Reuchlin hatte großen Einfluss auf Melanchthon und die gesamte Reformation durch seine Erforschung der alten Sprachen. Wenn Sie in die Sakristei hineingehen, können Sie viele schöne Bilder derer sehen, die an der Leonhardskirche gewirkt haben.
Jetzt gehen wir noch ein bisschen weiter bis zum Wilhelmsplatz. Früher war hier der Rübenholz- und sonstige Markt sowie die Richtstätte. Heute steht dort wieder der Brunnen, der ursprünglich hierher gehörte. Eine Zeit lang war er ausgetauscht. Als das neue Stuttgarter Rathaus – nicht das jetzige, sondern das vorvorige – auf dem Marktplatz gebaut wurde, diente der Wilhelmsplatz etwa dreißig bis vierzig Jahre lang als Standort des Stuttgarter Rathauses. In dieser Zeit stand der Rathausbrunnen hier, direkt vor dem Haus des Pietistengenerals Gottlieb Scholl.
Gottlieb Scholl war ein Apotheker aus Nagold, der vorzeitig in den Ruhestand ging und sein Vermögen dafür einsetzte, die evangelische Gesellschaft in Stuttgart aufzubauen. Das war ein Merkmal der Erweckung im letzten Jahrhundert: Es wurde zugleich für alle Formen von Bedürftigen etwas getan – Armenhilfe, Krankenfürsorge, Diakonissenanstalt, Weltmission und Bibelverbreitung.
1810 kommen wir später an dem Haus Lotter vorbei, in dem der Kaufmann Hering und der Kaufmann Lotter wohnten. Sie gründeten mit eigenen Mitteln die Bibelanstalt. Das Konsistorium kam immer erst hundert Jahre später. Wenn nicht wir als Laien anfangen, Einrichtungen zu gründen, können wir lange warten. Das Konsistorium bremst oft und sagt: „Das darf nicht sein, das ist nicht über unseren Schreibtisch gelaufen.“
So begann Scholl die evangelische Gesellschaft mit Mädchenwohnheimen, Trinkerfürsorge, Armenfürsorge, Suppenküchen und dem Haus des Pietistengenerals. Er gründete auch viele Gemeinschaften in Stuttgart zur Vertiefung des geistlichen Lebens. Es gab so viele geistlich geprägte Pfarrer in Stuttgart, dass man keine Alternativgottesdienste brauchte, aber zur Vertiefung die Stunden opfanisch oder altpietistisch hatte.
Dort hinten war das Geburtshaus Hegels zu sehen. Es ist immer interessant: Hegel sagte, als er Napoleon vorbeireiten sah, er habe den Weltgeist vorbeireiten sehen. Die Pietisten waren dagegen viel nüchterner und sagten, das sei ein Vorbild, wie einmal der Antichrist sein werde. Wir sollten uns also nicht so schnell aus der Ruhe bringen lassen – auch Philosophen sehen nicht so weit.
Leider ist das Gebäude nicht mehr zu sehen, in dem über hundert Jahre die privilegierte Bibelanstalt war. Bald nachdem sie gegründet wurde, wurde hier auf einem Grundstück, das bis zur Sophienstraße reichte, das große Druckgebäude der privilegierten Bibelanstalt gebaut. „Privilegiert“ deshalb, weil sie keine Steuern zahlen musste. Der König sorgte dafür, dass sie billig Bibeln herstellen konnte – Volksbibeln, unsere schöne Stuttgarter Jugendbibel, sowie Billigausgaben des Gesangbuchs.
Dafür sorgte Charlotte Reilen. Es gab damals schon ein neues Gesangbuch, das sehr teuer war. Arme Leute konnten es sich nicht leisten, deshalb machten sie eine Billigausgabe und finanzierten diese, damit auch arme Leute das Gesangbuch bekommen konnten.
Vor allem die wissenschaftlichen Bibelausgaben in Hebräisch und Griechisch sind heute weltweit Standardausgaben. Sie wurden in der Stuttgarter Bibelanstalt gedruckt, die heute mit der weltweiten Bibelgesellschaft im Bibelhaus oben in Stuttgart-Möhringen vereint ist.
Aber hier war die Zentrale der Bibelanstalt. Im Dritten Reich wurde sie gestoppt. Ich erinnere mich noch, wie ein Onkel, der hinten in der Schlosserstraße wohnte, erzählte, dass auf Befehl der Nazis auch die Druckbögen der noch nicht gebundenen Bibel auf Lastwagen geladen und als Altpapier vernichtet wurden.
So war die Stuttgarter Bibelgesellschaft über Jahrhunderte hinweg eine Segensstätte. Auch die Stuttgarter Bibelkonkordanz war ein Standardwerk. Dabei halfen Freunde, die mit der Mission verbunden waren, wie etwa Dr. Christian Bart von Calw mit dem Calwer Verlagsverein, sehr mit, damit die Augen weit geöffnet werden konnten.
Impulse aus England und die Bedeutung von Karl Steinkopf
Noch etwas, auch wenn ich Sie mit Namen verwirre. Man hört sie einmal und stößt vielleicht später wieder darauf.
Der Doktor Karl Steinkopf aus Ludwigsburg war als junger Pfarrer Sekretär der Christentumsgesellschaft in Basel. Er wollte daraus eine schlagkräftige Truppe für ganz Europa machen. Bald wurde er jedoch als Pfarrer an die deutsche Savoy-Kirche nach London berufen. Das war ein Segen.
Er war einer der Mitbegründer der britischen Foreign Bible Society und sagte, Stuttgart müsste so etwas auch machen. Das war der Impuls von Steinkopf, hier eine Tochtergesellschaft der englischen Bibelgesellschaft aufzubauen.
Über seinen Nachfolger Spidler sorgte er dafür, dass in Basel und Umgebung zahlreiche Einrichtungen entstanden: die Pilgermission Grischona, die Basler Mission, die Basler Traktatgesellschaft, die Basler Bibelgesellschaft, das Diakonissenhaus in Riehen sowie das erste Kinderrettungshaus in Beugen. Insgesamt sind etwa 50 Einrichtungen der Inneren Mission und der Bibelverbreitung auf seine Ideen zurückzuführen – inspiriert von der englischen Erweckung.
Man braucht nur wenige Menschen, in denen der Funke zündet, die diesen Funken dann wie ein Feuer weitergeben. Einer dieser Funken ist die Bibelgesellschaft. Steinkopf war meist vier- bis fünfmal im Jahr aus England hier. Das war schwieriger als heute.
In der Bibelgesellschaft gab er Impulse weiter und traf Absprachen darüber, was Stuttgart und was England herausgeben sollte. Kaum war Napoleon gestürzt, reiste Steinkopf nach Russland, Estland und Südosteuropa, um Möglichkeiten der Bibelverbreitung zu erkunden.
Manchmal schäme ich mich, wie wenig wir unsere modernen Verkehrsverbindungen für die Verbreitung des Evangeliums nutzen.
Wohlstand und evangelistisches Engagement in Stuttgart
Ein kleiner Blick hinauf zu den Höhen der Karlshöhe und zu den Villen der Humboldt- und Hohenzollernstraße. Als die neuen Fabrikanten Stuttgarts reich wurden, zeigten sie ihren Reichtum durch die Villenbauten oben, dort, wo die Türmchen sind. Diese Villen wirken festungsähnlich an der Hohenzollern- und Humboldtstraße.
Eine schöne Geschichte dazu: Darunter war auch der Fabrikant Wilhelm Benger. Er war ein Strumpfwirker aus Dägerloch, dessen Grab sich hinter der Dägerlocher Kirche befindet. Plötzlich machte er sich eine Erfindung zunutze. Die jägersche Männerunterwäsche muss furchtbar gebissen haben. Aber die Leute haben sie trotzdem wie angebrütete Eier gegessen – zumindest die Hose nicht, aber sie haben sie angezogen. Man meinte, das sei sehr gesund. So machte er ein Millionenvermögen.
Heute gibt es Benger Ribana, und er hatte vier Töchter. Er sagte: „Jede von euch bekommt eine halbe Million Goldmark, wenn sie einen frommen Mann mitbringt.“ Verstehen Sie, das war evangelistische Heiratspolitik. Eine Tochter heiratete den Doktor Spieth, einen Missionarsohn aus Maulbronn, der mit dem Geld das Krankenhaus Maulbronn baute. Dort befindet sich heute ein Rehabilitationszentrum für kranke Kinder.
Die andere Tochter heiratete den Stadtvikar Weisser. Er wurde Leiter des in den Bankrott gegangenen Diakoniewerks Schwäbisch Hall und sanierte mit seiner halben Million Schwäbisch Hall so, dass es heute die große Diakonissenanstalt ist. Benger hatte als Fabrikant eine gute Idee: „Es kommen Männer her, ich habe das Geld, und wenn beides zusammenkommt, wird es recht.“
Wenn ich heute an der Humboldtstraße vorbeikomme, sehe ich ein schönes Altenheim in der Villa. Davor stehen meist die Häuser für den Johann, den Kutscher, das Kutscherhaus. Was für wunderbare Weinberge führen hinauf zur Karlshöhe! Ich denke, das war gerade erst vor hundert Jahren die ganze Geschichte.
Vor uns erheben sich die Türme der Marienkirche. Die einzige katholische Kirche im ganz evangelischen Stuttgart war die Eberhardtskirche in der Königstraße. Deren Steine wurden von der Solitude an die Königstraße gebracht. Nur auf der Solitude war eine katholische Kirche, weil der Herzog zeitweise katholisch war. Doch mit der Bevölkerung, die aus ganz Württemberg einströmte, kamen auch viele Menschen aus dem katholischen Oberland. Man brauchte Kirchen.
Die Marienkirche ist deshalb, genauso wie die gotische Johanneskirche und die Matthäuskirche, interessant. Das geht zurück auf den Prälaten Grüneissen und den Prälaten Kapf, Stadtpfarrer an der Stiftskirche. Es wurde ein evangelischer Kirchenbauverein gegründet, der sich mit den entstehenden Städten der Frage widmete: Wie baut man richtige Kirchen? Auch die katholische Kirche musste sich dieser Frage stellen. Man holte sich den Baumeister Lainz, den Erbauer des Königbaus Villa Berg, als Berater. Lainz sagte: „Solange uns nichts Besseres einfällt, kopieren wir alte schöne Kirchen.“
Wenn Sie nach Marburg kommen, werden Sie sehen: Die Marienkirche ist eine reine Kopie der Elisabethenkirche von Marburg. Unter der Johanneskirche am Feuersee sind viele Stilelemente von Chartres, von der Kathedrale von Chartres, aufgenommen.
Erst der berühmte Architekt und Baumeister Elsässer, ein Dekansohn und Baumeister der Markthalle, wagte es, einen neuen Stil zu schaffen. Zum Beispiel die Geisburger Kirche hinter dem Gaskessel, die typische Elsässer Kirche, oder etwa Dolmetsch, ein Schüler von Leins, der mit der Markuskirche Versuche im Jugendstil machte. Diese waren die ersten Versuche, eine eigene Ausdrucksform zu finden.
Manchmal, wenn ich unsere modernen Betonbunker sehe, denke ich: Hätten sie lieber wie im letzten Jahrhundert gesagt: „Zack, dann kopieren wir lieber schöne alte Kirchen.“
Evangelische Bildung und geistliche Gemeinschaften
Paulinenstraße – früher nannte man den Bereich Paulinenbügel, heute ist das nicht mehr so deutlich erkennbar. Rechts drüben befand sich der Lämmerstall, das evangelische Töchterinstitut, das aus der Weidlichen Schule hervorging. Über dem Eingang stand „Weide meine Lämmer“, daher der Name Lämmerstall.
In den 1930er-Jahren wurde das Mörike-Gymnasium gebaut. Es stand unter der Leitung von Vektor Klass, dem Vater unseres Bischofs. Hier befanden sich also der Lämmerstall und das Stiftsgemeindehaus, in dem viele Kurse stattfanden, etwa zur Ausbildung von Gemeindehelferinnen.
Gegenüber sieht man nur ein Stück vom Dach. Dort war das Zentrum der Hanischen Stunde, geleitet vom Prälaten Kapff, der das Stuttgarter Gottesdienstleben belebte. Er war zwei Jahre lang Prälat, meinte jedoch, dass dabei nichts herauskomme. Deshalb wurde er Pfarrer an der Stiftskirche. Dort wirkte er drei Jahrzehnte lang als Stiftskirchenpfarrer und prägte das geistliche Leben in Stuttgart maßgeblich.
Sein Hauptthema war das Gebet. Er sagte, unser Herz müsse sich emporschwingen zu Taborshöhen. Das war genau das Gegenteil von dem, was der Hofvater gesagt hatte: „Kommt herunter von den hohen Türmen der Religiosität.“ Man hörte den Kapff gern, und er sagte: Die Menschen, die im Glauben angesprochen sind, müssen in die Stunden kommen. Er dehnte das Netz der Stunden aus.
Am liebsten ging er zu den Hanern. Später kommen wir am Haus der Altbaptisten vorbei. Es gab eine Fülle von Stunden. Kapff meinte, die Stunden-Gemeinschaften seien oft zu stark geprägt, sodass es für Außenstehende schwierig sei, Anschluss zu finden. Deshalb musste er neue Kreisegruppen gründen, was wir heute Hauskreise nennen würden.
Er baute den CVJM Stuttgart aus, sodass 1902 mit freien Spenden ein neues Vereinshaus gebaut werden konnte. Wir sehen den grünen Turm. Das Gebäude kostete damals zwei Millionen Goldmark und wurde komplett durch private Stiftungen finanziert.
Der Nesenbach war im Keller zu einem Hallenbad gestaut. Dort haben wir in der Nachkriegszeit ein Jugend- oder Gemeindehaus mit Hallenbad gebaut. Bereits 1901 wurde ein Lehrlingsheim hinter dem Furtbachhaus errichtet. Es besaß einen der schönsten Säle Stuttgarts. In der Nachkriegszeit tagte dort der Landtag.
In der Silberburgstraße 187 wohnten nicht nur Siegfried Schepfug und andere Persönlichkeiten, sondern auch unser verehrter Landesbischof Theophil Wurm. In den 1930er-Jahren geriet er in große Schwierigkeiten mit der Partei. Die Nazis verhängten Hausarrest gegen ihn und den Oberkirchenrat Schaufler mit dem Vorwurf, sie hätten Devisenschmuggel betrieben.
Tatsächlich hatten sie nichts anderes getan, als Opfergelder vom Erscheinungsfest, die für die Basler Mission bestimmt waren, nach Basel zu transferieren. Das war zwar Devisenschmuggel, aber keine kriminelle Handlung. Als Wurm inhaftiert war und die Polizei vor seinem Haus stand, organisierte Doktor Siegfried Ernst, ein großer Vorkämpfer gegen Abtreibung, eine Protestdemonstration.
Man hielt es für merkwürdig, dass er katholisch geworden sei. Doch sehen wir, wie es dazu kam: In Tübingen organisierte er einen Sonderzug und brachte von heute auf morgen 700 Studenten und Studentinnen hierher. Damals gab es kaum Studentinnen. Gemeinsam demonstrierten sie gegen die Nazis.
Man sagte: Wenn die Polizei oder die Geheime Staatspolizei kommt, singen wir das Deutschlandlied und „Die Fahne hoch“. Währenddessen sollten sie Polizei salutieren, dann würden sie schnell durch die Anlage verschwinden. So geschah es auch. Die Polizei begriff lange nicht, was los war, und alle verschwanden. Niemand wurde festgenommen.
Die Demonstranten sangen das Deutschlandlied und zogen ab. Es gab immer einzelne mutige Menschen mit Ideen. Die Nazis verloren diese Schlacht, weil sie merkten, wie das Kirchenvolk und die begabten Studenten aus Tübingen hinter ihrem Bischof standen.
Das ist auch die stillende Lebensbeschreibung von Frau Marie Wurm. Sie erzählt immer wieder, dass sie ihrem Mann einen Malagawein zur Stärkung gab. Ich sage immer, das war der Trunk, den der Engel Gottes dem Elija gegeben hat. Sie betete hinter ihrem Mann her, wenn er beim Gauleiter Moor oder Kultusminister Merkenthaler schwierige Kämpfe zu bestehen hatte.
Die meisten von uns werden ihn vielleicht gar nicht mehr kennen. Er hatte, wie Bismarck, eine ganz hohe Stimme. Liebe Gemeinde, er war ein Volksredner von großer Gestalt und in der Kirchengeschichte bewandert. Er hat die Nazis ausgehebelt. Er konnte nicht offen sagen, was geschehen war und unrecht war, aber er konnte sagen: Im Römischen Reich, wenn ein Terrorregime herrschte, zog meist ein Einzelner alle Macht an sich. Nicht jeder wusste, was gemeint war. Ein hochinteressanter Mensch.
Weitere Stationen und geistliche Zentren in Stuttgart
Blicken Sie noch einmal auf die Marienkirche, und dann gehen wir die Marienstraße hinunter zur Königstraße. Hinter diesem neuen Gebäude befindet sich zumindest ein Teil des Zentrums der Hanischen Gemeinschaft. Beim Bau der Paulinenbrücke wurde extra darauf geachtet, dass das Haus erhalten bleibt. Jetzt wurde es jedoch verkauft, und das Zentrum, die Zentrale der Haner, ist nach Böblingen verlegt worden.
Früher war hier alles grün. Ein Blick hinüber zur Infanteriekaserne, die ursprünglich nur zwei Stockwerke hoch war, wurde nach dem Krieg aufgestockt. Dort war das berühmte Stuttgarter Infanterieregiment 119 stationiert. Die umliegenden Häuser stammen aus der Gründerzeit und bilden den Stuttgarter Westen. Der Feuersee war ein seit dem Mittelalter angestauter See, der für Feuerlöschzwecke genutzt wurde. Man öffnete die Falle, und das Wasser strömte hinein.
Für den Bau der Hanneskirche wurden etwa 300 Eichenpfähle in den Moorgrund gerammt. Die Kirche wurde ausschließlich durch Spenden finanziert, es floss kein Geld von der Landeskirche. Damals gab es auch noch keine Kirchensteuer; diese wurde erst etwa ab 1880 eingeführt. Die freien Kirchenbauvereine sind meiner Meinung nach zukunftsweisend. Wir sollten wegkommen von der Kirchensteuer und wieder auf freie Vereine setzen. Nur dort, wo engagierte Menschen aktiv sind, kann etwas entstehen.
Eben wurde ich gefragt, wo früher der Oberkirchenrat war. Es gab nur ein königliches Konsistorium. Durch die Reformation wurde der Landesbischof zugleich Landesherr. Das war bei uns bis 1918 so. Erst danach erhielt die Kirche einen Kirchenpräsidenten. Unter Adolf Hitler wurde dann wieder ein Landesbischof eingeführt, da Hitler nur mit Bischöfen verhandeln wollte, nicht mit Präsidenten. So wurde der Kirchenpräsident Wurm zum Landesbischof ernannt.
Das Konsistorium war eine herzogliche oder königliche Behörde, zunächst in der alten Kanzlei untergebracht. Dort, wo heute die Säule mit dem Engel steht, führte eine Holzbrücke zum alten Schloss, direkt zum Herzog. Das zweite Gebäude war das Stockgebäude, an dem wir später vorbeikommen. Dort befindet sich unten die Firma Bengeribana und einer der schönsten Weinkeller Stuttgarts. Wenn Sie den Keller sehen möchten, gehen Sie bei Bengeribana in den Keller – es ist ein herrlicher, herzoglicher Keller. Das Gebäude wurde „Stockgebäude“ genannt, weil das Geld ausging und es zunächst nur bis zum ersten Stock gebaut wurde. Später wurde es weitergebaut und beherbergte bis etwa 1850 das Konsistorium. Danach wurde es in das alte turn- und taxische Postgebäude am alten Postplatz verlegt.
Dieser Platz war ein schöner, romantischer Ort neben dem kleinen Musikhaus Barth. Wenn ich das erwähne, denken Sie vielleicht an die Ecke, wo heute der Rote Bühlplatz ist. Dort war ein kleines Plätzchen, an dem der Zwe- und Einundzwanziger Quartier war. Dort befand sich die alte turn- und taxische Post mit dem Oberkirchenrat. In diesem Gebäude gab es so viele Mäuse, dass heute bei den alten Pfarrakten höchstens die Hälfte erhalten ist, der Rest wurde weggefressen.
Nach der Ausbombung wurde der Oberkirchenrat zunächst in die Georgstraße und später auf die Gänzheide verlegt. Unser Bischof Haug sagte dazu oft, Paulus spreche von Judenchristen und Heidenchristen, und jetzt gäbe es auch noch Gänzheidenchristen.
Direkt vor uns stand das riesengroße Gebäude des Großen Bazaars. Historisch interessant ist, dass unter dem Einfluss der Predigt von Prälat Kapff, der bis etwa 1870 an der Stiftskirche wirkte, einzelne Stuttgarter Kaufleute beschlossen, sonntags ihre Geschäfte zu schließen. Diese Sonntagsruhe wurde nicht durch eine Gewerkschaft erkämpft, sondern durch Christen, die auf ein großes Einkommen verzichteten. Die Bauern aus dem Geu und von den Fildern kamen sonntags in die Stadt, wenn sie nicht arbeiten durften, und kauften ein. Wenn die Geschäfte geschlossen blieben, bedeutete das einen großen Verlust. Dennoch wollten sie mit der Sonntagsruhe beginnen.
In einem Gemälde, inspiriert von Charlotte Reilen, das den breiten und schmalen Weg zeigt, spielt die Sonntagsruhe eine Rolle. Oben auf dem breiten Weg zur Hölle ist die Eisenbahn zu sehen. Die Stuttgarter fuhren, sobald es eine Eisenbahn gab, ins Remstal oder auf den Schönbuch und gingen nicht mehr in die Kirche. Was heute das Fernsehen ist, das uns die Ruhe nimmt, war damals die Eisenbahn.
Der Große Bazar war einer der Orte, an denen die ersten Kaufleute diese Entscheidung trafen. Weiter unten, nach dem Neubau, kommen wir zum Stockgebäude. Dort ist unten Bengeribana untergebracht. Wenn Sie den Keller sehen möchten, gehen Sie ums Gebäude herum und schauen durch eines der Fenster hinunter. Vielleicht animiert Sie das zu einem Besuch. Sie müssen nichts kaufen, sondern können einfach sagen, dass Sie den Keller sehen möchten.
Ich habe Sie hierher geführt, damit Sie auf alten Darstellungen nach dem schönsten aller Marktplatzhäuser suchen können: das Lothersche Haus mit seinen drei Türmchen und Balkonen. Dort wurde 1810 oder nochmals 1812 die Stuttgarter Bibelgesellschaft gegründet. Parallel dazu entstand in Basel durch den Schwaben Spittler die Basler Mission und die Basler Bibelgesellschaft.
Man stelle sich vor: 1817 und 1818 waren die schlimmsten Hungerjahre in Württemberg. In Lernberg versammelten sich Pietisten und legten am 1. November 1818 290 Gulden auf den Tisch, um einen Missionar zu finanzieren. Dort wurde also das Letzte für Bibelverbreitung, Missionierung und Evangelisierung gegeben. Ein Quellort war dieser Platz.
Ein paar Ecken weiter lebte Charlotte Reilen. Obwohl sie Pfarrerstochter war, war sie froh, dem geistlichen Leben entflohen zu sein, und stürzte sich ins kulturelle Leben. Als ihr drittes Kind plötzlich an Keuchhusten oder Diphterie starb, fragte sie sich, ob das eine Strafe Gottes sei. Eine Seelsorgerin sagte ihr, dass es wie bei den Schafen sei: Wenn das kleine Schäflein nicht mitkommt, nimmt der Schäfer es auf den Arm, und die Mutter läuft hinterher. Das tröstete sie zunächst nicht. Erst als ihr der Pfarrer von der Quelle des Lebens erzählte, die allen Durst stillt, wurde ihr Leben verändert.
Deshalb zeigt das Bild vom breiten und schmalen Weg, das sie inspirierte – der Maler ist unbekannt – als erste Gestalt auf dem schmalen Weg einen Wanderer, der unter einer Quelle mit Kreuzzeichen darüber verlangend trinkt. Quellwasser gibt es hier am Stuttgarter Marktplatz, nicht nur durch das Lothersche Haus und die Familie Reilen, sondern auch in der Bandgasse durch den Hofküfermeister Engelmann und die Familie Blumart, die hier lebte.
Wir gehen jetzt durch die Bandgasse in den Durchgang. Man hat keinen Eindruck davon, dass hier früher Küferei und Schreinerhandwerk angesiedelt waren. Der Schreiner nagelte auf der Gastschaft seine Särge zusammen, und der Küfer arbeitete ebenfalls dort. So war die Bandgasse der Platz der Küfer Stuttgarts.
Mit einer kleinen Skizze bekommen wir einen Eindruck davon, welche Häuser hier standen. Hier war einst die Lorcher Kelter mit der Zehnscheuer, die 1944 zerstört wurde, aber 1486 erbaut war. Um die Ecke, dort wo jetzt die Landesgirokasse steht, befand sich die Stiftspropstei. Daneben stand das alte Steinhaus, eines der ältesten Häuser Stuttgarts, genannt Halskate.
Noch etwas zur Stiftskirche: Die zentrale Kirche für den Stuttgarter Raum war zuerst die Cannstatter Uffkirche. Dann wurden die Rechte an die Cannstatter Stadtkirche vergeben, und hier war eigentlich nur eine Tochterkirche dieser Stadtkirche. Deshalb regen sich die Cannstatter über die Uffkirche auf und sagen: „Wir sind älter, nicht wahr?“
Das Chorherrenstift von Beutelsbach, das herzogliche Stift, wurde hierher verlegt. Die Württemberger stammen ja von Beutelsbach. Mit der Verlegung kam auch die Grablege der Grafen hierher, und so wurde diese Kirche die sogenannte Stiftskirche. Das Chorherrenstift war einige Ecken weiter untergebracht, doch alles wurde bereits vor 1944 zerstört.
Der Turm der Stiftskirche wurde nie ganz vollendet, weil das Geld ausging. Das ist ähnlich wie beim Ulmer Münster im Mittelalter. Dort wurde vor etwa hundert Jahren noch die Spitze aufgesetzt, hier blieb der Turm in seiner klassischen Gestaltung.
Zum Umbau der Stiftskirche möchte ich mich nicht einmischen, außer zu sagen, dass es sich immer bewährt hat, etwas zu warten. Die aktuelle Initiative hat viel für sich, denn dann könnten wir auch Pro Christ in der Stiftskirche veranstalten, wenn nicht ab dem 1. Oktober Umbauarbeiten beginnen würden. Das ist jedoch sehr eigensinnig gedacht in Bezug auf unsere Anliegen.
Ganz wichtig ist die Stiftskirche auch als Wallfahrtsort für viele polnische Katholiken, weil Agnes von Liegnitz hier beerdigt ist. Unter dem kleinen Turm befindet sich die Grablege des württembergischen Herzogs Ulrich IV., auch „der Heißbare“ genannt, und seiner Frau Anna von Liegnitz, die aus dem polnischen Königsgeschlecht stammt und in Polen beinahe als Heilige verehrt wird.
Dort drüben ist das alte Schloss, links die Kanzlei mit dem Konsistorium. Wenn wir am alten Schloss vorbeigehen, dürfen wir nicht vergessen, dass es eine Ironie der Geschichte ist, dass fast alle Kirchen Stuttgarts im Krieg zerstört wurden. Die Markuskirche wurde am wenigsten beschädigt, aber die einzige Kirche, die unversehrt blieb, war die Schlosskirche. Dort fanden die Gottesdienste der Deutschen Christen statt. Auf dem Altar hing das Führerbild. Gott straft nicht sofort.
Doch gleich im Winter 1945/46, als der aus dem Krieg zurückgekehrte Kurt Hennig, Jugendfahrer von Stuttgart, war, fand in der eiskalten Schlosskirche die erste Jugendevangelisation statt.
Wer dann noch Mut hatte, in die Heimat zurückzugehen, ging an der Markthalle vorbei. Denken Sie an Elsässer, der nicht nur Markthallen baute, sondern auch einen neuen Kirchbaustil nach Württemberg brachte.
Wir kommen am Weißen Haus vorbei. Ich erzähle dazu nicht mehr viel. Das Weiße Haus war eine königliche Einrichtung, genauer gesagt eine herzogliche, denn König gab es erst ab 1806. Zunächst war es eine Leibgardehusarenkaserne. Nachdem Eberhard Ludwig seine Residenz nach Ludwigsburg verlegt hatte, wurde das große Weiße Haus eingerichtet, eine Dependance des Ludwigsburger Weißen Hauses.
Es wurde geprägt von verantwortlichen Seelsorgern in Ludwigsburg, darunter Israel Hartmann, einem der großen Pädagogen. Sein Enkel war Christian Heinrich Zeller. Die Familie hatte christliche Pädagogik im Blut. Pestalozzi sagte immer: „Das ist es, was ich eigentlich wollte“ – diese christlichen Einrichtungen.
So haben hier der Weißenhausvater Seitz, ein Schüler von Bengel, sich schon dagegen gewehrt, dass automatisch Bibelverse auswendig gelehrt wurden. Er erfand ein neues Katechismusbüchlein mit biblischen Erzählungen.
Der Weißenhausvater Groß, der im Lernberger Raum eine Erweckung ausgelöst hatte, und der Weißenhausvater Dettinger prägten dieses staatliche Weißenhauswesen. Doch später sagten die Christen, dass diese staatlichen Einrichtungen nicht ausreichen.
Nach den napoleonischen Kriegen war die Not so groß, dass viele Kinderbanden bettelnd durchs Land zogen. Daraufhin bauten Christen selbst Einrichtungen auf, wie Lichtenstern, Tempelhof, Korntal, Wilhelmsdorf, Schönbühl und Urbach, um arme Kinder aufzunehmen und zu unterrichten. Sie hatten Erfahrungen in der Pädagogik dieser staatlichen Waisenhäuser gesammelt und übernahmen die Verantwortung.
Ausblick auf weitere geistliche Orte und Persönlichkeiten
Ich danke Ihnen für Ihr Durchhaltevermögen. Ich bewundere, dass Sie so lange aufmerksam geblieben sind. Beim nächsten Mal besuchen wir die Schlosskirche. Dort gibt es eine besondere Kapelle für König Karl und Königin Olga, die ja aus dem Zarenhaus stammt.
König Karl hat nicht viel geleistet. Ganz anders König Wilhelm, der 50 Jahre lang regierte. Er war ein sehr liberaler Mann und ein Erfinder. Unter seiner Herrschaft entstanden die Landesbibliothek, die staatliche Galerie und das Volksfest. Wilhelm hat also viel aufgebaut. Karl hingegen stand im Schatten seines Vaters und seiner Frau. Olga hat viele Initiativen gestartet, wie zum Beispiel das Karl-Olga-Krankenhaus. Überall findet man Stiftungen mit Karls Namen. Vor Karl gab es hauptsächlich die Förstersteine, die sogenannten Karlsteine, die ihn sehr verehrten.
Dann kam Wilhelm II., der eigentlich der beste Bischof war, den wir nach Christoph hier im Land hatten. In der Grablege sind viele Persönlichkeiten beerdigt. Es gibt dort eine Übersicht darüber, wer alles dort ruht. Die letzte Person aus dem Königshaus, die dort bestattet wurde, ist Herzogin Henriette, die Witwe, die im Schloss in Kirchheim lebte. Durch ihre Töchter wirkte sie auch nach, besonders durch Königin Pauline. Das ist jedoch eine eigene Geschichte.
Es gibt dort auch ein Grab-Erinnerungsmal für Johannes Prenz. Prenz wurde zu Füßen der Kanzel beerdigt. Eine Grabtafel erinnert noch daran, dass hier sein Grab war. Bereits im Dreißigjährigen Krieg wurde das Grab geöffnet, weil man prüfen wollte, ob sich vielleicht ein goldenes Prälatenkreuz oder Ähnliches darin befindet. Dabei wurden auch die Gebeine entfernt. Es gibt also nur noch die Erinnerung an das Grab.
Johannes Prenz hatte gesagt, er wolle dort beerdigt sein, damit er, wenn von der Kanzel Irrlehre verkündet wird, aufstehen und sagen könne, dass es nicht stimmt. Allerdings hätte er dann schon einige Male wieder auftauchen müssen.