Mit welchen guten Vorsätzen seid ihr ins neue Jahr gestartet? Wer von euch kann sich noch daran erinnern, welchen Vorsatz er gefasst hat? Könnt ihr einfach mal die Hand heben? Es sind nur wenige. Genau, der große Rest von euch denkt: „Ach, warum Vorsätze fassen, die ich sowieso nicht einhalten kann?“
Ende letzten Jahres hat das Zukunftsinstitut eine Umfrage gestartet. Dabei wurde festgestellt, dass 50 Prozent der Befragten in diesem Jahr mehr Verantwortung übernehmen möchten. Weitere 50 Prozent gaben an, sie möchten 2023 weniger arbeiten. Im schlimmsten Fall heben sich diese beiden Gruppen also gerade auf: Die einen übernehmen mehr Verantwortung, die anderen arbeiten weniger. So bleibt alles beim Alten.
Eine andere Sache an dieser Untersuchung hat mich jedoch sehr interessiert, und sie passt gut zu unserem heutigen Thema. Eine Mehrheit von 60 Prozent möchte weniger Egoismus zeigen und mehr Gemeinschaftssinn entwickeln. Weniger Egoismus, mehr Gemeinschaftssinn – das sind doch rosige Aussichten. Es wäre gut, wenn das so eintrifft.
Interessanterweise standen ein paar Zeilen weiter unten die Entbehrungen und der Verzicht der vergangenen Jahre. Diese haben das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Solidarität und Eigenverantwortung wachsen lassen. Die Menschen haben erkannt: „Ich muss mich einsetzen, ich muss etwas tun, damit es hier irgendwie weitergeht.“
Die Motivation dafür ist laut der Umfrage, dass die eigene Lebensqualität, der eigene Wohlstand und die Zukunft der nachfolgenden Generationen steigen sollen. Dabei gehört zur Motivation also der eigene Wohlstand. „Deshalb setze ich mich mehr ein, deshalb weniger Egoismus.“ Interessant.
Das Institut zieht daraus die Schlussfolgerung: Das Zeitalter des Egoismus geht dem Ende entgegen. Ich frage mich, können wir wirklich schon von einer Zeitenwende sprechen? Ich wünsche es mir, aber ich vermute, dass unser menschliches Herz einfach anders gepolt ist.
Darum wollen wir heute eine Geschichte aus der Bibel betrachten, die genau das hervorhebt. Gleichzeitig gibt sie auch die Ermutigung von Jesus weiter: Ja, weniger Egoismus, mehr Gemeinschaftsgefühl.
Die Frage nach dem ewigen Leben und das Doppelgebot der Liebe
Ich lese den Text aus Lukas 10, Vers 25. Ein Gesetzeslehrer wollte Jesus auf die Probe stellen. „Meister“, fragte er, „was muss ich tun, um ewiges Leben zu bekommen?“
Jesus entgegnete: „Was steht im Gesetz? Was liest du dort?“ Er antwortete: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit aller deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand. Und du sollst deinen Mitmenschen lieben wie dich selbst.“
„Du hast richtig geantwortet“, sagte Jesus. „Tu das, und du wirst leben.“
Der Gesetzeslehrer wollte sich verteidigen, deshalb fragte er: „Und wer ist mein Nächster?“ Daraufhin erzählte Jesus folgende Geschichte:
Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinunter. Unterwegs wurde er von Wegelagerern überfallen. Sie plünderten ihn bis aufs Hemd aus, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halbtot liegen. Dann machten sie sich davon.
Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab. Er sah den Mann liegen, machte einen großen Bogen um ihn und ging weiter. Genauso verhielt es sich mit einem Levit, der dort vorbeikam und den Mann liegen sah. Auch er machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
Schließlich kam ein Reisender aus Samarien vorbei. Als er den Mann sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und versorgte ihn mit allem Nötigen.
Am nächsten Morgen nahm er zwei Denare aus seinem Beutel und gab sie dem Wirt. „Sorge für ihn“, sagte er, „und sollte das Geld nicht ausreichen, werde ich dir den Rest bezahlen, wenn ich auf der Rückreise hier vorbeikomme.“
„Was meinst du?“, fragte Jesus den Gesetzeslehrer. „Wer von den Dreien hat an dem, der den Wegelagerern in die Hände fiel, als Nächster gehandelt?“
Er antwortete: „Der, der Erbarmen mit ihm hatte und ihm geholfen hat.“
Da sagte Jesus zu ihm: „Dann geh und mach es genau so.“
Die Motivation des Gesetzeslehrers und die wahre Bedeutung der Liebe
Ein Schriftgelehrter wandte sich an Jesus. Er gehörte zur Gruppe der Pharisäer, die im Volk sehr hoch geachtet waren. Man zollte ihnen Respekt, sie hatten großen Einfluss, und er war ein Meister des Gesetzes und der Auslegung.
Er stellte nun diese Frage: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erhalten? Oder mit einer ähnlichen Frage kam er zu Jesus: Was soll ich tun, Herr? Was erwartest du von mir? Wo kann ich dir am besten dienen?
Vielleicht seid ihr auch schon durch die Ausstellungshalle geschlendert. Ich vermute, dass ihr nicht an allen hundertvierzig Ständen angehalten und in jedem dieser Stände ein Gespräch geführt habt. Aber vielleicht habt ihr da und dort gelesen oder gehört: „Genau dich brauchen wir. Du wirst gebraucht, dich suchen wir, deine Gaben finden bei uns ihren Einsatz.“ Und spätestens nach dem dritten Stand, wenn ihr diesen Satz gehört habt, dachtet ihr vielleicht: „Hm, vielleicht gilt er den 3999 anderen, aber mir nicht.“
Wenn jeder diesen Satz hört: „Du wirst gebraucht“, dann fühlt man sich doch schnell überflüssig. Dann macht man den Kohl nicht fett, dann kann man doch nicht den großen Unterschied machen. Aber diese Frage bewegt uns doch: Herr, was soll ich tun? Ich will mich doch als engagierter Christ für Jesus einsetzen. Ich will einen Unterschied machen dort, wo ich bin. Ich will vielleicht ein paar Monate oder ein Jahr meines Lebens Gott ganz zur Verfügung stellen. Und den Rest? Oder will ich mein ganzes Leben Gott zur Verfügung stellen – bis zu meinem Tod?
Der Gesetzeslehrer, von dem wir hier gelesen haben, stellt diese Frage: Was soll ich tun? Aber was war seine Motivation für diese Frage? Damit ich das ewige Leben ererbe. Diese Frage ist so ganz menschlich: Was muss ich tun, damit ich etwas bekomme? Oder bei der Umfrage, die wir vorhin gehört haben: Ich setze mich ein, damit der Wohlstand wächst, damit meine Lebensqualität steigt.
Also tun wir immer etwas, um etwas anderes dafür zu bekommen. Seine Motivation war: Was tue ich, damit Gott mit mir zufrieden ist, damit Gott sagt: „Ich bin so stolz auf dich, du gehörst zu mir. Du bekommst das ewige Leben, ich öffne dir den Himmel.“ Also: Jesus, was muss ich tun? Sag’s mir, und ich werde dir beweisen, dass ich das ja alles schon mache. Ich bin doch der Gesetzeslehrer, der diese 178 Gesetze alle auswendig kennt und sie bis aufs Kleinste befolgt.
Jesus gibt diese Frage zurück. Er gibt ihm nicht die Antwort: „Jetzt tu dies und tu jenes“, sondern sagt: „Du bist doch der Fachmann, was steht da drüber im Gesetz?“ Und der Schriftgelehrte antwortet natürlich auswendig: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit aller deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Also, was muss ich tun? Und er hatte im Kopf, dass Jesus ihm jetzt die Antwort gibt: Befolge dies und jenes Gebot, dann handle ich richtig. Das ist sein Verständnis von diesem Doppelgebot der Liebe, das im Alten Testament ganz wichtig ist. Ich tue etwas, und ich verdiene mir das ewige Leben.
Aber woran denkt Jesus oder woran dachte Gott, als er dieses Doppelgebot gab? Jesus geht es nicht um das Gebot. Es geht ihm nicht darum, was wir befolgen müssen oder was wir jetzt tun sollen. Sondern es geht um die Liebe.
Und was ist Liebe? Liebe ist immer eine Beziehung zwischen Personen. Da geht es um ein Vertrauensverhältnis, das da ist. Da geht es um das Vater-Kind-Verhältnis, das wir zu ihm haben. Bei der Liebe geht es um Leidenschaft, um Nähe, um Vertrauen.
Es geht Jesus um Beziehung und um die Frage: Wer bin ich? Ich bin ein Kind Gottes und nicht jemand, der irgendetwas leisten muss. Aber dieser Pharisäer hatte etwas ganz anderes im Kopf. Er wollte etwas tun, hatte aber keine Liebesbeziehung mit Gott.
Ich möchte dich einfach mal fragen: Was für eine Beziehung hast du zu Gott? Warum bist du hier auf der Jumiko? Suchst du nach irgendeiner Stelle? Möchtest du Gott irgendwie beweisen: „Ich bin doch gut, ich setze mich für dich ein, ich kann jetzt etwas dafür tun – wenn es nur aus Dankbarkeit ist –, aber ich will dir beweisen, dass ich es ernst meine.“ Oder hast du diese Liebesbeziehung zu Jesus, dass er dein Ein und Alles ist?
Dann werden wir sehen, und Jesus wird uns verändern. Aber wir brauchen erst diese Liebe von Jesus selbst, die uns erfüllt hat. Und diese Liebe können wir dann auch wieder weitergeben an andere.
Es ist mir ganz wichtig, wenn wir jetzt dieses bekannte Gleichnis gleich miteinander betrachten: Wir können es nämlich völlig falsch auslegen. Was muss ich denn tun? Es geht hier um diese enge Beziehung zu Jesus.
Ich weiß mich unendlich geliebt, ohne jede Vorleistung. Ich will ganz nah bei Jesus sein. Ich weiß, ich bin ein Geschöpf Gottes, ich bin Kind Gottes, und ich werde geprägt von ihm, ich werde verändert von ihm, und er wirkt durch mich.
Also der Pharisäer wollte wissen: Was muss ich jetzt tun? Und Jesus will ihm eigentlich sagen: Du, es steht etwas ganz anderes hier auf dem Spiel. Nicht du musst etwas beweisen, sondern ich will, dass du diese Liebesbeziehung zu Gott hast.
Er antwortet, und Jesus sagt einfach nur zu ihm: „Und jetzt tun!“
Die Frage nach dem Nächsten und die Herausforderung der Verantwortung
Dieser Pharisäer will Jesus jetzt provozieren und fragt: „Aber wer ist denn mein Nächster? Sag mir doch, welchen Menschen soll ich lieben, wem soll ich Gutes tun, für wen bin ich verantwortlich?“
Habt ihr euch diese Frage auch schon gestellt? Ich stelle sie mir fast jeden Tag. Herr, wen legst du mir gerade vor die Füße? Für wen soll ich da sein? Was ist mein Auftrag?
Manchmal werde ich einfach überwältigt von den Anfragen und Aufgaben, die da sind. Es ist eine große Fülle, und ich denke, ich schaffe das gar nicht alles. Da ist meine Familie, und gerade gibt es Krankheitsnot, da denke ich, ich müsste da sein.
In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die emotional leiden und keine Perspektive haben. Sie brauchen viel Zeit, damit ich sie begleite, ihnen zuhöre und einfach für sie da bin. Wem soll ich dienen?
Andere in meinem Bekanntenkreis leiden furchtbar unter Beziehungsstress und stehen kurz vor einer Trennung. Ist es auch meine Aufgabe, für sie da zu sein? Muss ich mich auch dort einbringen?
Ihr kennt das alle in der Gemeinde: Es gibt immer Mitarbeitermangel. Man könnte im Putzteam helfen, im Moderationsteam, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder im Musikteam. Ist das meine Aufgabe?
Dann schaue ich in die Nachrichten und denke: Liebe Zeit, da ist so viel Not in der Welt. Ich müsste doch überall mit anpacken. Es macht mich betroffen, wenn ich sehe, wie viele Frauen und Mädchen in Afghanistan nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Da muss man sich doch einsetzen, Gerechtigkeit schaffen. Ich müsste etwas tun.
Wir sehen die Bilder aus der Ukraine, diesen Krieg, diese Not. Vielleicht kennt ihr auch Flüchtlinge in eurer Umgebung. Das sind Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Es reicht nicht, ihnen nur eine Wohnung zu besorgen, damit sie irgendwo sein können. Sie brauchen viel, viel mehr – sie brauchen Zeit.
Dann denke ich manchmal: Ich bin überfordert, so viele Ansprüche. Wem soll ich jetzt gerecht werden? Und dann geht es mir manchmal so – ich bekenne es –, dass ich völlig dichtmache und denke: Ich mache jetzt meine Arbeit und abends kann ich nicht mehr. Ich kümmere mich um niemanden mehr. Ich brauche auch Zeit für mich, ich muss wieder auftanken.
Wer ist mein Nächster? Für wen bin ich verantwortlich? Wo schickt Gott mich hin? Manchmal ist das gar nicht so einfach. Wir werden gleich noch einmal darauf zurückkommen.
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter als Herausforderung zum Handeln
Jesus erzählt das ganz bekannte Gleichnis, das viele auswendig kennen. Ein Mann ist unterwegs. Interessanterweise beschreibt Jesus diesen Mann, der unter die Räuber fällt, überhaupt nicht. Wir wissen nicht, woher er genau kam, was sein Hintergrund war, wer seine Familie ist. War er arm oder reich? War er Jude, Samariter oder Ausländer? War er ein anerkannter oder verachteter Mensch?
Ich glaube, Jesus wählt ganz bewusst diese undefinierte Identität, um zu sagen: Es könnte jeder x-beliebige Mensch sein. Ein Mensch, zu dem ich eine Beziehung habe oder zu dem ich keine Beziehung habe – es könnte jeder Mensch sein.
Dieser Mann war unterwegs, vermutlich von Jerusalem nach Jericho. Diese Straße war die Haupthandelsstraße zwischen Afrika und Asien. Dort kamen viele Geschäftsleute vorbei. Die Straße war beladen mit vielen Gütern und deshalb ein beliebter Ort für Räuber, die diese reichen Leute ausbeuten konnten.
Die Strecke führte durch viel Geröll, Schluchten, Felsen und auch Wüste. Sie war sehr unübersichtlich, weshalb es für die Räuber relativ leicht war, Menschen zu überfallen. Der Überfall selbst wird kurz und präzise geschildert: Sie nehmen ihm die Kleider, sein Geld, verprügeln ihn und lassen ihn halbtot am Straßenrand liegen.
Interessant ist, dass die Räuber, obwohl sie in der Überzahl waren und nicht mit Gegenwehr rechnen mussten, beschlossen, es nicht nur beim Ausrauben zu belassen. Sie schlugen ihn so heftig, dass er halbtot liegen blieb. Der Mann hatte keine Überlebenschance dort. Nach zwei, drei Stunden wäre er verdurstet. Seine Wunden bluteten, und er war auf Hilfe von außen angewiesen.
Ich dachte, der Mann hat nicht nur seinen Besitz verloren, sondern auch seine Würde. Ihm wurden die Kleider vom Leib gerissen, er lag vermutlich halb nackt da und konnte nichts tun. Schrecklich!
Doch solche Menschen kennen wir ja auch heute: Menschen, die ihre Würde verloren haben, die vielleicht nicht verbluten, aber am Straßenrand liegen. Menschen, die auf der Flucht sind. Wir alle haben die Bilder vor Augen: Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, die geschlagen wurden, die nichts haben und keine Würde mehr besitzen. Auch viele Frauen aus der Ukraine, von denen viele unterwegs vergewaltigt wurden. Was macht es mit einer Frau, wenn sie vergewaltigt wurde?
Diese Menschen haben wir auch vor Augen, wenn auch nicht direkt, so wie die Menschen damals in Jesu Zeit. Die kannten diese Strecke genau und wussten, was Jesus meinte. Aber auch wir kennen solche Menschen aus den Medien, und vielleicht haben wir sie auch um uns herum. In euren Schulklassen sind solche Menschen.
Jetzt erzählt Jesus von drei Männern, die an diesem Unfallort vorbeikommen. Interessanterweise beginnt der Satz bei allen dreien genau gleich: „Er sah den Verletzten.“ Es ist die gleiche Ausgangssituation für die drei Männer – der Schriftgelehrte, der Levit und der Samariter – die vorbeikommen. Sie sehen genau das Gleiche, treffen aber völlig unterschiedliche Entscheidungen.
Der erste Mann ist ein jüdischer Priester. Er gehörte zur obersten Schicht der Gesellschaft, der Elite des Volkes. Heute könnte man sagen, er war so etwas wie Theologe und Jurist in einem. Er wusste, was Recht ist, und kannte das Wort Gottes.
Doch er geht nicht nur vorbei, sondern wechselt sogar die Straßenseite. Er geht einige Meter weiter weg, nur um nicht nahe beim Verletzten zu sein. Wahrscheinlich kam er gerade vom Tempel, wo er seinen Dienst verrichtet hatte. Damals in Israel war es so eingerichtet, dass Tempeldiener und Pharisäer einmal im Jahr für zwei Wochen Dienst im Tempel hatten. Danach gingen sie zurück zu ihren Familien, vermutlich auch nach Jericho.
Er weicht dem Verletzten aus.
Die gleiche Reaktion lesen wir auch beim Levit. Er kommt vorbei und macht sich ebenfalls auf die andere Seite. Warum hatten die beiden Angst, sich zu verunreinigen?
Gut, sie kamen vom Tempeldienst. Auf dem Weg nach Jerusalem hätte der Kontakt mit einem Toten den Dienst im Tempel unmöglich gemacht. Aber jetzt gingen sie nach Hause. Trotzdem war dieses Denken tief in ihnen verankert: „Ich darf mich nicht verunreinigen.“
Oder sah der Levit in dem Verletzten vielleicht einen Samariter oder Ausländer? Die Gesetzeslehrer hatten im Alten Testament das Gebot, sich nicht mit Ausländern zu verunreinigen. Das war so tief in ihnen drin, dass sie dachten: „Nein, das mache ich niemals.“
Oder hatten sie Angst, selbst Opfer zu werden? Vielleicht waren die Räuber noch in der Nähe versteckt und hätten sie ebenfalls überfallen können. Oder war der Levit einfach nur müde von seinem zweiwöchigen Dienst? Er wollte nur noch nach Hause, hatte andere Pläne, wurde von seiner Familie erwartet.
Es gibt eine lange Liste von plausiblen und weniger plausiblen Gründen, warum sie nicht halfen. Aber ehrlich, kennen wir das nicht auch?
Ein einfaches Beispiel: Ich fahre auf der Autobahn und sehe rechts ein Auto stehen. Daneben steht eine Person in einer gelben Weste. Im Bruchteil einer Sekunde überlege ich, was passiert sein könnte. Hat sie einen Platten? Einen Motorschaden?
Wäre ich in Afrika, würde ich vielleicht denken: „Das ist eine Falle, wenn ich anhalte, werde ich ausgeraubt.“ Das kommt dort vor. Aber in Deutschland ist das eher nicht der Fall.
Was mache ich also? Wenn ich mich nicht sofort entscheide, fahre ich vorbei. Und ehrlich gesagt, fahre ich meistens vorbei. Ich habe mein Programm, muss in einer halben Stunde irgendwo sein und kann nicht anhalten.
Dabei denke ich oft: Ich bin kein Experte, ich kann dem Auto nicht helfen. Es gibt viele andere auf der Autobahn, die anhalten könnten. Wir haben immer unsere Ausreden. Wenn wir uns nicht sofort entscheiden, helfen wir nicht.
Manchmal würde es der Person aber schon helfen, wenn jemand anhält und ein Telefonat für sie übernimmt, um Hilfe zu holen.
Wir sehen oft die Not am Wegesrand und reagieren nicht. Wir verurteilen den Levit und den Schriftgelehrten: Wie konnten sie den Mann einfach liegen lassen? Es ist leicht, sie zu verurteilen.
Aber sind wir wirklich so viel besser? Wenn es einen Notfall gibt, passt das nie in unseren Zeitplan. Wir haben es nicht eingeplant. Wir müssen unseren normalen Dienst unterbrechen. Wir sehen die Not und fahren weiter.
Persönliche Erfahrungen mit der Herausforderung zum Helfen
Als ich 2020 nach Frankreich zog, war geplant, dass ich vor meiner Ausreise mit einer Kollegin zusammenarbeiten sollte. Unser Einsatzort war ein Brennpunktviertel in einer Stadt, in der 80 verschiedene Nationen lebten. Die Mehrheit der Bewohner waren Muslime, und die Stadt hatte einen sehr schlechten Ruf. Sie tauchte immer wieder in den Medien auf, wurde als sozialer Brennpunkt gebrandmarkt und als islamistische Hochburg bezeichnet. Man wusste, dass über sechzig Dschihadisten aus dieser Stadt stammten und später in Syrien oder anderswo für den Dschihad vorbereitet wurden.
Ich zog nach Frankreich und wohnte zunächst 20 Kilometer außerhalb dieser Stadt, da ich erst eine Wohnung suchen musste. Die Stadt hatte 35.000 Einwohner. Immer wenn ich mit Nachbarn oder Leuten aus der Gemeinde ins Gespräch kam, wurde ich gefragt: „Ach, du bist neu hier, was machst du?“ Ich erzählte, dass ich in diese Stadt gehen würde. Daraufhin erntete ich oft die Reaktion: „Was, du willst in diese Stadt gehen? Viel zu gefährlich! Was dort alles passiert, die Leute sind unfreundlich, es ist viel zu laut, viel zu fremd, das hat nichts mit uns zu tun, es ist überhaupt nicht schön.“
Außerdem sagten sie: „Unsere Gemeinden hier in Frankreich sind auch ganz klein. Du kannst auch bei uns mithelfen, auch dort brauchen wir Unterstützung. Es gibt auch dort Arbeit für dich.“ Was sollte ich tun? Wir hatten geplant, in dieser kleinen Stadt durch den Aufbau von Beziehungen und Freundschaften mit den Menschen anzufangen. Wir wollten gemeinsam in der Bibel lesen und dann eine Hausgemeinde gründen.
In der Stadt selbst gab es eine katholische Kirche und zahlreiche kleine Moscheen. Außerdem stand dort eine riesige Moschee, in der 2.000 Menschen Platz hatten. Sie war die Moschee für die ganze Region. Daneben gab es viele Gebetsstuben, also islamische Gebetshäuser.
Die Frage war: Welchen Gedanken sollten wir Raum geben? Der Angst vor dieser Stadt, die als sozialer Brennpunkt gilt und als gefährlich beschrieben wird? Den Schwierigkeiten, die vielleicht auf uns zukommen? Oder dem Gedanken: Es gibt ja eine andere Option. Ich kann einen sinnvollen Dienst in der französischen Gemeinde außerhalb der Stadt tun, auch dort werde ich gebraucht und willkommen geheißen. Oder dem Gedanken: Hier leben 35.000 Menschen, die nichts von der Liebe Gottes wissen, die kein christliches Zeugnis haben. Diese Menschen brauchen jemanden, der ihnen zeigt, dass Jesus sie liebt. Und nicht nur das sagt, sondern es lebt, indem er sein Haus und sein Herz öffnet.
Ich wollte gerade in so einem Brennpunkt arbeiten, wo die geistliche, soziale und persönliche Not so groß ist. Tatsächlich fand ich eine Wohnung und zog in ein sehr einfaches Stadtviertel. Ich kann euch sagen: In meiner Wohnung war es immer sehr laut. Man hörte ständig Streit von rechts und links, Leute, die aufeinander einschlugen. Es war schlimm, aber es war eine persönliche Not, und ich wusste, diesen Menschen konnte ich begegnen.
Ganz anders war es, wenn ich mit den Frauen sprach, Zeit für sie hatte und ihnen Liebe entgegenbrachte. Ich hörte zu, wo ihre Not lag. So konnte ich ganz tiefe Freundschaften knüpfen. Nebenan wohnte eine türkische Familie, die mich in ihre Familie aufnahm. Ich weiß nicht, wie oft sie mir Essen vorbeibrachten. Wir waren oft zusammen unterwegs, und ich konnte immer wieder mit ihnen beten und biblische Geschichten erzählen.
Ich erlebte, wie vor ihrer Wohnungstür immer wieder Tierkadaver lagen – kleine Vögel oder Ähnliches. Das war ein Zeichen dafür, dass eine andere Familie sie verflucht hatte. Es war ein Symbol für reinen Okkultismus und Dunkelheit. Gerade in eine solche Situation müssen wir das Licht des Evangeliums bringen. Wenn wir Christen uns immer nur zurückziehen, wie sollen diese Menschen von Jesus hören?
Es war auch eine algerische Familie, die sich sehr um mich kümmerte. Sie halfen mir, eine Wohnung zu finden, und gaben mir Kontakte. Eine marokkanische Frau sagte einmal: „Ich war gerade beim Rathaus, und dort gibt es eine Stellenausschreibung. Du hast doch früher mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Sie suchen jemanden, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Willst du dich nicht bewerben?“ So konnte ich auch dort tätig sein.
Sehen wir die Not, die vor Ort ist? Sind wir bereit, trotz aller Widerstände und Hindernisse dorthin zu gehen? Der Samariter, von dem wir im Text lesen, war bereit, dorthin zu gehen. Er war ein völlig verachteter Mensch. Die Juden, die diese Geschichte hörten, sahen in den Samaritern nur das Schlechte. Die Samariter waren ein Mischvolk, das fremde Götter und gleichzeitig den Gott Israels anbetete. Für die Juden war das etwas ganz Schreckliches, und deshalb mieden sie jeden Kontakt.
Sie dachten, weil die Samariter so schlechte Menschen seien, könnten sie auch niemals etwas Gutes tun. Doch gerade so einen Mann stellt Jesus als Beispiel hin. Von ihm lesen wir, dass er, als er den Verletzten sah, innerlich bewegt war. Im griechischen Text heißt es ganz wörtlich, er war im Innersten existenziell betroffen. Für ihn war das eine Herzenssache, keine bloße Pflichterfüllung.
Er ging nicht erst zu dem Verletzten hin und fragte: „Bist du einer von uns oder vom Feind? Was gibst du mir dafür?“ Er handelte einfach so, wie man es eigentlich von einem Menschen erwartet, der Erste Hilfe leistet. Das ist keine bloße Pflicht, sondern echte Nächstenliebe.
Was macht er? Er steigt von seinem Reittier, vermutlich einem Esel, herunter. Ich dachte dabei: Er steigt von seinem hohen Ross herunter. Manchmal denken wir, wie gut wir sind und was wir alles können. Doch wir müssen heruntersteigen und uns auf Augenhöhe mit den Menschen begeben, denen wir dienen wollen.
Er kniet sich nieder und holt Öl und Wein heraus, um die Wunden zu verbinden. Vermutlich war dieser Samariter ein Geschäftsmann, der Öl und Wein verkaufte. Das war keine minderwertige Ware. Öl und Wein galten als die besten Mittel zur Wundversorgung.
Er verband die Wunden. Damals gab es keine Binden, und er hatte auch keine dabei. Deshalb musste er ein Stück Stoff zerreißen, das er bei sich hatte. Vielleicht war es ein besserer Stoff, und er verband damit die Wunden. Er machte sich schmutzig, aber er gab einfach das, was er hatte – nicht mehr und nicht weniger.
Was hat Gott dir gegeben? Was hast du? Was kannst du Gott anvertrauen? Der Samariter war bereit, die zweite Meile mitzugehen. Er führte den Mann zu einer Herberge, setzte ihn auf sein Reittier, und er selbst ging zu Fuß nebenher. Das kostete ihn Zeit und Geld.
Er ging zum Wirt und ließ ihm zwei Tagelöhne da, so viel wie ein Arbeiter an einem Tag verdiente. Das war kein kleiner Betrag, sondern eine erhebliche Summe. Dabei setzte er sich auch dem Risiko aus, selbst überfallen zu werden.
Was mir hier gefällt: Er bindet andere in dieses Hilfsprojekt mit ein. Er leistet Erste Hilfe, geht die zweite Meile mit und bezieht andere mit ein. Wir müssen nicht immer die großen Helden sein, sondern können andere einladen, im Team zusammenzuarbeiten.
Was hat der Samariter davon? Wer wertschätzt seinen Dienst? Niemand. Die Juden sagen: „Das ist unser Erzfeind, es interessiert uns nicht, was er tut.“ Die Samariter denken: „Wie blöd bist du denn, im Feindesland jemandem zu helfen?“ Der Wirt wird dafür bezahlt, die Pflege weiterzuführen, und der Schwerverletzte kann vermutlich noch gar nicht danken, weil er so schwer verletzt ist.
Der Samariter tut es nicht, um etwas zu bekommen, sondern aus Liebe.
Beispiele gelebter Nächstenliebe in der Mission
Wer sind die Nächsten um uns herum? Ich möchte euch ein Beispiel von Hanna und Paul erzählen. Sie arbeiten in Zentralasien. Aus Sicherheitsgründen habe ich ihre Namen verändert. Sie sind Missionare von uns.
Dieses Jahr sind sie bereits seit 30 Jahren dort in Zentralasien. Hanna hat eine tolle Arbeit gemacht, und Paul war theologischer Lehrer. Hanna kümmerte sich um Kinder, hielt Kinderstunden, bildete Kindermitarbeiter aus und leitete viele Freizeiten und Camps. Sie haben dort eine wichtige und gute Aufgabe erfüllt.
Sie waren schon über zwanzig Jahre im Land, als Gott ihnen plötzlich eine Personengruppe in ihrem Land zeigte, die völlig unerreicht ist vom Evangelium. Diese Gruppe lebt am Rande der Gesellschaft, ähnlich wie der Verwundete am Wegesrand, der völlig übersehen wird. Es handelt sich um die Volksgruppe der Gehörlosen.
Hier in Deutschland wird einiges für Gehörlose getan, wenn auch noch nicht genug. Aber in diesem zentralasiatischen Land leben die Gehörlosen wirklich am Rand der Gesellschaft. Sie können meistens auch nicht sprechen, weil sie nie etwas gehört haben. Es gibt keine Sonderschulen für sie, sie laufen einfach nebenher. Sie können weder lesen noch schreiben und haben keine Chance, einen ordentlichen Beruf zu erlernen.
In den Familien werden sie an den Rand gedrängt. Es sind Menschen, die nie Liebe erfahren haben. Wir können uns vorstellen, wie Menschen reagieren, die nie geliebt wurden: Sie werden selbst sehr hart. Paul und Hanna sagen sich, dass sie unter diesen Gehörlosen arbeiten möchten.
Paul und Hanna sind keine Überflieger, was das Sprachenlernen betrifft. Sie hatten Russisch gelernt, und jetzt mussten sie auch noch die russische Gebärdensprache lernen – gar nicht einfach. Sie waren keine Experten, keine Hörakustiker oder Ohrenärzte, aber sie sagten: „Was wir brauchen, setzen wir hier ein. Und was wir haben, setzen wir hier ein. Gott wird uns befähigen.“
So begannen sie, ihr Leben mit den Gehörlosen zu teilen, luden sie zu sich ein und unterhielten sich mit ihnen. Es entstand eine Gemeinde, in der das Evangelium in Gebärdensprache weitergegeben wurde.
Die beiden können oft nicht viel Dank und Anerkennung erwarten. Sie geben viel Liebe weiter und bekommen erst einmal Widerstand zu spüren. Doch langsam öffnen sich einzelne Menschen. Sie kümmern sich auch um die Kinder der Gehörlosen. Diese Kinder können sprechen, sind aber oft sehr laut. Warum? Sie versuchen, sich zuhause Gehör zu verschaffen, doch die Eltern hören ja nichts. Die Kinder denken: Je lauter ich schreie, desto besser hören mich meine Eltern. Diese Kinder haben oft keine Disziplin.
Um diese Kinder kümmern sich Paul und Hanna mit großer Liebe.
Was tun wir? Sehen wir die Not um uns herum, auch wenn wir schon lange an unserem Ort wohnen und unsere Gemeinde kennen? Wissen wir, wo es Aufgaben gibt? Darf Jesus uns die Augen öffnen für Menschen, die keinen Zugang zum Evangelium haben? Darf Jesus uns die Augen öffnen für diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen?
Bist du bereit, erste Hilfe zu leisten und die zweite Meile mitzugehen?
Die Herausforderung, auch über die eigene Welt hinaus Nächstenliebe zu leben
Dann gibt es noch diese sogenannte dritte Welt. Vielleicht fragt ihr euch, was das eigentlich bedeutet. Dieser Begriff wird heute kaum noch verwendet. Er stammt aus der Zeit nach dem Kalten Krieg, als man die Welt in die Erste und Zweite Welt eingeteilt hatte. Die Dritte Welt bezeichnete damals all jene Länder, die keinem der beiden Blöcke angehörten.
Heutzutage wird der Begriff „Dritte Welt“ oft mit minderwertigen oder unterentwickelten Ländern assoziiert. Es sind Orte, an denen die Menschen nicht auf dem gleichen Lebensstandard leben wie wir. Deshalb habe ich „Dritte Welt“ hier als Synonym für Menschen gewählt, die außerhalb unseres Systems leben, also außerhalb unseres Erfahrungsbereichs.
Sind wir bereit, auch dorthin zu gehen und Menschen dort zu lieben? Gott liebt uns bedingungslos. Sind wir bereit, diese Liebe weiterzugeben – auch an Menschen, die nicht zu unserer Welt gehören?
Das Gleichnis endet mit dieser Frage: Wem kann ich Nächster sein? Ich wünsche uns und bete dafür, dass Gott uns die Augen öffnet für die Menschen, die er liebt und die er durch uns, durch dich, lieben möchte. Lass sie dir zeigen.
