Einführung in das Thema des Sehens Gottes
Wir wollen uns heute das Wort zurufen lassen, das als Jahreslosung über diesem neugeschenkten Jahr steht: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, aber der Herr sieht das Herz an.“
Welch ein Glück, liebe Gemeinde, dass Gott sieht! Das bewegt uns ja immer wieder, auch in diesen Tagen, im Blick auf Verantwortliche in unserer Welt. Sind sie denn alle blind?
Im Blick auf unsere Gesellschaft stehen wir moralisch, ökonomisch und politisch am Abgrund und streiten uns über das Dosenpfand. Haben wir noch alle?
Normal ist, dass wir Menschen blind sind. Selbst für engste Angehörige: In den letzten Tagen hat ein Vater zu mir gesagt, mit großem Kummer um seinen Sohn: „Habe ich es denn jahrelang nicht gesehen, jetzt doch sehen müssen, was sich da angedeutet hat.“
Wir Menschen sind normalerweise Leute mit verschlossenen Augen. Und Gott, der das Auge geschaffen hat, sollte er denn nichts sehen?
Gottes Sehen im Alten Testament
Jetzt sollten wir all das zusammentragen, was in der Bibel über das Schauen und Sehen Gottes steht – gerade für das neue Jahr des Herrn.
„Augen schauen alle Lande, dass er Stärke gebe denen, die von ganzem Herzen an ihm sind.“ Dabei geht es nicht darum, alles zu regeln oder überall die Sicherung zu sein. Vielmehr soll in einer verlorenen, gottlosen Zeit die kleine Zahl von Menschen, die ihm gehören wollen, gestärkt werden, damit sie nicht umkippen. Denn „des Herrn Augen schauen alle Lande, dass er Stärke gebe denen, die von ganzem Herzen an ihm sind.“
Ein weiteres herrliches Wort vom Sehen Gottes finden wir in Psalm 139: „Du hast alle meine Tage gesehen, die noch nicht geworden sind; meine Jahre waren in deinem Buch geschrieben.“ Die kommenden Tage sind für uns so, wie wenn man heute ein Buch in der Buchhandlung kauft, das noch versiegelt ist. Wenn man gern hineinschauen wollte, was darin steht, ist es verschlossen. Aber Gott sieht alles, was noch kommen wird.
Deshalb haben wir uns heute versammelt. Nicht um zu erfahren, was alles kommen wird, sondern weil er, der auch die kommenden Tage sieht, uns stärken kann. Er kann uns zukunftsfähig machen für das, was vor uns liegt.
Gottes Blick unterscheidet sich vom menschlichen
Gott sieht anders, als wir normalerweise sehen – auch anders als seine vertrauten Mitarbeiter. Wir laufen oft leicht Gefahr, unseren Blick zu überschätzen, nur weil wir Christen sind, und zu sagen: „Das will Gott heute.“
Es gibt viel Streit in der Christenheit, weil jeder meint: „Ich weiß es, ich will dem Herrn gehören, und er hat mir diesen Blick gegeben. Deshalb weiß ich, was richtig ist.“ So dachte auch Samuel, als er im Geheimauftrag nach Bethlehem geschickt wurde.
Damals regierte noch König Saul, doch Samuel sollte bereits den Nachfolger salben. Im Haus des Isai sah er zunächst den hochgewachsenen Eliab. Jeder Gesichtszug sprach für einen edlen Menschen. Da wollte Samuel schon sein Ölhorn aus dem Bausch seines Gewandes hervorholen und dachte: „Das ist der Gesalbte Gottes.“
Doch Gott sagte: „Stopp, der ist es nicht. Du darfst dich nicht nach dem Aussehen eines Menschen richten. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber der Herr sieht das Herz an.“
Für Samuel war das eine Enttäuschung. Man nannte ihn in Israel den Seher, weil er Einblick in Gottes Geheimnisse hatte. Er hatte manche Geheimnisse Gottes erkannt. Doch Gott sagte zu ihm: „Du bist ein kleiner Mensch. Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz an.“
Das Herz Davids als Beispiel
Was war denn im Herzen Davids zu sehen? War es ein makelloses, reines Herz? Mindestens so viel wissen wir aus der Bibel: Ein Herz mit ganz starkem Gottvertrauen.
Er sagt später beim König Saul, als der Bär und der Löwe kamen, dass er wusste, der Herr hilft. Er konnte nicht aus eigener Kraft handeln, das hat er nicht geschafft. Aber der Herr hat ihn gerettet, auf ihn hat er gesetzt.
Das wünsche ich Ihnen allen für das neu beginnende Jahr: ein ganz starkes Vertrauen. Wenn die Bibel vom Herzen spricht, meint sie das Innerste in uns. Selbst wenn eine Krankheit unseren Körper schwächt, bleibt das bestehen: Mein Gott kennt mich, er sorgt für mich.
Das war im Herzen Davids so. Aber ein reines Herz hatte er nicht immer. Ja, das wissen wir. David selbst war zutiefst erschrocken über das, was aus seinem Innersten hervorkam. Er, der ein frommer König sein wollte, wurde plötzlich von Versuchungen und Fantasien überwältigt, die aus seinem Innern herausbrachen.
Da konnte er nur noch beten: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, gib es mir, wirke es. Ich habe es nicht. Ich bin klein, mein Herz ist nicht rein, sondern mach es rein, schaffe mich neu.“
In den großen Psalmen Davids wird immer wieder deutlich: Ein zerbrochenes Herz wirst du, Herr, nicht verstoßen. Er war einer, der sich vor Gott demütigen ließ, der sein Herz zerbrechen ließ.
Und genau das sieht unser Gott an.
Gottes Nähe zu zerbrochenen Herzen
Es ist tröstlich für das neu beginnende Jahr, dass Gott uns nicht als starke Menschen haben will. So müssen wir uns in dieser Welt oft geben. Wenn der Arzt kommt und fragt: „Wie geht es heute Morgen?“, obwohl es uns ganz schlecht geht, antworten wir oft: „Gut, ausgezeichnet.“ Und dann fragt er nur: objektiv oder subjektiv?
Wir brauchen uns vor unserem Gott nicht schauspielerisch zu verstellen. Er sieht das Herz an, so wie es objektiv aussieht. Und wir dürfen ihm sagen: „Lieber Gott, in unserer Welt und erst recht bei mir ist so viel Bruch. Du weißt das, und du verstößt mich nicht. Du hast sogar Freude an einem zerbrochenen Herzen.“
Es ist schwierig, wenn ein Flugzeug auf einem aufgebrochenen Sturzacker landen müsste. Das würde eine Bruchlandung geben. Aber unser Gott will nicht auf einer harten Piste der Hartherzigkeit landen, sondern dort, wo unser Herz aufgepflügt und zerbrochen ist, von mancherlei Erschütterung – vor allem in der Erschütterung vor Gott.
Unser Gott sieht das Herz an. Gott sieht anders. Der Herr ist nahe denen, die zerbrochene Herzen haben, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt besitzen. Darum gelten vor Gott andere Bewertungskriterien.
Unsere württembergische Landeskirche führt in diesen Tagen ein neues Personalbewertungssystem ein. Großartig gedacht: Jeder Pfarrer muss mit jedem ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiter sprechen, Führungsqualitäten erkennen und fördern. Mensch, das nimmt unheimlich viel Zeit in Anspruch. Da können wir auch Hausbesuche machen. Tolle Idee, wir müssen modernes Management einführen.
Auch unser lieber Bruder Bill Hybels von Willow Creek hat ein tolles Buch veröffentlicht, wie ein Leiter sein muss. Wir brauchen visionär begabte Leiter, die die Gemeinde Jesu leiten. Wenn in der Bibel stehen würde: „Ihr seid alle Leiter und der Herr Jesus hat euch zu folgen“, dann wäre das falsch. Nein, Jesus sagt: „Ich bin euer Meister! Und ihr seid alle kleine Marschierer und sollt froh sein, dass ihr geleitet werdet.“
Es sind schon manche auf die Nase gefallen mit dem, was gut gemeint war in der Christenheit – und was ich später als Abgrund hier falsch erwies.
Unter den schwäbischen Jungenschaftsleitern einstiger Tage, als ich noch an der Danningerstraße 19a als Leiter des Jungmännerwerks und Jugendwerks residieren durfte, war einer, der sagte: „Ich bin klein gewachsen, ich bin keiner, der hier Jugendarbeit im Bezirk Tübingen leiten kann, ich kann nicht einmal richtig Schriftdeutsch sprechen.“ Und als er dann in jungen Jahren starb, war es, als wäre der Bürgermeister des Ortes gestorben. Die Straßen waren gesäumt von Menschen.
Es wurde deutlich, was Gott durch einen schwachen, kleinen Menschen ohne große Schulbildung schaffen kann. Unser Herr sieht das Herz an. Er sucht nach Menschen, aus denen er etwas gestalten kann.
Unter den Gemeindepfarrern, die ich als junger Schnösel hier in Stuttgart erlebte, war einer, den wir überheblich den „Kleinen“ nannten. Wir sagten sogar vornehm englisch: „the little“. Sie haben milde gelächelt, so als Gymnasiasten, über die Beispielgeschichten, die schon zehnmal erzählt worden waren und einen Bart hatten.
Aber jetzt, noch nach Jahrzehnten, bin ich in Stuttgart und frage nach, wo Segensspuren sind. Viele Namen von berühmten Kanzelrednern sind vergessen. „Was, der war mal in Stuttgart?“ Von dem einen, dem Kleinen, da sprechen sie. Er hat Glauben geweckt, durch ihn konnte Gott wirken.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber der Herr sieht das Herz an.
Es folgt Israel geprägt, aber auch die Christenheit. Es gibt eigentlich ein Zitat, das quer durch die Bibel immer wieder auftaucht. Achten Sie mal darauf: Vor Gott ist kein ansehender Person. Das ist ja das, was Samuel erfahren hat. Der Herr sieht das Herz an, nicht das Äußere.
Vor Gott ist kein ansehender Person. Er lässt sich nicht blenden durch das, was ein Mensch äußerlich zeigt – durch „Kleider machen Leute“ oder sonst etwas, durch Auftreten. Gott zieht tiefer.
Was in den kommenden Monaten Schlagzeilen macht, ist noch nicht unbedingt das, woran Gott Freude hat.
Der ehemalige badische Dekan Friedrich Haus hat historisch untersucht, was das Geheimnis von Segensträgerinnen und Segensträgern Gottes war – von Regine Jolberg und Alois Hennhöfer und hier in unserem württembergischen Land Hofacker. Sie können all die Frauen und Männer nehmen, die Beate und Winrich Schäffbuch als Liederdichter beschrieben haben. Es waren alle, interessanterweise, durch und durch zerbrochene Leute, durch die Schicksale ihrer Zeit.
Vor Gott zerbrochene Leute, gesundheitlich zerbrochene Leute, gedemütigte Leute. Und sie haben erlebt, dass Gott in Schwachen mächtig ist, in Menschen, die sich ausstrecken: „Herr, ich bin gar nichts, wirke du an mir.“
Ein Herz, das Demut liebt, steht bei Gott am höchsten, so haben wir es im Adventslied gesungen. Das ist Gottes Bewertungskriterium.
Gott hat andere Bewertungskriterien als wir: Ein Herz, das Demut liebt, ein Herz, das sich zerbrechen lässt.
Aber nun könnte man ja fragen: „Entschuldigung, das hat Samuel erlebt und hat ja auch manches für sich. Die ganze Geschichte: Der Herr sieht das Herz an. Aber gilt das auch für uns Christen?“
Und da ist es interessant, wie die Evangelienberichte, die ja so kurz komprimiert sind aus dem langen Wirken, berichten. Johannes sagt: „Wenn ich alles berichten wollte, würden die Welten die Bücher nicht fassen.“ Aber in den kurz gefassten Berichten steht so viel drin, wie Jesus sieht – der Jehoshua, der Yahweh-Präsenz, der gegenwärtige, lebendige Gott.
Als die Freunde ihren gichtbrüchigen Kollegen unter das Dach herunterließen, obwohl das eine Beschädigung und Versammlungsstörung war, heißt es: Als Jesus ihren Glauben merkte, als er ihren Glauben sah – ein paar Sätze weiter –, und die Schriftgelehrten und Pharisäer sprachen in ihrem Herzen, als Jesus ihre Gedanken sah.
Er brauchte keine Infrarotstrahlen oder Röntgengeräte, um das Innerste eines Menschen zu entdecken. Und das tat er nicht, um ihn loszuwerden, sondern auch, um diese kritischen Pharisäer zu gewinnen.
Er hat den zweifelnden Thomas gesehen. Es musste ihm nicht lange berichtet werden: „Herr Jesus, mit dem Thomas haben wir Probleme gehabt.“
Die Samariterin hat bekannt: „Er hat mir gesagt, alles, was in meinem Leben war, alles, was ich verstecken wollte.“
Jesus hat gesehen, was hinter der protzigen Fassade des Lebens des Zachäus war – ein umgetriebener Mensch. Jesus sah ihn.
Vielleicht am allerschönsten berichtet Johannes in Kapitel 21, wie Jesus, der Auferstandene, Petrus fragt: „Hast du mich lieb? Hast du mich lieber als die anderen? Hast du mich wirklich lieb?“
Was sollte Petrus denn antworten? Er hatte Jesusliebe, und trotzdem war die Versuchung, Jesus zu verleugnen, über ihn wie ein Blitz gekommen. Ist das wirklich Liebe, die ich zu ihm habe?
Und da sagt er: „Herr, du weißt alle Dinge.“ Da, wo er seine eigene Liebe zu Jesus gar nicht mehr aufdröseln konnte, was echt ist, hat er sich Jesus an den Hals geworfen: „Du weißt, was echt ist.“
Und so ist er bei uns auch.
Mit unseren Zweifeln und Anfechtungen denke ich oft: Sie schwinden um eine rechte Ehe. Worin besteht Liebe? Ach, nicht nur in dem romantischen Scheiberg, sondern wenn ich heimkomme und die Wohnung leer ist und meine Frau eine Stunde lang wegbleibt, denke ich: „Wo ist sie denn? Ich kann doch gar nicht ohne sie leben.“
Das ist doch eigentlich lieben: „Ich brauche dich.“ Wir sind aufeinander angewiesen.
Herr Jesus, du weißt alle Dinge. Du weißt, dass ich dich brauche, auch im Jahr 2003. Und Jesus sieht, was daran in meinem Leben echt ist.
Jesus sieht alle Dinge. „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz.“ Nicht als Gescheiterten, sondern jetzt ist er Fürst dieser Welt.
Die Not unserer Tage ist doch nicht bloß, dass die Konjunktur lahmt und dass die Verwaltungen und Regierungen gelähmt sind, so dass unsere Welt gottlos ist, dass der Teufel los ist.
Ich saß, sagt Jesus, und deshalb bin ich als Heiland da.
„Sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz.“ Und Offenbarung heißt, er weiß, dass er wenig Zeit hat und einen großen Zorn.
Vor diesem Jesus brauchen wir uns erst recht nicht zu verstellen.
Das Leben erzieht uns dazu, dass wir uns oft verstellen müssen, Schauspieler sein vor uns selbst und vor anderen. Wir versuchen immer wieder, etwas vorzumachen – anderen Menschen, unseren Nächsten.
Bei Pro Christ in wenigen Wochen wird immer wieder das Lied gesungen werden als Einladungslied zur Übergabe: „Jesus, zu dir kann ich so kommen, wie ich bin.“
Das ist es. Er kennt mich, er sieht mich durch und durch. Er sieht mich erbarmend.
Aber jetzt noch eines: Deshalb keine falsche Beruhigung, dass wir sagen, er sieht mich so, wie ich eben bin.
In Weilheim-Siedfried gab es mal einen Stadtverweser, der die Gabe hatte, bei schwierigen Beerdigungen, wenn der ganze Ort wusste, dass da ein Tunichtgut beerdigt wird, zu sagen: „Nun, liebe Trauergemeinde, ihr wisst ja selbst, wie er war.“ Da war ja alles klar, nicht?
Und so können wir auch beruhigen und sagen: „Herr Jesus, du weißt ja, wie ich bin. Ich habe so meine Schwierigkeiten, so bin ich eben gebaut.“
In dem Pro-Christi-Lied heißt es in der letzten Strophe: „Jesus, bei dir muss ich nicht bleiben, wie ich bin, nimm fort, was mich und andere stört.“
Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch im neuen Jahr bitten: „Herr Jesus, zeig mir, wie du über mich denkst. Du schaust mich noch einmal ganz anders, als ich mich selbst sehe.“
Ja, komisch: Wenn wir vor dem Spiegel stehen, denken wir oft noch: „Hallo, so schlecht bin ich nicht.“ Ich frage oft meine Frau: „Du, wie sehe ich heute aus?“ Da ist es objektiver.
Und bevor ich dann zu einem Dienst gehe, sagt sie: „Komm, lass mich dich noch mal angucken, du siehst oft nicht, was da am Revers noch ist.“ Andere sehen es anders.
Deshalb, Herr Jesus, du siehst noch mehr. Der Herr sieht.
Jetzt lass mich doch wissen, wie deine Augen mich sehen, was dich an mir stört. Nimm fort an mir, was dich an mir und anderen stört.
Wir können uns vor Gott prüfen. Das war ja die Wiederentdeckung der Reformation – Wiederentdeckung, weil ja schon in der Bibel steht: „Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben steht.“
Wir dürfen uns ganz ehrlich prüfen. Jesus traut uns solche Ehrlichkeit zu.
Die Reformation hat noch einmal neu entdeckt: Koram Deo – Vor Gott dürfen wir stehen.
Jetzt sag mir, wie es um mich steht, wie du mich siehst.
Lassen Sie mich schließen mit einem Vers, den uns unser Vater beigebracht hat und der mir auch als Leitvers dient, wieder für das neugeschenkte Jahr:
„Das seien alle meine Tage meine Sorge, meine Frage, ob der Herr in mir regiert, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt.“
Das seien alle meine Tage meine Sorge, meine Frage: Herr, zeig mir doch, ob du, Herr, in mir regierst, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt.
Herr, du siehst alle Dinge, deine Augen schauen alle Lande.
Und jetzt stärk mich, dass ich an dir bleiben kann. Amen.
Die Bedeutung von Demut und Zerbrochenheit
Unter den Gemeindepfarrern, die ich als junger Mann hier in Stuttgart erlebte, war einer, den wir überheblich „den Kleinen“ nannten. Wir sagten sogar vornehm auf Englisch „the little“. Die Zuhörer lächelten milde, so wie Gymnasiasten, wenn sie die Beispielgeschichten hörten, die schon zum zehnten Mal erzählt wurden und die man schon „einen Bart“ hatte.
Doch auch nach Jahrzehnten bin ich noch in Stuttgart und frage nach, wo Segensspuren geblieben sind. Viele Namen berühmter Kanzelredner sind vergessen. „Was, der war mal in Stuttgart?“ hört man dann. Aber von dem einen, dem Kleinen, spricht man noch. Er hat Glauben geweckt. Durch ihn konnte Gott wirken.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber der Herr sieht das Herz an. Das gilt für Israel, aber auch für die Christenheit. Es gibt eigentlich ein Zitat, das quer durch die Bibel immer wiederkehrt. Achten Sie mal darauf: Vor Gott ist kein ansehender Person.
Das ist ja das, was Samuel erfahren hatte: Der Herr sieht das Herz an, nicht das Äußere. Vor Gott ist kein ansehender Person. Er lässt sich nicht blenden durch das, was ein Mensch äußerlich zeigt – durch „Kleider machen Leute“ oder sonstiges Auftreten. Gott schaut tiefer.
Was in den kommenden Monaten Schlagzeilen macht, ist noch nicht unbedingt das, woran Gott Freude hat.
Gottes Wirken in Schwachen und Zerbrochenen
Der ehemalige badische Dekan Friedrich Haus hat historisch untersucht, was das Geheimnis von Segensträgerinnen und Segensträgern Gottes war. Dabei bezog er sich auf die Arbeiten von Regine Jolberg und Alois Hennhöfer sowie auf Personen aus unserem württembergischen Land, wie zum Beispiel Hofacker.
Man kann all die Frauen und Männer, die Beate und Winrich Schäffbuch als Liederdichter beschrieben haben, betrachten. Interessanterweise waren es durchweg Menschen, die zerbrochen waren – zerbrochen durch die Schicksale ihrer Zeit, vor Gott zerbrochen, gesundheitlich angeschlagen oder gedemütigt.
Diese Menschen haben erlebt, dass Gott in Schwachen mächtig ist. Sie streckten sich aus und baten: „Herr, ich bin gar nichts, wirke du an mir.“ Ein Herz, das Demut liebt, steht bei Gott am höchsten, so haben wir es im Adventslied gesungen. Das ist Gottes Bewertungskriterium.
Gott hat andere Maßstäbe als wir: Ein Herz, das Demut liebt, ein Herz, das sich zerbrechen lässt, ist für ihn von besonderem Wert.
Jesus sieht das Innere der Menschen
Aber nun könnte man ja fragen: Entschuldigung, das hat Samuel erlebt und hat ja auch manches für sich. Die ganze Geschichte – der Herr sieht das Herz an. Aber gilt das auch für uns Christen?
Interessant ist, wie die Evangelienberichte, die ja so kurz und komprimiert sind aus dem langen Wirken, das Johannes sagt: Wenn ich alles berichten wollte, würden die Welten die Bücher nicht fassen. Doch in den kurz gefassten Berichten steht so viel drin, wie Jesus sieht – der Jehoshua, der Yahweh-Präsenz, der gegenwärtige, lebendige Gott, sieht.
Als die Freunde ihren gichtbrüchigen Kollegen unter Dach und Fach, trotz Beschädigung und Versammlungsstörung, vor Jesus heruntergelassen haben, heißt es: Als Jesus ihren Glauben merkte, als er ihren Glauben sah – nur ein paar Sätze weiter. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer sprachen in ihrem Herzen. Als Jesus ihre Gedanken sah, brauchte er keine Infrarotstrahlen oder Röntgengeräte, um das Innerste eines Menschen zu entdecken. Und zwar nicht, um ihn abzuweisen, sondern auch, um diese kritischen Pharisäer zu gewinnen.
Er hat den zweifelnden Thomas gesehen. Es musste ihm nicht lange berichtet werden: „Herr Jesus, mit dem Thomas haben wir Probleme gehabt.“ Die Samariterin hat bekannt: Er hat mir gesagt, alles, was in meinem Leben war, alles, was ich verstecken wollte. Jesus hat gesehen, was hinter der protzigen Fassade des Lebens von Zachäus war – einen umgetriebenen Menschen. Jesus sieht.
Vielleicht am allerschönsten berichtet Johannes in Kapitel 21, wie Jesus, der Auferstandene, den Petrus fragt: „Hast du mich lieb? Hast du mich lieber als die anderen? Hast du mich wirklich lieb?“ Was sollte Petrus denn antworten? Er hatte Jesusliebe, und trotzdem war die Versuchung, Jesus zu verleugnen, über ihn wie ein Blitz gekommen. Ist das wirklich Liebe, was ich zu ihm habe?
Und da sagt er: „Herr, du weißt alle Dinge.“ Dort, wo er seine eigene Liebe zu Jesus gar nicht mehr aufdröseln konnte, was echt ist, hat er sich Jesus an den Hals geworfen: „Du weißt, denn du weißt, was echt ist.“ Und so ist er bei uns auch.
Mit unseren Zweifeln und mit unseren Anfechtungen denke ich oft, sie schwinden um eine rechte Ehe. Worin besteht Liebe? Ach, nicht allein im romantischen Schwelgen, sondern wenn ich heimkomme und die Wohnung ist leer, und meine Frau eine Stunde lang wegbleibt, denke ich: Wo ist sie denn? Ich kann doch gar nicht ohne sie leben. Das ist doch eigentlich lieben: Ich brauche dich. Wir sind aufeinander angewiesen.
Herr Jesus, du weißt alle Dinge. Du weißt, dass ich dich brauche, auch im Jahr 2003. Und Jesus sieht, was daran in meinem Leben echt ist.
Die Realität des Kampfes und Jesu Nähe
Jesus sieht alle Dinge. Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz. Nicht als Gescheiterten, sondern als den Fürsten dieser Welt.
Die Not unserer Tage besteht nicht nur darin, dass die Konjunktur lahmt oder dass Verwaltungen und Regierungen gelähmt sind. Unsere Welt ist gottlos, und der Teufel ist entfesselt. Jesus sagt: „Ich saß“, und deshalb bin ich als Heiland gekommen.
„Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie ein Blitz“ – das ist eine Offenbarung. Sie bedeutet, dass er weiß, dass er nur wenig Zeit hat und deshalb großen Zorn hegt.
Vor diesem Jesus brauchen wir uns erst recht nicht zu verstellen. Das Leben erzieht uns oft dazu, Masken zu tragen. Wir müssen Schauspieler sein – vor uns selbst und vor anderen. Immer wieder versuchen wir, etwas vorzumachen, sogar unseren Nächsten.
Bei Pro Christ wird in wenigen Wochen immer wieder ein Lied gesungen, das als Einladungslied zur Übergabe an Jesus dient: „Zu dir kann ich so kommen, wie ich bin.“ Das ist es. Er kennt mich, er sieht mich durch und durch. Er sieht mich mit Erbarmen.
Die Aufforderung zur Veränderung und Selbstprüfung
Aber jetzt noch eines: Deshalb keine falsche Beruhigung, wenn wir sagen, er sieht mich so, wie ich eben bin.
In Weilheim-Siedfried gab es einmal einen Stadtverweser, der die Gabe hatte, bei schwierigen Beerdigungen zu sprechen – wenn der ganze Ort wusste, dass dort ein Tunichtgut beerdigt wurde. Und wie soll man das im Lebenslauf denn sagen?, fragte er. Dann sagte er: „Nun, liebe Trauergemeinde, ihr wisst ja selbst, wie er war.“ Da war alles klar, nicht?
So können wir auch beruhigt sagen: Herr Jesus, du weißt ja, wie ich bin. Ich habe so meine Schwierigkeiten, so bin ich eben gebaut.
In dem Lied „Pro Christi“ heißt es in der letzten Strophe: „Jesus, bei dir muss ich nicht bleiben, wie ich bin, nimm fort, was mich und andere stört.“
Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch im neuen Jahr bitten: Herr Jesus, zeig mir, wie du über mich denkst. Du schaust mich noch einmal ganz anders an, als ich mich selbst sehe.
Ja, komisch ist das: Wenn wir vor dem Spiegel stehen, denken wir oft noch: „Hallo, so schlecht bin ich nicht.“ Ich frage oft meine Frau: „Du, wie sehe ich heute aus?“ Da ist es objektiver. Und bevor ich zu einem Dienst gehe, sagt sie: „Komm, lass mich dich noch mal angucken. Du siehst oft nicht, was da am Revers noch ist.“ Andere sehen es anders.
Deshalb, Herr Jesus, du siehst noch mehr – der Herr sieht. Jetzt lass mich doch wissen, wie deine Augen mich sehen, was dich an mir stört. Nimm fort an mir, was dich an mir und an anderen stört.
Wir können uns vor Gott prüfen. Das war ja die Wiederentdeckung der Reformation – die Wiederentdeckung, weil ja schon in der Bibel steht: Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben steht. (2. Korinther 13,5)
Wir dürfen uns ganz ehrlich prüfen. Jesus traut uns solche Ehrlichkeit zu. Und die Reformation hat noch einmal neu entdeckt: Koram Deo – vor Gott dürfen wir stehen.
Jetzt sag mir, wie es um mich steht, wie du uns siehst.
Schlussgebet und Segenswunsch für das neue Jahr
Lassen Sie mich schließen mit einem Vers, den uns unser Vater beigebracht hat. Er ist mir auch ein Leitvers für das neu geschenkte Jahr.
Das seien alle meine Tage meine Sorge, meine Frage, ob der Herr in mir regiert, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt.
Das seien alle meine Tage meine Sorge, meine Frage: Herr, zeig mir doch, ob du, Herr, in mir regierst, ob ich in der Gnade stehe, ob ich auf das Ziel zugehe, ob ich folge, wie er führt.
Herr, du siehst alle Dinge, deine Augen schauen alle Lande. Jetzt stärk mich, dass ich an dir bleiben kann. Amen.