Einführung in das Thema Hirtenbild und prophetische Durchblicke
Jetzt habe ich ja gesagt, ich wollte mit Ihnen prophetische Durchblicke für unsere Zeit heute machen und dabei immer wieder Stichworte aufgreifen. Doch dann merkt man schnell, dass man große Themen berührt. Deshalb ist es vielleicht auch ein Stück Bibelstudium, wenn wir das heute einmal so machen.
Ich wollte das Wort „Hirte“ aufgreifen, und zwar ausgehend von der Weihnachtsgeschichte, in der wir die Hirten in Bethlehem haben. Sie haben das sicher oft auch in Weihnachtspredigten gehört. Ich habe es auch schon oft gesagt: Die Hirten hatten damals einen schlechten Ruf und galten als sehr unzuverlässige Leute. Es wurde nie versäumt, an Weihnachten zu betonen, dass die Hirten vor Gericht nicht hätten aussagen dürfen und man ihrem Zeugnis nicht geglaubt hätte.
Nun, ich weiß nicht, ob unter den Anwesenden Richter sind oder wer Erfahrung mit Hirten hat. Ich will sie auch nicht zwingen, aus ihrer Berufspraxis Farbe zu bekennen. Aber mir hat mal ein Richter gesagt, dass der Beruf des Hirten bei uns meist idyllisch gesehen wird. Am Amtsgericht habe man jedoch oft bemerkt, dass Hirten Schwierigkeiten haben, zwischen „mein“ und „dein“ zu unterscheiden, weil sie so viel unterwegs sind.
Ich will hier niemanden kränken, falls jemand einen Onkel hat, der gerade als Hirte arbeitet. Doch jetzt wollen wir mal biblischer Sache auf den Grund gehen. Natürlich stimmt das nicht so pauschal. Es ist zwar richtig, dass ein solcher Beruf manche Aspekte mit sich bringt, die man als Unstetigkeit oder Heimatlosigkeit bezeichnen kann.
In der Diaserie von unserem Stefan am Samstag kommt das ja auch zur Sprache: Wie er aus der Großstadt entflieht und in der Schweiz auf der Alm den Frieden sucht. Das ist ja so ein Traum vieler junger Leute: „Ich will mal Almöhi spielen.“ Aber dann wird das schnell langweilig, wenn man dauernd nur den Wolken nachguckt und es regnet. Da findet man dann auch keinen Frieden.
Die biblische Bedeutung des Hirtenberufs
In der Bibel hatten wir es irgendwo in der Predigt, auch in den letzten Sonntagen, dass Gott häufig Menschen berufen hat, die Hirten waren. David war Hirte, Amos war Hirte, Abraham war Hirte, Isaak und Jakob waren Hirten, ebenso Mose. Er hütete die Herden von Jetro. Wahrscheinlich könnte man noch viel mehr Beispiele in der Bibel finden. Es ist also ein ehrenwerter Beruf, natürlich.
Aber warum ist das Bild des Hirten für uns so anziehend, wenn man es auf Bildern sieht? Das hat den Grund, dass Gott sich selbst im Bild des Hirten darstellt. Das ist der Psalm, den die meisten Menschen kennen: „Der Herr ist mein Hirte.“ Sie können dieses Bild bei einem Schwerkranken oder bei einem ablehnenden Menschen hören. Dann gibt es eigentlich nur noch das Lied „Jesus, geh voran“ und „Der Herr ist mein Hirte“. Dann merkt man plötzlich, wenn überhaupt noch ein Mensch für Glaubensdinge ansprechbar ist, dann ist es über dieses Bild vom guten Hirten.
Da hat ein Mensch irgendwo einmal begriffen, dass das eine Bergung gibt, obwohl das Bild vom Hirten nicht immer tröstlich ist. Er hat ja auch einen Stab. Mich erschreckt immer, dass der Hirte einen Hund hat. Und den Hund kann er... Entschuldigung, Frau Rieger, Sie schauen so furchtbar verzweifelt. Ich habe Angst vor Hunden, weil Sie denken, wie viele Hunde mir nachrennen, ein Schäferhund mit aufgerissenem Maul, wenn ich durch den Wald laufe.
Aber dass das ja auch unheimlich ist, ist nicht nur so. Wenn ich von Mutterschoß spreche, sage ich: „Desto wunderbarer ist ein Kind am Rockschoß der Mutter.“ Das ist ein schönes Friedensbild. Aber ein Hirte ist ursprünglich nicht dieses Friedensbild wie das einer Mutter. Doch jeder Mensch weiß: Hier ist Bergung da. Der Hirte tritt für seine Schafe ein und schützt sie.
Vor allem ist das natürlich der Grund, nicht dass Menschen Erfahrung mit Hirten haben, sondern das ist das Erbe einer christlichen Erziehung. Da geht etwas auf vom Kindergarten und vom Kindergottesdienst, dass Menschen das irgendwo mal gehört haben, auch das Lied „Weil ich Jesus Schäflein bin, in des Hirten Arm und Schoß, Amen, ja, mein Glück ist groß.“ Verachten Sie das bitte nicht.
Es wird schwer sein, eine junge Generation zu erreichen, die das nie gehört hat, der nie das Evangelium verkündigt wurde und die auch nicht einmal die fossilienhaften Reste eines christlichen Abendlands kennengelernt hat. Und das ist doch sehr, sehr viel, wenn Sie wissen: Jeder alte Mensch im Pflegeheim, den Sie besuchen, hat noch etwas mitgekriegt von dem guten Hirten. Und das ist der Inbegriff des Friedens und der Geborgenheit, also Psalm 23.
„Und wenn es durch das finstere Tal geht, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ Der Stecken, mit dem er mich schützt, mit dem er klopft, und sein Ruf. Dann hat Jesus dieses wunderbare Bild vom Hirten aufgegriffen.
In Johannes 10, dem Hirtenkapitel, kennen Sie einige Stellen, die man wissen muss, damit man sie schnell findet: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben, wie ein Brunnen, der immer fließt, und sie werden nimmermehr umkommen. Niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.“
Das Hirtenamt in der Gemeinschaft der Gläubigen
Ich knüpfe gern an die Gruppe an, die unten im Schlosspark beim Bahnhof steht, wo Graf Eberhard seinen Kopf in den Schoß eines Hirten legt. Er sagt, dass es zu allen Zeiten so war, dass die hohen politischen Führer ganz stolz darauf waren, wie mutig sie waren, einem Hirten ihren Kopf in den Schoß zu legen.
Ich meine, man kann seinen Kopf kühnlich jedem Untertan in den Schoß legen. Aber es ist immer ein viel größeres Mutstück von uns, unseren Kopf ihnen in den Schoß zu legen. Das ist eine schöne Gruppe dort unten, und man soll sich freuen, wenn man daran denkt, wie Graf Eberhard auf seiner Flucht von Wildbad dem Hirten seinen Kopf in den Schoß legt und dort ein Nickerchen macht.
Das spricht von Hirtenliebe und Hirtentreue. Auf all den Bildern tritt uns das entgegen. Wo finden wir noch Bibelstellen von der Hirtentreue Gottes? Nach Psalm 23 ist besonders Jesaja 40 wichtig.
Wir werden später ein ganzes Kapitel vom Hirten nehmen. Aber vorher müssen wir es einfach kennenlernen, damit Sie die Stellen finden. Jesaja 40 ist das Kapitel, das vom Kommen Johannes des Täufers spricht. Es heißt: „Macht eine Bahn in der Wüste, eine Bahn unserem Gott, alle Täler sollen erhöht werden“. Dann folgt das Wort: „Alles Fleisch ist wie Gras, das verwelkt und vergeht“.
In Vers 11 steht: „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.“ Halten Sie ruhig mal das nächste Mal, wenn Sie mit dem Auto unterwegs sind und eine Schafherde sehen, ein paar Worte mit dem Hirten. Das ist hochinteressant, weil er dann oft ein junges Lamm im Arm hat. Er erklärt, dass das Lamm noch nicht so schnell mitlaufen kann. Es darf ein bisschen laufen, aber dann nimmt er es in den ersten Tagen auf den Arm. Wie lange er das macht, hängt davon ab, was er dem Schaf zumuten kann.
So ist Gott in seiner großen, grenzenlosen Liebe. Jeremia 31, Vers 10 sagt: „Hört, ihr Völker, dem Wort des Herrn, verkündet es fern auf den Inseln, und sprecht zu den Zerstreuten Israels: Er wird sie auch wieder sammeln und wird sie hüten wie ein Hirte seine Herde.“
Das bezieht sich auf die Rückführung Israels aus den Völkern. Später werden sie weinend kommen, alle aus der Zerstreuung. Das ist das schöne Kapitel der Wiederaufrichtung und Sammlung des Volkes Israel. Wie ein Hirte wird er sein Volk sammeln.
Dieses Bild bezieht sich nicht nur auf Israel, sondern so können Sie die Gegenwart Gottes in Ihrem Leben erfahren: ein Hirte, der nur an das Schaf denkt und sich für dieses Schaf einsetzt.
Kritik an den schlechten Hirten und die Verantwortung aller Gläubigen
Jeremia 23 trägt die Überschrift „Gegen die bösen Hirten“. Hier wird das Wort „Hirte“ in der Bibel für die geistlichen Führer des Volkes verwendet. Ich spreche ungern über Führer, weil damit oft eine abgeschobene Verantwortung verbunden ist.
Wenn wir auf dem Michelsberg das Thema der Haushalter oder Verwalter behandeln, soll uns klar werden, dass es in der Bibel keine Verantwortung gibt, die man abschieben kann. Im Gegenteil: Jeder gläubige Christ trägt vor Gott eine volle Verantwortung. Deshalb müssen wir von dem Bild wegkommen, dass irgendjemand über uns herrscht. Dieses Bild ist falsch. In der Gemeinde Jesu stehen wir alle als Schwestern und Brüder miteinander.
Gott nimmt uns in seinen Hirtendienst hinein. Jeder von uns ist ein Hirte. Wenn wir also von Hirten hören, ist das nicht nur gegen Pastoren gerichtet – das Wort bedeutet wörtlich „Hirte“ – sondern es ist ein herausgegriffenes Amt. Nicht nur Kindergärtnerinnen oder Gemeindeschwestern, sondern alle sind in dieses Hirtenamt Gottes hineingenommen.
Sie sagen: „In meiner Familie bin ich ganz allein.“ Genau dort sollen Sie dieses Hirtenamt wahrnehmen – in Ihrem Haus, in Ihrem Bekanntenkreis. Wie nehmen Sie Ihr Hirtenamt wahr? Ich bitte Sie immer wieder: Wenn Sie in einer Versammlung in der Gemeinde sitzen, denken Sie nicht: „Wie komme ich auf meine Kosten?“ Sondern: „Wie kann ich andere neben mir beschenken, ihnen einen Dienst tun? Wo kann ich mit meinen Gaben helfen?“ Denn Sie sind Hirte.
Ein Hirte denkt immer an die Schafe. Sobald Sie etwas im Glauben von Gott begriffen haben, sind Sie in die Verantwortung seines Hirtendienstes hineingestellt. Es ist großartig, dass Gott uns an diesem Amt teilhaben lässt.
Doch es wird geklagt, dass die Hirten ihr Amt schlecht wahrnehmen. Das ist bis heute die Not: Viele verstehen ihr Amt nur so, wie sie sich selbst darin glücklich machen. Es ist eine verrückte Sache, dass jeder Christ das Christentum nur aus seinem eigenen Glaubensleben begreift, wie er dabei Erfüllung findet. Das ist nicht das Ziel. Schön, wenn man Erfüllung findet – das ist natürlich möglich. Aber wahre Erfüllung findet man nur im Dienst.
Deshalb ist es wichtig, dass Sie sagen: Gott hat mich gerufen, damit sein Reich gebaut wird und damit Gott Ehre bekommt. Dazu sind wir berufen: seinen Willen zu vollführen. Erst wenn Sie in diesen Willen hineingestellt sind, werden Sie glücklich. Solange bleiben Sie unerfüllt.
Sonst gehen Sie nach Hause und sagen: „Da hat er heute aber wieder geschrien“ oder „Das war komisch“ oder „Heute war es wieder ein bisschen uninteressant“ oder „Die Kirche war nicht richtig geheizt“ – solche Gedanken entstehen. Sie müssen erkennen: Ich bin hineingespannt in den Hirtendienst, jeder Christ.
Ich werde von Gott in diesem Dienst gestärkt. Das ist das Wichtige. Wenn einmal Rückblick auf Ihr Leben gehalten wird, wird nur die Frage sein, wie Sie diesen Hirtendienst in den Begegnungen mit anderen Menschen wahrgenommen haben.
Die Klage Gottes über die schlechten Hirten und die Verheißung des guten Hirten
Und da klagt Gott über die Hirten, die mein Volk weiden. Ihr habt meine Herde zerstreut und verstoßen und nicht nach ihr gesehen. Sie, ich will euch heimsuchen. Ich will die Übriggebliebenen meiner Herde aus allen Ländern sammeln und wieder zu ihren Weideplätzen bringen. Dann werde ich Hirten über sie setzen.
Und dann kommt der richtige Hirte. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass dieser der David sein wird, der erste Hirte. Es wird ein Hirte von ganz anderer Qualität und Art sein, den ich bringen werde. Man findet diese Verweisstellen immer wieder, wenn es um die Hirten geht, auch in der Bibel. Wenn man die Konkurrenz betrachtet oder ein Bibelexikon zu Rate zieht, stößt man auf viele solche Stellen.
Ich möchte heute Abend mit Ihnen Hesekiel 34 lesen, das große Hirtenkapitel. Es ist ein prophetisches Bild, das sich im ganzen Alten und Neuen Testament wiederfindet: die schlechten Hirten und der rechte Hirte.
Und das Wort des Herrn geschah zu mir: „Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!“ Das ist das Schlimmste: Menschen, die ihre ganze Glaubensart nur danach ausrichten, wie sehr sie selbst in diesem Glauben Erfüllung finden. Die sich selbst weiden.
Sie werden merken, dass das ein Problem ist. Viele Christen denken immer nur an sich: Was kriege ich? Was tue ich? Was mache ich? Und merken dabei nie, dass sie ein Amt haben. Wie kann man das eigentlich sagen? Sobald man das Erste im Glauben begriffen und ein wenig verstanden hat, soll man gleich das Amt wahrnehmen und sich um andere kümmern.
Im Augenblick werde ich beschenkt. Jeder Besuch, den Sie machen, jeder Dienst bei einem Kranken oder Trauernden wird Sie beschenken, wenn Sie nach einem anderen schauen und ihn aufrichten. Jedes Gespräch, in dem Sie einen Zweifelnden ermutigen, wird Sie beglücken.
Die Versäumnisse der Hirten und die Folgen für die Gemeinde
Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett, kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemessene, während ihr die Schafe nicht weiden wollt. Sie nehmen nur ständig von der Herde das Fett, die Wolle und das Fleisch. Stattdessen wäre es eure Aufgabe, das Schwache zu stärken. Doch das tut ihr nicht.
Dieses Bild zeigt, dass das kleine, eben geborene Lamm auf den Arm genommen wird. Das Schwache stärkt ihr nicht, das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht. Das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht. Das Starke aber tretet ihr mit Gewalt nieder.
Es ist ein Kennzeichen unseres Glaubens, ob wir überhaupt merken, wenn jemand unter uns schwach ist, zurückgesetzt oder heute traurig. Braucht er unseren Zuspruch, sehen wir ihn überhaupt? Der Verwundete, der angegriffen ist, der leidet, der einsam ist.
Auch manche, die jetzt denken: „Ja, ja, ich sehe wohl, dass man nicht nach mir schaut“, denen würde ich sagen: Ihr könnt auch mit euren Wunden nach einem noch Schwächeren schauen.
„Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.“
Die Gemeinde zerfällt, die Gemeinde Gottes in dieser Welt zerfällt, wenn die Hirtendienste aufhören. Ich möchte jetzt nicht viel zur Krise in unserer Landeskirche sagen, es ist erschütternd. Natürlich hat man noch einmal eine Lösung gefunden, wie man die Kirche rettet. Solange die Finanzen noch stimmen, wird die Kirche nicht auseinanderbrechen. Das ist gar kein Problem.
Aber das Schlimme ist, dass eine Einheit mehr da ist, wenn das Hirtenamt nicht mehr da ist – im Betreuen und Suchen. Und zwar von all den Gliedern, die dort sind, die sich um die Armen, die Gestrandeten, die Notleidenden und Hilfsbedürftigen kümmern. Dass eine brennende Liebe da ist, wo man nach außen denkt, zum anderen hin, wo jeder nur die Augen hat, dort hinzusehen.
Da fühlt man sich immer wieder bei diesem Kapitel Hesekiel 34 so getroffen und aufgewühlt. Jesus hat dieses Bild aufgenommen: „Ich sah sie zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Das steht unten angegeben in Matthäus 9, Vers 36, da spricht Jesus selbst davon.
Jesus führt das dann fort: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Zuerst hat Jesus dann in Matthäus 10 die Jünger ausgesandt in die Welt, damit sie dort dienen sollen.
Die Gemeinde Gottes lebt überhaupt nur über diesen Hirtendienst. Große Dinge haben in der Gemeinde Jesu nie irgendwelchen Erfolg gehabt. Aber was immer groß war, ist die Liebe – die ganz schlichte Liebe, die sich irgendwo im Dienst an einem Verlorenen gezeigt hat.
Jemand hat mir vor ein paar Tagen das Lebensbild von George Müller gegeben. Ich wusste gar nicht mehr, dass George Müller auch ein Deutscher war, der dann nach Bristol kam und dort Arbeit mit Kindern getan hat. Im Gemeindeblatt läuft gerade eine Serie über Frau Gundert, die Frau eines Indienmissionars. Sie war bei dem Haus in Bristol, dem Weißenhaus, in dem George Müller wirkte. Hochinteressant, wie verrückt das alles war.
Aber was für eine Liebe sie hatten, obwohl sie keine Finanzen hatten. Sie konnten die Kinder in ihrer Not einfach nicht wegschicken. Sie haben alles getan und ihnen alles gegeben. Oder Barnardo, der sich um sogenannte „Niemandskinder“ kümmerte.
Wir sollen es in unserer Welt genauso machen. Wichtig ist diese Liebe. Wir meinen oft, das sei nichts Besonderes. Doch das ist es!
Ob Sie jetzt einen alten Menschen haben, den Sie pflegen, ob Sie jemanden Krankes in Ihrer Nachbarschaft kennen oder einen Kollegen mittragen, der psychisch angeschlagen ist – so etwas ist es, was Jesus will.
So wie Jesus es gemacht hat: Er hat immer nur zu den Verlorenen, den Gestrandeten und den Notleidenden geschaut – zum Schwachen, Verwundeten.
Die Gemeinde ist immer ein Lazarett. Ich finde es schlimm, wenn man sagt: Unsere Gemeinde hat auch bedeutende Leute dabei. Ja, heute Abend haben wir auch eine ganze Reihe bedeutender Leute. Aber das Tolle ist doch, wenn wir Lazarett sind.
Das ist die Stärke einer Gemeinde: Wenn einer dem anderen seine Last mitträgt. Wir wollen gar nicht den Anspruch der Welt mitmachen, die immer sagt: „Wir sind doch jemand, guckt uns mal an.“
Es ist toll, wenn jemand erzählt, dass der Sohn seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, Oberstleutnant ist oder Präsident im Leichtathletikverband. Aber man kann mit der Gemeinde Jesu nie so stark sein.
Schwach, gering, nicht viel Edles – aber Menschen, die einen Heiland brauchen. Da dürfen wir diesen Dienst tun, einander Handreichungen geben, damit ein anderer aufgerichtet, gestärkt und erquickt wird.
Davon lebt die Gemeinde Jesu zu allen Seiten.
Gottes Gericht über die Hirten und die Hoffnung auf den guten Hirten
Und nun kommt das schwere Gottesgericht über diese Hirten. Darum hört, ihr Hirten des Herrn, ein Wort, das immer auch ein hartes Wort ist – besonders über die Hauptamtlichen in der Gemeinde.
Das war schon so, als Jesus die Schriftgelehrten und Pharisäer dem Gericht Gottes auslieferte. Und es ist auch in unseren Tagen schwer und lässt uns alle zittern, die wir hauptamtlich im Dienst stehen.
So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nicht nach meiner Herde fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten.
Darum, ihr Hirten, hört das Wort des Herrn! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern. Ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.
Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
1966 fand in der Dortmunder Westfalenhalle eine große Bekenntniskundgebung statt. Damals entstand die Bekenntnisbewegung gegen die liberale Bibelkritik in der Kirche. Es war eine eindrucksvolle Versammlung von über zwanzigtausend Menschen. Paul Deitenbeck hatte sie einberufen.
Auch verschiedene Kirchenvertreter sprachen dort. Sie sagten, sie hätten immer versucht, die Bibelkritik zurückzuhalten. Dann zitierten sie Verlautbarungen von Synoden. Plötzlich drohte die Versammlung, ein wenig langweilig zu werden, weil so lange Worte verlesen wurden.
An dieser Stelle sollte der Evangelist Wilhelm Busch ein Grußwort sprechen. Es war ihm manchmal von Gott geschenkt, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Er ging einfach hoch und sagte: „Wenn ich so viele gute Worte höre und sehe, wie wenig sie erreicht haben, dann will ich mutlos werden über den trostlosen Zustand unserer Kirche. Aber mich tröstet das Wort des Propheten, dass der Herr sagt: Ich will mich meiner Herde selbst annehmen.“
Danach setzte er sich wieder hin. Es war alles gesagt. Dieses Wort blieb allen, die es gehört haben, in Erinnerung. Ich habe es später nur in der Erzählung gehört, aber es bleibt so haften.
Es ist oft so aussichtslos, wenn man sieht, wie in diesen Tagen so viel kirchliches Leben zerbricht, Traditionen zerstört werden, wie auch die Lästerung Gottes voranschreitet und die Gottlosigkeit immer mehr Raum gewinnt.
Es bleibt nur eine Hoffnung: dass dieses Wort wahr wird, dass doch ein lebendiger, guter Hirte sich seiner Herde selbst annimmt. Und das ist Jesus, der ja so viel von seinem Amt als guter Hirte gesprochen hat, der dem verlorenen Schaf nachgeht.
Das Gleichnis vom verlorenen Schaf und die Nachfolge Jesu
Und jetzt die Frage: Wo finden Sie dieses Gleichnis vom verlorenen Schaf? Sie finden es im Lukas-Evangelium, Kapitel 15. Lukas 15 ist gut, und die drei verlorenen Gleichnisse sind bei Lukas zu finden. Sie brauchen nicht aufzustehen, Sie haben es im Kopf: der verlorene Groschen, das verlorene Schaf und der verlorene Sohn.
Das Gleichnis beginnt mit dem verlorenen Schaf, wo der gute Hirte etwas tut, was wir normalerweise nie tun würden. Er lässt 99 Schafe in der Wüste zurück, obwohl sie schon Unfug machen. Bei uns sagt man: Wenn meine Frau einem verlorenen Groschen nachjagen würde, dann würde ich sagen: „Jetzt reicht es doch, lass den Groschen liegen!“ Die Arbeit und die Kraft sind doch viel mehr wert. Wegen einem Groschen würde man doch nicht das ganze Haus auf den Kopf stellen und so einen Aufwand machen.
Also, liebe Leute, wegen einem Groschen ist das doch Quatsch im Denken. Ich war mal in einer Fabrik, und beim Akkordarbeiter wusste man, dass es Ausschuss gibt. Ein gewisser Prozentsatz ist normal. Wenn von 101 Teilen eins Ausschuss ist, dann ist das eben so. Das muss ein Hirte auch akzeptieren, dass es manchmal vorkommt, dass ein Schaf sich verläuft und man es nicht mehr findet. Aber der gute Hirte ist ganz anders. Er lässt die 99 Schafe zurück und geht dem einen Verlorenen nach.
Wenn Sie das mal begriffen haben: In einer Gemeinde, wenn ich weiß, einer will nicht mehr mitmachen, einer hängt gerade ab, einer ist in Zweifel geraten, dann soll alle Aktivität darauf gelegt werden, den einen zu retten, der gerade in einer Krise ist und abzukippen droht. Das ist eine völlig andere Ordnung als die, die wir normalerweise haben. Und das ist die Ordnung Jesu.
Es ist wunderbar, dass er als der ewige Hirte sich seiner Gemeinde selbst annimmt, sie sucht und rettet. Deshalb ist es immer wieder so, dass auch in Zeiten des Zerbrechens von Kirchen und Kirchentum der Herr seine Gemeinde immer wieder sammelt. Es gibt nur diese Mitte: Der gute Hirte sammelt seine Leute um sich.
Dabei wird nicht gefragt, zu welcher Konfession oder welchem Etikett du gehörst. Die Frage lautet: Bist du einer, der zur Herde Jesu gehört? Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Es gibt nur eine Gemeinde Jesu. Dort steht nicht am Zaun: „Da drüben ist das linke Eck, und das rechte Eck ist für die anderen.“ Es gibt nur eine Gemeinde Jesu.
Natürlich gibt es in dieser Welt verschiedene Verständnisse und Traditionen, die darf man auch behalten. Aber es gibt nur eine Herde Jesu. Vom Hirten her betrachtet gibt es nur eine Herde. Dazu wollen wir gehören, und wir wollen jeden lieben, der zu dieser Herde gehört, der sich allein vom Hirten leiten lässt und sich allein seiner Autorität unterordnet.
Übrigens ist das auch immer ein Punkt, an dem manche Schwierigkeiten im Glauben haben: Das Hirtenbild ist ein autoritäres Bild. Man kann nicht antiautoritär glauben. Wenn ich mir meinen Glauben nach meinem eigenen Kopf zurechtlegen will, funktioniert das nicht gut.
Es ist ja wunderschön, dass ich mir meinen Glauben nicht zuerst ausdenken muss, sondern ich darf dem Hirten hinterherlaufen. Ich darf sagen: Du sagst, wohin der Weg geht, und ich folge dir und deiner Führung.
Deshalb ist es wahrscheinlich in unserer Zeit für viele so schwer zu glauben, weil sie letztlich sich selbst verwirklichen wollen. Das geht nicht. Der Friede beginnt erst dort, wo ich in die Nachfolge Jesu trete und gehorsam werde. Gehorsam heißt gehorchen. Und man kann nicht anders gehorchen, als dass man wörtlich gehorcht.
Auch die Bergpredigt lässt keinen Spielraum. Erst da finde ich meinen Frieden, wenn ich von Herzen zustimmen kann. Wir sprachen am Sonntag vom Heiligen Geist. Er kann bewirken, dass ich dem Herrn willig diene. Nicht gezwungen, das wäre schlimm. Sondern ich sage: Das ist das Beste für mich, deine Ordnung ist für mich Erquickung und Labung, so wie ich dem Hirten nachgehe.
Die Fürsorge des Hirten für die verlorenen Schafe
Und jetzt geht es weiter mit dem Bild, wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind. Dieses Beispiel steht bei mir unten angeschrieben: Lukas 15,4. Dort heißt es: „So will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.“
Ich vergesse nicht, wie mir dieses Bild schon vor der Schulzeit im Kindergottesdienst von einer alten, lieben Frau so lieb gemacht wurde. Das Bild vom verlorenen Schaf, das der Hirte auf den Armen trägt, das Bild von Rudolf Schäfer mit den verbundenen Füßen – machen Sie das den Kindern groß, damit sie es nie vergessen können: Ich bin bei Jesus nie vergessen.
Was hat das einen im Leben oft begleitet, in Augenblicken, in denen man in Gefahr war, ganz weit wegzugehen. „Ich will sie aus allen Völkern herausführen, aus allen Ländern sammeln.“ Hier merken Sie immer etwas, was Sie für die Bibel wissen müssen: Das Bibelwort erfüllt sich nicht nur in eine Richtung.
Es bezieht sich ganz deutlich wieder auf die nationale Sammlung des Volkes Israel. Aber so wie Gott das Volk Israels sammelt, so sammelt er auch die Gemeinde des neuen Bundes. Das wird ein zweites Mal erfüllt und wird auch heute erfüllt. Sie können das immer wieder auf verschiedenen Ebenen sehen.
So wie Gott bei Abraham gewirkt hat, hat er bei Isaak nochmals gewirkt. Obwohl manche Fehler sich wiederholen, hat er es auch bei Jakob noch einmal getan. Das wiederholt sich immer wieder, weil Gott typisch handelt. Er bleibt dabei.
So, wie er sich als Hirte erwiesen hat und auch heute in Treue das Volk Israels sammelt, wird er das auch in den ganzen schwierigen Verhandlungen im Nahen Osten tun. Man kann sich nur wundern, wie Gott das tut. Ich habe das nie begriffen, wie Gott das überhaupt machen soll.
Früher konnte ich nicht verstehen, wie der eiserne Vorhang fallen konnte. Und dann war es wieder so, dass die Juden nicht nach Israel wollten und dann nicht dort sein wollten. Doch dann konnte man einen Schäferhund wie Schiridowski benutzen, sodass die Juden plötzlich wieder Schlange standen, um nach Israel auszuwandern.
Ich will aber gar nicht mehr zur gegenwärtigen Lage sagen. Vielleicht sehen wir in zwanzig, dreißig Jahren rückblickend, dass Entwicklungen abgelaufen sind, bei denen man nur sieht: Gott kann sogar die unmöglichen Menschen benutzen, damit sie seinen Heilsplan vollenden müssen.
Nur sollen sie nicht sagen, Schirenowsky wäre ein Gottesbote oder gar ein Engel. Gott benutzt auch die komischen Menschen und auch das schreckliche Unheil. So hat Gott das furchtbare Unrecht an den Juden im Dritten Reich benutzt, um sein Volk zu sammeln. Sie kommen weinend, und Rahel lässt sich nicht trösten auf den Bergen über das Sterben ihrer Kinder – alles buchstäblich erfüllt.
„Ich will Sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.“ Bei „allen Plätzen“ denke ich immer wieder daran, dass Sie wieder das Land einnehmen werden, das Gott Abraham verheißen hat. „Ich will Sie auf die beste Weide führen. Auf den hohen Bergen in Israel sollen Ihre Auen sein. Da werden Sie auf guten Auenlagen und fetter Weide auf den Bergen Israels haben.“
Aber das ist nicht nur die nationale Sammlung. So wird Gott uns auch führen. Auch in Zeiten der Dürre wird Gott seine Gemeinde nicht untergehen lassen. Ich möchte immer wieder jedem von Ihnen sagen: Bleiben Sie bei seinem Wort, und dann werden Sie erleben, dass die Gemeinde Gottes auch in Zeiten nicht ausgelöscht wird, in denen die Gottlosigkeit überhandnimmt. Denn der gute Hirte selbst sammelt seine Gemeinde.
„Ich will selbst meine Schafe weiden und will sie lagern lassen“, spricht Gott der Herr. „Ich will das Verlorene widersuchen, das Verirrte zurückbringen, das Verwundete verbinden und das Schwache stärken. Das Fett und das Starke will ich behüten, und ich will sie weiden, wie es recht ist.“
Dann folgt noch ein Abschnitt, den Sie für sich lesen können, in dem Gott auch richten wird. Es ist nämlich immer wieder schlimm, wenn das starke Schaf das schwache auf die Seite drückt.
Es gibt ja immer so blöde Witze, die man in jeder Berufssparte erzählt. Bei uns war das schon so: Als wir junge Theologen waren, haben wir immer gesagt, das ist im Grunde gar nicht zu vermitteln im Religionsunterricht. Wenn man das Bild vom Schaf nimmt, kommt das Kind weinend nach Hause und sagt: „Der Pfarrer hat gesagt, ich sei ein Schaf.“
Das ist ja auch bei den Leuten ein Witz, dass Christen sagen, sie seien Schafe. Man sagt: „Nein, nein, nein! Alle Menschen sind Schafe.“ Der Mensch ist ein Herdentier, das immer hinter jemandem herläuft, der Mode macht, Parolen gibt oder Idol ist.
Es gibt nur verlorene Schafe und Schafe, die Hirten haben. Es gibt Schafe ohne Hirten und Schafe mit Hirten. Das ist im biblischen Bild so, dass man sich nicht genieren muss.
Aber der Herr selbst wird für das schwache Schaf eintreten. Es ist wichtig, dass die Schwachen in der Gemeinde zum Zuge kommen. Paul Deidenbeck hat uns das immer wieder eingeschärft und gesagt: Die Gemeinde muss ein Platz sein, an dem die zu kurz Gekommenen geehrt werden.
Wenn Sie in eine Versammlung gehen, sollten Sie sich vorher nicht überlegen, wie Sie heute Abend etwas bekommen, sondern wie Sie heute Abend jemanden ehren, aufrichten oder jemandem Freude machen können – jemanden, den Gott Ihnen zuführt.
Dann haben Sie den Hirtenblick: Wo ist jemand, der von mir eine Ermutigung braucht? Wo ist jemand, der einen Zuspruch braucht?
Dann kommt Vers 23, den ich Ihnen noch zeigen will: „Ich will Ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein.“
Jetzt verstehen Sie, warum im Neuen Testament die Hirten die ersten waren, die die Verkündigung der Engel gehört haben: „Euch ist der Heiland geboren.“ Sie sehen auch, wie es verschiedene Verweisstellen auf den Hirten gibt. Da kommen noch mehr im prophetischen Wort, die wir jetzt nicht alle auslegen können. Es zieht sich durch das ganze prophetische Wort.
Das Wunderbarste ist, dass dies hier noch einmal erfüllt wird. Zum Beispiel mit der Wurzel Jesse, aus dem Isai, kommt das noch einmal. Jesse ist die lateinische Version von Isai, dem Vater von David.
Dort wird es endgültig von Gott geklärt: Ein Hirte wird regieren in Gerechtigkeit und Gericht. Er soll sein Volk weiden und ihr Hirte sein.
Die Stimme des guten Hirten und das Beispiel Traugott Hahn
Da möchte ich jetzt noch ein paar Worte anschließen, da Sie nicht mehr auf Johannes 10 eingehen müssen. In Johannes 10 hat Jesus viel darüber gesagt, wie der Hirte regieren wird. Er wird vor allem mit seinem Wort regieren. Das ist immer wieder schön, denn indem die Schafe sein Wort hören, erkennen sie die Stimme des Hirten.
Die Schafe haben nämlich die Eigenart, die Stimme ihres Hirten zu erkennen. Manche meiner Kinder machen es zum Spaß, am Telefon nicht ihren Namen zu sagen. Aber man erkennt sie sofort. Sie kennen meine Kinder am Telefon, und noch viel mehr erkennen die Schafe die Stimme des guten Hirten. Es muss bei ihnen so sein, dass sie die Stimme des guten Hirten kennen und sagen können: „Das ist nicht die Stimme des guten Hirten, die ich da vernommen habe.“
Diese Stimme kann zwar fromm klingen, wie sie will, aber sie ist nicht die Stimme des guten Hirten. Der gute Hirte hat einen Klang der Barmherzigkeit, eine Wärme und eine Liebe, aber auch eine Klarheit.
In Johannes 10 wird auch viel vom Mietling gesprochen, also vom gedungenen Hirten, einem Hirten im Angestelltenverhältnis. Dort wird gesagt, dass derjenige, der das Hirtenamt nur als Job macht, kein großes Interesse hat.
Ich möchte Sie an dieser Stelle noch darauf hinweisen, was das in der Kirchengeschichte bedeutet hat. Traugott Hahn, Professor der Theologie in Dorpat, hat sich wie kaum ein anderer mit dem Thema des Mietlings auseinandergesetzt.
Wenn Sie zu Hause noch Predigten von Traugott Hahn haben oder gar die große Biografie oder das Buch von Anni Hahn, zähle ich das zu einem der schönsten Bücher, die es überhaupt gibt. Die Biografie von Anni Hahn heißt „Es gibt einen lebendigen Gott“. Anni Hahn war die Witwe von Traugott Hahn.
Der Vater, der alte Traugott Hahn, war schon ein gesegneter Evangelist. Meine Mutter erzählte immer, wie sie Traugott Hahn nach einer Evangelisation auf den Bahnhof in Frankfurt bringen durfte und ihm das Köfferchen trug. Das sei für ihr Leben von entscheidender Bedeutung gewesen.
Ein großer Mann, der eine schwer kranke Frau hatte, die zwölf Jahre nur im Rollstuhl lag. Das war die Lallahahn, die in ihrem Leiden ungeheuer vielen Menschen zum Segen wurde.
Da ist die Geschichte passiert, dass ein Mann Traugott Hahn auf der Straße sagte: „Ich komme gerade von Ihrer Frau.“ Aber das waren mehr als hundert Predigten von Ihnen, was sie mit wenigen Sätzen gesagt hat.
Der Vater Traugott Hahn war also ein großer Mann. Sein Sohn war Theologieprofessor in Dorpat und ein gläubiger Mann, der Vater des Kultusministers Wilhelm Hahn.
Dieser Traugott Hahn war gleichzeitig Pastor der deutschen Gemeinde. Während die Bolschewisten im Baltikum die Revolution machten – das war das Ende der Freiheit der baltischen Staaten – war eigentlich klar, dass die Deutschen sich zurückziehen würden. Viele Deutsche gingen am Ende des Ersten Weltkriegs.
Traugott Hahn sagte jedoch: „Ich darf nicht gehen, ich bin doch kein Mietling. Wenn Gott mich an diese Gemeinde gestellt hat, muss ich dort bleiben.“
Ich habe einmal mit Festo Kiventschere über diese Sache gesprochen, wie er aus Uganda geflohen war. Ich fragte ihn, ob ihn das nie bedrückt habe. Er verstand das überhaupt nicht.
Es ist auch interessant, wie Gott einem gewisse Dinge wichtig macht. Traugott Hahn war es einfach so wichtig, auch in der Krisensituation nicht von seinen Leuten wegzugehen. Solange Gemeindeglieder in Dorpat blieben, wollte er dort sein.
Er wurde als einer der Ersten gefangen genommen. Sie müssen das noch einmal lesen, wie furchtbar das war: Nach der Verhaftung sah man das ganze Kommen. Als die deutschen Truppen schon vor Riga waren, wurden die Geiseln im letzten Moment noch erschossen.
Marion von Kloth, die 22-jährige, wurde ebenfalls erschossen. Ich weiß den Weg nicht genau, aber Sie wissen ihn wohl. Darum ist das Lied so verbreitet gewesen. Es war ein großes Bekenntnis.
Viele sind dort gestorben. Ein Teil konnte noch gerettet werden von diesen Geiseln.
Das Lebensbild von Traugott Hahn, der in jungen Jahren starb, und von Anni Hahn, die die Kinder noch klein zurückließ – sie war vielleicht sieben, acht oder neun Jahre alt – zeigt, wie sie sich durchschlagen musste. Das deutsche Reich hatte eine Inflation, und es gab kein Geld.
Sie beschreibt, wie sie die Führung Gottes auf diesem Weg erfahren hat. Sie starb, glaube ich, erst vor zwei oder drei Jahren. Sie lebte im Alter noch in Heidelberg.
Wenn man verfolgt, was Hirtentreue bedeutet, sieht man: Ein Hirte muss sich bis zum Letzten einsetzen. Es ist überhaupt nicht die Frage, ob er dabei sein Leben verliert.
Das war Traugott Hahn enorm wichtig. Ich kann das nie vergessen, wenn ich vom guten Hirten spreche und was ein Hirtenamt bedeutet.
Man sagt: „Solange ich lebe, werde ich für meine Verwandten beten, auch wenn sie nichts wollen. Ich bin der Hirte und fühle mich verantwortlich.“
Nicht, dass ich ihnen auf die Nerven gehen will, sondern ich will einfach hinter ihnen stehen, schauen, was sie machen – sei es für ein Patenkind oder für den Nachbarn.
Verstehen Sie, ich bleibe dabei, weil Gott mir dieses Amt anvertraut hat. Das ist eine andere Funktion als die von Traugott Hahn, aber diese enorme Treue ist groß, weil wir uns am Modell Jesus orientieren, der für seine Schafe das Leben gelassen hat.
Dieses Bild kann man anders nicht sehen. Darum ist das Verhältnis von uns zu den uns anvertrauten Schafen genauso.
Ich wollte das jedem Jungscharleiter, jedem Kinderkirchhelfer, jedem Religionslehrer und jedem, der Besuche macht, so wichtig machen.
Nur wenn ich so eine Einstellung zu den Menschen habe, kann ich etwas übermitteln. Nur wenn ich diese Hirtenliebe habe, kann ich weitergeben.
Aber jetzt ist Zeit zum Singen.
