Einleitung: Die Sehnsucht nach Gewissheit in Ehe und Familie
Solche Probleme sollte man haben: Andachtsbuch oder Losungsbuch. Wenn das die Grundkonflikte unserer Familien sind, dann wäre das Paradies nicht mehr weit entfernt. Eine wunderschöne Szene!
Vielen Dank euch für dieses tolle Anspiel, für diesen Humor und für diese Selbstironie. Wenn wir heute über Ehe und Familie sprechen, dann tun wir das, weil wir in tiefster Seele erschüttert sind und weil uns fundamentale Gewissheiten abhandengekommen sind.
Es geht in unseren Familien, wenn wir ehrlich sind, nicht nur um Luxusprobleme wie die Frage, ob man aus einem Losungsbuch eine Losung liest oder ein Andachtsbuch nimmt. Wir haben fundamentale Fragen zu beantworten.
Uns ist im Blick auf Ehe und Familie die Gewissheit über grundlegende Dinge abhandengekommen. Dieser Gewissheitsverlust hängt damit zusammen, dass wir die Gewissheit über die Grundlagen unseres Menschseins verloren haben – Gewissheiten darüber, wer wir sind, Gewissheiten über unsere Identität.
Meine These ist, dass unsere Krise im Hinblick auf Ehe und Familie elementar damit zu tun hat, dass wir nicht mehr wissen, wer wir Menschen sind. Wir wissen nicht mehr, was unsere Bestimmung auf dieser Welt ist, wozu wir berufen sind.
Für die wesentlichen Beziehungen meines Lebens muss ich das Wesentliche über mich selbst wissen. Ich muss das Wesentliche über mich, von mir selbst und vom Nächsten kennen und begreifen. Ich muss die Grundberufung meines Lebens erkennen und verstehen.
Wer seine Berufung nicht kennt, der kennt auch den Sinn seines Lebens nicht und findet das Ziel seines Lebens nicht. Ich muss wissen, wer ich bin und was meine Identität ist, um meinen Weg finden zu können – und um den Weg mit den Menschen, mit denen ich unterwegs bin, finden zu können.
Die Notwendigkeit einer neuen Gewissheit über die Lebensberufung
Das Erste, was wir für unsere Ehen und Familien brauchen, ist eine neue Gewissheit. Das ist mein erster Punkt, den ich hier besonders betonen möchte. Wir brauchen eine neue Gewissheit über die Berufung unseres Lebens.
In unserer Lebensheiler Hochschule haben wir in jedem Semester eine Andachtsreihe. Diese Reihe behandelt entweder ein biblisches Buch oder ein biblisches Thema. In diesem Semester beschäftigen wir uns mit den Berufungen Gottes. Lauter Berufungstexte sind das Thema unserer Andachten. Dabei behandeln wir die Berufungsgeschichten aus der Bibel, zum Beispiel von Abraham, Mose, Jeremia, Paulus, Petrus und anderen. Es geht immer um die geistliche Berufung eines einzelnen, individuellen Menschen. Ein bestimmter Mensch soll in Gottes Geschichte eine ganz bestimmte Rolle und ein bestimmtes Amt übernehmen.
Die Frage nach der ganz individuellen Berufung meines Lebens ist auch das Topthema junger Menschen und das wichtigste Thema unter unseren Studierenden. Ein junger Mensch, der heute in Deutschland Abitur macht, hat 23.000 Berufsmöglichkeiten – 23.000 Chancen, was er werden kann. Herzlichen Glückwunsch, könnte man sagen. Das Problem ist aber, dass er sich nur für eine einzige entscheiden kann.
Dieses Problem wird noch verschärft durch die Tatsache, dass ein 19-Jähriger oft weder weiß, wer er ist, noch was er will, noch was er kann – und auch nicht, was er soll. Vor dieser Situation steht er: Er soll sich zwischen 23.000 Chancen entscheiden. Das ist die große Krise junger Menschen.
Deshalb ist die Frage „Was ist die Berufung meines Lebens? Was ist die Bestimmung meines Lebens?“ eine ganz elementare Frage. Wie soll ich vorgehen? Was soll ich machen? Und wie finde ich heraus, was Gott von mir will? Es geht immer um einen individuellen Weg. Jeder hätte gern so eine klare Stimme aus dem Himmel, wie sie Abraham, Mose, Gideon oder Jeremia gehört haben. Nur wir hören diese Stimme so nicht.
Die erste und grundlegende Berufung des Menschen in der Bibel
Nun ist aber eines heute Morgen ganz entscheidend und sehr wichtig: Alle diese geistlichen Berufungsgeschichten von Abraham, Mose, Jeremia und so weiter stehen nicht am Anfang der Bibel. Die erste Berufungsgeschichte der Bibel ist keine individuelle Berufung, sondern eine allgemeine, eine kollektive Berufung.
Sie steht im ersten Kapitel der Bibel. Das erste Wort überhaupt, das Gott an Menschen richtet, ist eine Berufung. In 1. Mose 1,27 heißt es: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde.“
Bevor es um Heilsgeschichte geht, bevor es um Erlösung geht, bevor es um Jesus geht, bevor es um Gemeinde geht und bevor es um Mission geht, ja, bevor es um die vielen individuellen Berufungen in der Bibel geht, steht eine ganz allgemeine Berufung im Vordergrund. Es geht um das Geschlecht, um Ehe, um Sex, um Familie – und dann auch um Arbeit.
Das sind die ersten Berufungen, die uns Menschen in der Bibel widerfahren. Es ist die Grundberufung von uns Menschen und zugleich die Grundberufung von uns Christen – weil wir Menschen sind. Diese Grundberufung gibt unserem Leben einen tiefen Sinn, einen inneren Halt, eine Gewissheit, eine Bestimmung und eine Struktur.
Schon mein Geschlecht ist eine Bestimmung und eine Berufung Gottes. Wir merken an diesem schlichten Satz „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“, der über Jahrtausende eine Selbstverständlichkeit war, eine Binsenweisheit, eine Erfahrungsweisheit, dass er heute zum Problem geworden ist. Im Rahmen der Gender-Ideologie wird genau das bestritten: Dass unser Geschlecht eine Berufung ist. Dort wird es nur als ein Konstrukt gesehen, etwas Gemachtes, etwas Hergestelltes von uns Menschen.
Es gibt aber keine größere Verunsicherung eines Menschen, als die, wenn er nicht mehr weiß, welches Geschlecht er hat. Die Gewissheit über unser Geschlecht ist ein Lebensfundament von uns Menschen. Biblisch gesehen steht und fällt damit alles.
Wenn ich die Berufung habe, Mann zu sein, dann ist das ein Anspruch und eine Entlastung zugleich. Ich muss dann nämlich nur Mann sein; ich brauche nicht Frau zu sein – und umgekehrt. Mein Geschlecht ist eine Berufung, und diese gibt mir eine Identität. Die gegebene Identität wiederum gibt mir Lebensgewissheit und Lebenshalt.
Wir können diese Identität und diese Berufung nur zu unserem Schaden ignorieren. Wenn wir die Identität, zu der wir berufen sind, ignorieren, verlieren wir unsere Gewissheit.
Die Berufung zur Multiplikation und die Bedeutung von Ehe und Sexualität
Die nächste Berufung ist die zur Multiplikation: Wir sollen uns vermehren. Das ist die Berufung zu Ehe, zu einer aktiven Sexualität und zur Familie.
Weil Gott niemals beruft, ohne auch zu begaben, hat er uns diesen Sexualtrieb gegeben. Es sagt viel über uns aus, dass wir heute oft nur problemorientiert über Sexualität sprechen. Doch der Sexualtrieb ist nach dem Heiligen Geist die stärkste Kraft, die es in unserem Leben gibt. Nur der Heilige Geist ist noch stärker. Ansonsten ist der Sexualtrieb die stärkste Kraft in unserem Leben. Dabei handelt es sich um eine durch und durch positive Kraft, eine Schöpfungsgabe Gottes, einen Auftrag und eine Befreiung.
Diese Kraft ist stärker als unsere intellektuelle Kraft. Das Geheimnis der Sexualität liegt in der Erhaltung und Vermehrung des Lebens. Durch die Gabe der Sexualität werden wir zu Mitschöpfern, zu Mitschöpfern Gottes. Er adelt uns mit dieser Gabe, indem er uns teilhaben lässt an seinem Schöpfungswerk. Durch unsere Sexualität vermehrt Gott die Menschheit auf dieser Welt.
Wenn es keinen Drang und keine Sehnsüchte gäbe, gäbe es kein Leben und keine Zukunft. Damit wir uns an dieser Stelle richtig verstehen: Es ist wichtig zu betonen, dass es auch andere Lebensführungen und andere Lebensberufungen außerhalb von Ehe und Familie gibt. Jesus und Paulus verleihen der Ehelosigkeit durch ihre eigene Ehelosigkeit einen ganz besonderen Adel. Das war vorher so nicht denkbar.
Ohne diesen Sexualtrieb, ohne diese Sehnsucht gäbe es keine Zukunft. Hier stehen wir an der Quelle des Lebens. Die Ehelosigkeit ist genauso geadelt durch Jesus und Paulus – ein Adel, der bis dahin so nicht vorstellbar war. Dennoch greifen weder Jesus noch Paulus die schöpferische Grundberufung unseres Lebens an.
Wir sind als Mann und Frau zu einer polaren, das heißt zu einer spannungsvoll entgegengesetzten Beziehung und Schöpfungsgemeinschaft berufen. Wenn Ehe, Sexualität und Familie die Grundberufung unseres Lebens sind, dann können wir sie nicht als Nebensache behandeln.
Das Problem in unseren Tagen ist genau das: Wir behandeln diese Grundberufung als Nebensache. Weil wir die Grundberufung dieses Lebens vergessen haben, haben wir auch vergessen, dass wir für sie mehr Zeit, mehr Kraft und mehr Aufmerksamkeit brauchen und investieren müssen als für alles andere.
Die Priorität von Ehe und Familie im Leben
Wir investieren heute den größten Teil unseres Lebens in unsere Ausbildung, in ein Studium, in eine Berufskarriere und in vieles andere. Dabei wundern wir uns manchmal, dass zwar die Karriere gut läuft, die Familie aber nicht mehr funktioniert.
Wenn diese Grundberufungen unseres Lebens sind, müssen wir ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken. Wir sollten ihnen mehr Kraft und mehr Zeit widmen, wenn wir wollen, dass das Ganze gut funktioniert und Glück vermittelt.
In Ehe und Familie findet die eigentliche Lebensarbeit statt. Dort geschieht auch die eigentliche Zukunftsarbeit. Kinder zu bekommen und sie gesund zu erziehen, ist die wichtigste Zukunftsarbeit, die es gibt. Hier arbeiten wir am Leben, am Sinn und auch am Glück.
In unseren Laboren und Forschungseinrichtungen können wir forschen, was wir wollen – nichts davon wird mehr Zukunft schaffen als die Zeugung und Erziehung von Kindern. Und nichts schafft auf Dauer mehr Glück und Zufriedenheit als Kinder.
Was uns langfristig glücklich macht, sind nicht die großen beruflichen Erfolge. Diese machen nur kurzfristig glücklich. Dauerhaft und nachhaltig glücklich machen uns tragfähige und lebenslange Beziehungen.
Wenn Sie in Ihrem Beruf große Erfolge erleben, vielleicht einen großen Deal abgeschlossen oder einen riesigen geschäftlichen Erfolg erzielt haben, aber abends nach Hause kommen und Ihr Ehepartner pflaumt Sie nur an oder macht Ihnen Vorwürfe, wie schlecht Sie ihn behandeln, dann sind Sie nicht glücklich. Dann ist der ganze geschäftliche Erfolg nur ein schaler Geschmack.
Weil Gott das weiß, ist die erste Berufung des Menschen die Berufung zu Ehe, Sexualität und Familie.
Ein Blickwinkel, der immer viel Wahrheit enthält, ist der Rückblick auf unser Leben. Wenn ich einmal tot bin, was wird dann von meinem Leben bleiben? Vielleicht wird man sich noch ein paar Jahre an meine Arbeit erinnern, an die Jahre im Bengelhaus oder in Lebenshell. Vielleicht findet man irgendwo ein Buch von mir in einer Bibliothek, und vielleicht wird dieses Buch irgendwann in einem Literaturverzeichnis erwähnt. Das war es aber auch.
Was wirklich Bedeutung haben wird über meinen Tod hinaus, sind meine Kinder und das Leben, das ich mit meiner Frau auf den Weg gebracht habe. Diese Kinder werden dafür sorgen, dass das Leben weitergeht. Meine Arbeit wird das nicht tun.
Wenn wir nach Sinn, Ziel und Glück des Lebens fragen, kommen wir an der allerersten Beauftragung, an der allerersten Berufung des Menschen nicht vorbei. Sie ist nicht der einzige Sinn, nicht das letzte Ziel und auch nicht das tiefste Glück. Aber sie ist ein ganz grundlegender Sinn, ein ganz grundlegendes Ziel und ein fundamentales Glück.
Übrigens sagen wir zu Recht, dass Gott keine Enkel hat. Es ist auch richtig, dass im Unterschied zur Gemeinde Ehe und Familie keine Zukunft in Gottes Ewigkeit haben werden. Doch die Erfahrung, die wir alle miteinander, vor allem im Pietismus, gemacht haben, hat uns eines gelehrt: Die Wertschätzung von Ehe und Familie sowie die Förderung einer guten Kinder- und Familienarbeit sind Gemeindeaufbaufaktor Nummer eins.
Ich würde, ohne eine Statistik zur Hand zu haben, kühn schätzen, dass mehr Menschen durch eine christliche Familie zum Glauben kommen als durch jede Evangelisation oder jeden Alphakurs.
Noch einmal: Wir können die geistlichen Ziele unseres Lebens nicht verwirklichen, wenn wir diese Grundberufung aus 1. Mose 1 ignorieren. Diese Grundberufung sollten wir niemals ignorieren und nicht unterschätzen.
Die Notwendigkeit korrigierter Erwartungen an Ehe und Familie
Jetzt kommt aber auch das andere. Ehe und Familie sind wichtig, aber wir dürfen sie nicht idealisieren oder überfordern. Wir dürfen sie nicht überhöhen. Das ist mein zweiter Punkt: Wir brauchen korrigierte Erwartungen. Wir brauchen korrigierte Erwartungen im Blick auf Ehe und Familie.
Die Familie, die wir in diesem Anspiel gesehen haben – nein, es war keine vollkommene Familie, aber sie war immer noch um Längen besser als all die Familien, die uns in der Bibel begegnen. Da streitet man sich um Losungsbuch oder Andachtsbuch – diese Probleme hätten die Erzväter im ersten Buch Mose gerne gehabt. So gut wie sämtliche Familienverhältnisse, von denen wir im Alten Testament Näheres erfahren, waren weit chaotischer und brutaler als alles, was Sie und ich kennen.
Die Therapeuten würden im Blick auf die Erzväterfamilien von Abraham, Isaak und Jakob heute von sogenannten dysfunktionalen Familien sprechen, also von schlecht funktionierenden Familien. In der ersten Familie ermordete der jüngere Sohn Kain den älteren Abel. Abraham gibt seine Frau als Schwester aus und verhökert sie an den ägyptischen Pharao. Seine Schwiegertochter Rebekka verbündet sich mit einem Sohn, Jakob, und mit ihm den eigenen Ehemann und den anderen Bruder übers Ohr zu hauen und über den Tisch zu ziehen.
Jakob wird seinerseits von seinem Schwiegervater Laban über den Tisch gezogen. Am Ende hat er zwei Ehefrauen, obwohl er nur eine wollte, und muss dafür vierzehn Jahre lang schuften. Joseph wird von seinen Brüdern um ein Haar ermordet und gnädigerweise nur in die Sklaverei verkauft.
Im ersten Buch Mose gab es massenhaft Arbeit für Familien- und Traumatherapeuten – eine Spielwiese für alle Therapeuten. Die Familien im ersten Buch Mose sind ein einziges Drama. Es fällt ja schon auf, wenn es ausnahmsweise mal gut geht in irgendeiner Ehe oder Familie.
Die Familie ist nicht nur im Alten Testament der erste Ort, wo am schwersten gesündigt wird. Ehe und Familie sind in der Bibel weit, weit weg von manchen romantischen Übertreibungen unserer Gegenwart. Dort werden diese Dinge sehr nüchtern geschildert.
Wenn wir ins Neue Testament schauen, dann haben Jesus und Paulus ganz auf eine eigene Familie verzichtet, und es gibt offen gesagt auch nicht allzu viele Texte zu diesem Thema. Obendrauf kommt, dass Ehe und Familie – ich habe es erwähnt – keine Fortsetzung in Gottes Ewigkeit finden werden. Dort wird es sie nicht mehr geben.
Aus biblischer Sicht sind Ehe und Familie ein Provisorium in dieser Weltzeit. Bis Jesus wiederkommt, sind diese Lebensformen ein Provisorium. Und sie sind vor allem eines nicht: Sie sind kein Heilsbringer. Die Ewigkeit und die Stillung unserer tiefsten Sehnsüchte finden wir nur bei Gott, nicht in der Familie.
Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Wenn wir von unseren Ehen und Familien die letzte Erfüllung unseres Lebens erwarten, dann überfordern wir Ehe und Familie. Woran unsere Ehen und Familien nicht selten leiden, ist diese Überfrachtung mit maßlosen Erwartungen – maßlose Erwartungen im Blick auf die Ehe, auf die Sexualität und auf das Familienleben.
Wir leben in einer Zeit, in der uns unser Ehepartner die Erfüllung des Lebens garantieren soll. Wir wollen, dass unser Ehepartner uns liebt, uns verehrt, immer guter Stimmung ist und bleibt, sexuell voll auf uns anspringt und ansonsten nicht zu viele Ansprüche an uns richtet. Das sind überzogene, maßlos überzogene Erwartungen.
Wenn wir unseren Ehepartner als Erfüllungsgaranten für unsere Lebensträume betrachten, dann machen wir ihn zu einem Götzen. Und wenn unsere Kinder unsere Lebensträume erfüllen sollen, dann machen wir sie auch zu kleinen Götzen. Wenn sie das werden sollen, was wir gerne geworden wären, dann wird Liebe zum Götzendienst.
Das letzte Ziel des Götzendienstes bin ja immer ich selber. Ich mache ein Bild letztlich von mir selber, das dann andere verwirklichen sollen. Ich schaffe mir meine Kinder zum Bilde. Dann suchen wir bei unseren Ehepartnern oder bei unseren Kindern etwas, was nur Gott geben kann. Unsere Ehepartner und Kinder sind aber nicht Gott, und ich übrigens auch nicht.
Je maßloser unsere Erwartungen werden, umso tragischer ist dann das Scheitern. Je höher die Erwartungen werden, umso weniger dürfen diese Erwartungen gebrochen werden. Das Scheitern wird zum großen No-Go des Lebens. Und gerade weil es so schlimm ist, gerade deshalb scheitern wir so oft.
Deshalb kommt es zu den großen Enttäuschungen über Ehepartner und Kinder, weil sie gar nicht alles erfüllen können, was wir an Erwartungen mitbringen. Wer von Ehe, Sex und Familie das tiefste Glück seines Lebens erwartet, der überfordert diese Dinge.
Gott hat diese Dinge nie dazu bestimmt, uns zu erlösen. Dazu hat er seinen Sohn gegeben, nicht diese Dinge. In dem Maße, wie wir unsere Erwartungen wieder auf ein menschliches Maß eindampfen, befreien wir unseren Ehepartner, unsere Kinder und uns selbst wieder zum Menschsein.
In dem Maße, wie wir wieder moderat, bescheiden und nüchtern werden, befreien wir unsere Beziehungen. Der Glaube an Jesus Christus ist nicht nur deshalb gut für unsere Ehen und Familien, weil in ihm die Kraft zur Vergebung und zum Neuanfang steckt, sondern weil wir in diesem Glauben die Erfüllung unserer tiefsten Sehnsüchte finden, die wir dann nicht mehr von unserem Ehepartner oder unseren Familien erwarten müssen.
Der Glaube hilft uns, den anderen so zu sehen, wie er ist, nicht so, wie wir ihn gern hätten. Durch den Glauben muss unser Ehepartner nicht mehr unser Götze sein. Er darf wieder Mensch werden – ein Mensch mit seinen Fehlern, mit seinen Grenzen, ein Mensch mit seinem Scheitern und Versagen. Das dürfen wir sein, weil es einen Herrn gibt, der all die Ideale und Sehnsüchte unseres Lebens stillen und erfüllen kann. Wir müssen es nicht mehr tun.
Und nicht nur das: Durch den Glauben bekommen wir wieder einen Blick dafür, dass Gott uns selbst durch unvollkommene Familien und Ehen segnen kann. Ich habe vorher von diesen biblischen Chaos-Ehen und Chaos-Familien erzählt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon mal aufgefallen ist: Selbst die Chaos-Familien des Alten Testaments, die Chaos-Familien dieser Erzväter, in denen unendlich viele Verletzungen und Verwundungen zur Tagesordnung zählen, wo es Mord und Totschlag, Ehebruch und Lügen ohne Ende gab – sogar diese werden von Gott gesegnet.
Sogar mit solchen eigentlich zerrütteten Familienverhältnissen macht Gott seine Geschichte. Selbst solche Familien, in denen eigentlich alles falsch läuft und kaputtgegangen ist, sind Teil seiner Geschichte. Man kann es auch andersherum ausdrücken: Es gibt keine Heilsgeschichte ohne diese Familien.
Gottes Geschichte besteht zunächst einmal aus lauter Familiengeschichten, so chaotisch sie auch gewesen sein mögen. Und all diese Chaosgeschichten gehören zum Stammbaum Jesu.
Die Realität der Familie Jesu und Gottes Segen trotz Chaos
Apropos Jesus: Selbst die Familie Jesu können wir hier nicht einfach ausklammern. Auch die Familienverhältnisse Jesu waren nicht das, was wir entspannt und harmonisch nennen würden.
Gott segnet diese Menschen in ihren Familien, mit ihren Familien und trotz ihrer Familien – trotz all der schlimmen Verletzungen, die es dort gegeben hat. Was ich sagen will: Egal, wie schwierig es bei Ihnen in Ihrer Ehe und Familie gerade sein mag und wie es auch aussehen mag, es kann nichts so schlimm und verkorkst sein, dass Gott nicht mehr segnen kann.
Wenn Sie zum Beispiel zu Tisch beten: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“ und sich dabei denken: „Also wenn ich Herr wäre, würde ich diese Einladung nicht annehmen“, dann seien Sie getrost. Jesus findet Ihre Familie nicht so peinlich, wie sie Ihnen vielleicht ist. Er setzt sich sogar bei Ihnen an den Tisch. Seine Kraft überwindet sogar das Chaos in Ihren Ehen und Familien.
Das möchte ich gerade auch den Alleinerziehenden sagen, denen, die mit einer zerbrochenen Ehe und Familiengeschichte dasitzen – bei denen es vielleicht noch andere Brüche im Leben gegeben hat. Die Gebrochenheit des Lebens und die Gebrochenheit unserer Beziehungen sind für Jesus kein Grund, nicht zu uns zu kommen. Im Gegenteil: Die Gebrochenheit unseres Lebens war für Jesus der Grund, zu kommen.
„Ich bin gekommen, um mein Volk von ihren Sünden zu erlösen.“ Die Gebrochenheit des Lebens ist der Urgrund, warum Jesus gekommen ist. Wenn Sie in gebrochenen Verhältnissen leben müssen, aus welchen Gründen auch immer, dann sind Sie der ideale Gastgeber für diesen Tischgenossen. Er wird kommen.
Als Gemeinden müssen wir das vielleicht noch ein bisschen besser lernen. Aber Jesus ist unser Chaos nicht peinlich. Und nicht nur das: Da, wo Jesus mit an den Tisch sitzt, da kann sich vieles zum Guten wenden, was heute noch nicht gut sein mag.
Die Bedeutung von ehrlicher Offenheit in Ehe und Familie
Es gibt nur eine Bedingung dafür, und das ist mein dritter Punkt: Wir brauchen wieder eine befreiende Ehrlichkeit.
Wir brauchen eine Ehrlichkeit, wie sie bei Hempels unterm Sofa herrscht. Dort gibt es Offenheit und Ehrlichkeit darüber, wie die Dinge wirklich sind. Wenn es etwas gibt, das ich im großen Zerbruch der vielen Ehen und Familien in den letzten fünfzig Jahren als echten Fortschritt betrachte, dann ist es die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der viele Menschen über ihre Familien und Ehen sprechen.
Das hat fast schon biblischen Charakter. Denn dort wird das Chaos, das Versagen, die Not und die Verletzung nicht kaschiert oder weggedrückt. Stattdessen wird es ausgesprochen, erzählt und beim Namen genannt – in aller ernüchternden Deutlichkeit.
Was christliche Ehen und Familien oft so unattraktiv macht, ist das zwanghafte Verheimlichen der Probleme, die eigentlich jeder sieht. Überall wird darüber geredet, jeder sieht es. Aber es gibt keinen Raum für Offenheit und Ehrlichkeit.
Das tiefste Problem von Schuld und Versagen ist nicht die Schuld und das Versagen an sich, sondern dass wir diese Dinge verstecken, verbergen und verheimlichen.
Es war nicht das einzige Mal, aber ich vergesse diese Frau nicht, die bei meiner Frau in unserem Wohnzimmer saß. Wir kannten uns schon lange, sie war alleine gekommen. Dann sagte sie: „Ich muss euch etwas Trauriges sagen. Ich lasse mich von meinem Mann scheiden, wir trennen uns.“
Sie erzählte von ihrer Enttäuschung, dass ihr Mann über zehn Jahre hinweg eine Sucht verborgen hatte. Seit zehn Jahren war er in einer Sucht gefangen und hatte es vor ihr verheimlicht.
Das Schlimme war nicht die Sucht. Das Schlimme war nicht das Versagen. Das Schlimme war nicht die Schuld. Das Schlimme war, dass er es zehn Jahre lang verborgen, versteckt und verheimlicht hatte.
Hätte er irgendwann gesagt: „Am Anfang, du Schatz, ich habe hier ein Problem“, dann hätte sie gesagt: „Probleme sind da, um gelöst zu werden. Ich helfe dir bei deinem Problem, ich helfe dir, mitzukämpfen, ich helfe dir, mitzustreiten.“
Dazu sind Ehen da: dass man gemeinsam die Nöte löst. Dazu brauchen wir uns in einer Ehe. Es war das Verstecken, das Verbergen und das Vertuschen, das wehtut.
Die Kraft der Vergebung durch ehrliche Beichte und Offenheit
Ich arbeite seit zwanzig Jahren mit jungen Menschen zusammen – ein echtes Privileg. Zehn Jahre war ich in Bengelhausen tätig, jetzt seit acht Jahren in Liebenzell. Dazu kommen noch Engagements bei Cefa, dem Landesverband, und vieles mehr. Es ist großartig, mit jungen Menschen arbeiten zu dürfen.
Zehn Jahre lang habe ich mit frommen jungen Menschen gearbeitet. Die Mehrzahl unserer Studierenden kommt aus sehr intakten Familien, oft aus wirklich großartigen Familien. Doch immer öfter blicken wir hinter eine fromme Fassade und entdecken Abgründe. Dort gibt es viel Heuchelei, immer mehr Sucht, zunehmende Gewalt und immer mehr Missbrauch.
Diese Probleme gedeihen besonders gut dort, wo Dinge versteckt und verborgen werden. Was Ehen und Familien die Luft abschnürt, sind nicht die Schuld, die Probleme oder das Versagen von Eheleuten, Eltern und Kindern. Es ist vielmehr das Vertuschen und Verheimlichen dieser Dinge.
Das Schlimmste daran ist, dass wir uns dadurch auch die Vergebung verwehren. Im Ersten Johannesbrief stehen die bekannten und berühmten Sätze: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, dann betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Übersetzt heißt das: Wenn wir sagen, wir haben perfekte Ehen und Familien, dann betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns, weil wir sie nicht haben.
Doch dann geht es weiter: „Wenn wir unsere Sünde bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ Übersetzt bedeutet das: Dann ist er treu und gerecht und kümmert sich wieder um die Erneuerung unserer Familien und Ehen.
Ehrlichkeit und Offenheit sind wie frische Luft für Ehen und Familien. Sie sind die Grundvoraussetzung für Vergebung, für Veränderung und für Zukunft.
Die Notwendigkeit von Beratung und Unterstützung in Ehe und Familie
Es ist schon ein bisschen merkwürdig: Wer heute einen Arbeitsplatz hat, ist sich darüber im Klaren, dass er oder sie sich ständig weiterbilden muss. Ob man es Coaching, Beratung oder Fortbildung nennt – wir brauchen das einfach. Unsere Arbeitswelt ist so komplex und schwierig geworden. Die Entwicklungen sind so rasend und schnell, dass wir uns ständig weiterbilden müssen. Wir brauchen immer wieder neue Tipps und Handwerkskniffe, um auf dem neuesten Stand zu bleiben.
Die beste Ausbildung oder das beste Studium helfen einem irgendwann nicht mehr weiter. Dann muss man nachrüsten. Wir oder unsere Arbeitgeber scheuen dabei keine Kosten und Mühen. Wir zücken locker den Geldbeutel und geben viel Geld aus, um uns auf dem Stand der Dinge zu halten und weiterhin gut arbeiten zu können. Wir tun das nicht nur, weil es etwas bringt, sondern weil es anders gar nicht mehr geht.
Der Punkt ist: Dasselbe gilt auch für Ehe und Familie. Auch dort sind die Dinge schwieriger und komplizierter geworden. Die Entwicklungen gehen auch hier immer schneller voran. Und auch in diesem Bereich sind wir mit unserem Latein immer öfter und immer schneller am Ende.
Doch wenn es um Ehe und Familie geht, sind Coaching, Beratung und Fortbildung – also das, was man früher Seelsorge nannte – immer noch ein Tabu. Das braucht man nur, wenn es ganz schlimm ist. So schlimm ist es bei uns noch nicht.
Dass wir Hilfe in unseren Beziehungen, Ehen und Familien brauchen, ist nicht mehr der Unfall des Lebens, sondern der Normalfall. Wenn wir an dieser Stelle unseren Eltern und Kindern etwas vormachen könnten, wäre das wirklich ein Fortschritt.
Meine Frau und ich hatten Krisen zu bewältigen. Über drei Jahre waren wir in einer Eheberatung, weil wir es alleine nicht mehr geschafft haben. Das ist der Normalfall des Lebens. Ich sage Ihnen eins: So etwas kann man überleben. So etwas bringt auch etwas.
Und für Schwaben eine ganz wichtige Zusatzinformation: Es ist viel billiger als eine Scheidung.
Die menschliche Bedürftigkeit nach Führung und Orientierung
Wir Menschen sind leitungsbedürftige Wesen. Wenn im Alten Testament in dem Psalm vom guten Hirten die Rede ist, der seine Schafe auf grüne Auen führt, dann sind wir die Schafe. Das bedeutet, wir sind orientierungsbedürftige Menschen.
Wenn Jesus der gute Hirte ist und wir gerne seine Schafe sein wollen, dann sind wir auf Leitung und Orientierung angewiesen. Wir brauchen es, dass man uns auf grüne Auen und auf den rechten Weg führt. Das gilt nicht nur im Beruf, sondern auch in unseren Ehen und Familien.
Wir finden die Wege oft nicht selbst. Es ist von Gott so gedacht, dass wir uns führen lassen, dass wir uns helfen lassen und dass wir Orientierung annehmen. Dafür gibt es Menschen, dafür gibt es Schwestern und Brüder.
Haben wir den Mut, es besser zu machen als diejenigen, die nie zulassen, dass sie sich beraten oder helfen lassen? Es geht darum, für unsere Seelen, unsere Seelen als Ehepaare und Familien, zu sorgen und diese Hilfe anzunehmen.
Zusammenfassung der drei zentralen Punkte
Es waren drei Dinge, die ich Ihnen heute Morgen sagen wollte.
Zunächst brauchen wir eine neue Gewissheit über die erste Berufung unseres Lebens. Diese Gewissheit betrifft die Tatsache, dass wir zu Ehe, Sexualität und Familie berufen sind. Das ist die Grundberufung unseres Lebens.
Außerdem brauchen wir korrigierte Erwartungen. Wir sollten Ehe und Familie sowie Ehepartner und Kinder nicht mit maßlosen Erwartungen überhöhen. Stattdessen gilt es, die Dinge wieder auf ein menschliches Maß zu reduzieren. Dadurch können wir uns befreien und wieder menschlich sein dürfen. Menschen sein dürfen mit all unseren Ecken und Kanten, mit unserem Versagen, unserem Scheitern und unseren Fehlern.
Schließlich brauchen wir eine befreiende Ehrlichkeit. Eine Ehrlichkeit, die die Demut wiederfindet, sich helfen zu lassen.
Vielen Dank fürs Zuhören. Amen.