
Warst du schon einmal in einem Restaurant und hast relativ schnell festgestellt, dass die Kellnerin nur freundlich ist, weil sie dein Trinkgeld möchte? Manchmal ist das nicht ganz so offensichtlich, manchmal jedoch sehr deutlich.
Wurdest du schon einmal begrüßt, vielleicht sogar in der Gemeinde, und hattest im Nachhinein zunehmend den Eindruck, dass es irgendwie aufgesetzt war, nicht echt? Dass die Person es vielleicht nur macht, weil sie es muss oder denken muss?
Warst du schon einmal in einer Notsituation? Und gerade in dieser Not haben sich die Personen, die dir sonst immer gesagt haben, dass sie dich lieben, einfach nur hinter frommen Floskeln versteckt und dir nicht wirklich geholfen?
All diese drei Situationen, die ich gerade aufgezählt habe, haben eines gemeinsam: Es wird Liebe vorgespielt, die nicht wirklich echt ist. Das darf es in der Gemeinde Jesu Christi nicht geben.
Deswegen lautet mein Thema heute Morgen: ungeheuchelte Liebe. Ungeheuchelte Liebe ist das, worum es in Römer 12, Verse 9 bis 13 geht.
Ich setze fort in meiner Reihe zum Römerbrief. Ich hatte eine etwas längere Pause, und wir sind immer noch in Römer 12. Mir ist es wichtig, auch immer wieder den Gesamtzusammenhang aufzuzeigen und wie sich der Römerbrief einteilt. Denn es gibt immer wieder Leute, die neu dazustoßen und die Reihe als Ganzes vielleicht gar nicht so gut kennen.
In Römer 1 bis 11 legt Paulus das Evangelium systematisch dar. Das Evangelium wird erklärt und verteidigt. Was hat Gott für uns getan? Ab Kapitel 12 geht es nun darum: Was tun wir für Gott? Was ergibt sich aus dem Evangelium für ein praktisches Leben, ein Leben aus dem Evangelium?
Da sind wir mitten in Römer 12, und der heutige Text gibt oft die Antwort auf die Frage: Wie zeigt sich Christsein? Die Antwort lautet: in der ungeheuchelten Liebe.
Das fand ich so passend, denn Jan hat mehr den Fokus nach außen gelegt, dass wir die Liebe, die wir in uns haben, allen Menschen draußen, die noch nichts von der Liebe Gottes wissen, weitersagen.
In meiner Predigt liegt der Fokus aber ein bisschen mehr auf das Innergemeindliche. Insofern haben wir heute Morgen beide Aspekte abgedeckt.
Unser Text beginnt mit der Aufforderung zur ungeheuchelten Liebe, und das ist mein erster Punkt. In Römer 12,9 heißt es: Die Liebe sei ungeheuchelt. Das ist sozusagen die Überschrift über den ganzen Abschnitt. Die nächsten Verse erklären einfach nur, was ungeheuchelte Liebe bedeutet. Diese Überschrift gibt also den Rahmen vor.
Nachdem Paulus in den vorherigen Versen – das war meine letzte Predigt – in Römer 12,3-8 aufgezeigt hat, wie wichtig es ist, unsere Gaben im Dienst einzusetzen, spricht er jetzt über die Liebe. Erst die Gaben, dann die Liebe. Das macht Paulus auch an einer anderen Stelle im 1. Korintherbrief so. In 1. Korinther 12 spricht er über die Gaben, in 1. Korinther 13 über die Liebe.
Der Gabeneinsatz, also der Dienst ohne Liebe, ist völlig wertlos. Deshalb kommt Paulus hier in Römer 12 ab Vers 9 auf die Liebe zu sprechen und sagt: Die Liebe sei ungeheuchelt.
Römer 12,9 ist nicht die einzige Stelle, an der Paulus von ungeheuchelter Liebe spricht. In 2. Korinther 6,6 macht er den Korinthern deutlich, dass er sie mit ungeheuchelter Liebe geliebt hat – ebenso wie seine Mitarbeiter. Er geht auf seinen Dienst ein und beschreibt, was seinen Dienst ausmacht. Dort heißt es in 2. Korinther 6,6: „in Reinheit, in Erkenntnis, in Langmut, in Güte, im Heiligen Geist und in ungeheuchter Liebe.“
So sagt Paulus auch hier: Die ungeheuchelte Liebe soll das Leben in der Gemeinde durchziehen. Sie soll nicht gespielt sein. Liebe muss echt sein, durch und durch authentisch und ehrlich.
Bei Schauspielarbeiten kommt es immer wieder vor, dass Passanten nicht rechtzeitig erkennen, dass es sich nur um Dreharbeiten handelt, und die Polizei rufen. Das kann man mal googeln, das passiert tatsächlich immer wieder. Immer wieder lösen Dreharbeiten für einen Film tatsächliche Polizeieinsätze aus. Die Personen wissen nicht, dass sie sich gerade an einem Drehort befinden. Sie denken, es ist ein Tatort, und rufen die Polizei. Dabei ist es eigentlich nur ein Drehort.
Paulus sagt: Die Gemeinde ist kein Drehort für gespielte Liebe. Die Gemeinde ist ein Tatort für gelebte Liebe. Und das muss sich zeigen. Wir kommen hier nicht zusammen, um Gemeinde zu spielen. Wir kommen nicht zusammen, um so zu tun, als ob wir uns ganz doll lieb hätten, nur weil wir es müssen.
In der Gemeinde muss die Liebe durch und durch echt sein. Das ist die Aufforderung hier: Die Liebe sei ungeheuchelt.
Aber diese Aufforderung muss im Lichte des Evangeliums gesehen werden, denn Römer 12,9 steht nach Römer 1 bis 11. Warum sage ich das? Mir ist es so wichtig, dass wir alle Aufforderungen, die sich an uns richten, für das praktische Leben vom Evangelium her ableiten und in diesem Kontext sehen. Sonst landen wir schnell bei einem bloßen Moralismus: Mach das, mach das, mach das, dann bist du ein besserer Christ.
Moralismus und Gesetzlichkeit liegen oft sehr dicht beieinander. Deshalb ist es mir immer wieder wichtig zu zeigen: Es geht ums Evangelium. Aus dem Evangelium heraus lieben wir einander.
Schaut euch an, was Paulus im Römerbrief Kapitel 1 sagt. Dort spricht er über den zerstörten Zustand des Menschen ohne Christus. In Vers 28 heißt es: „Und wie sie es nicht für gut fanden, Gott in der Erkenntnis festzuhalten, hat Gott sie dahingegeben in einem verworfenen Sinn, das zu tun, was sich nicht ziemt.“
Das bedeutet, Menschen, die Gott trotz besseren Wissens aus ihrem Leben ausschließen, werden von Gott in der Sünde dahingegeben – in einem verworfenen Sinn. Sie haben keinen klaren Verstand mehr, können nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden und sind moralisch unfähig, das Gute zu tun. Paulus listet das ab Vers 29 weiter auf: erfüllt mit aller Ungerechtigkeit, Bosheit und so weiter.
Schaut euch Vers 31 an, dort steht unterstrichen „Ohne natürliche Liebe“. Das heißt, der Mensch ohne Christus ist nicht fähig, wirklich zu lieben.
Wie kann es nun sein, dass Paulus im Römerbrief Kapitel 12, Vers 9 fordert: „Eure Liebe sei ungeheuchelt“? Wie lassen sich Römer 1, Vers 31 und Römer 12, Vers 9 miteinander verbinden?
Diese Verbindung ist nur möglich, weil zwischen Römer 1 und Römer 12 eine Menge in unserem Leben passiert ist. Hier sind wir beim Kern des Evangeliums: Wir Menschen sind unfähig, Gott zu gefallen. Die Bibel sagt, wir sind geistlich tot. Es geht nicht darum, dass wir von Menschen, die eigentlich ganz okay sind, durch Christus zu besseren Menschen werden. Es geht darum, dass wir von geistlich toten Menschen, unfähig zu lieben, zu geistlich lebendigen Menschen werden.
Das geschieht durch die Wiedergeburt, durch Jesus Christus. Er hat sich unser erbarmt, trotz unserer absoluten Unfähigkeit, das Gute zu tun. Er hat seine Liebe in unser Herz ausgegossen und uns neu gemacht. Er hat das steinerne Herz herausgenommen und ein fleischernes Herz hineingesetzt – das ist die Wiedergeburt.
Bei der Wiedergeburt werden wir nicht einfach zu besseren Menschen, sondern zu neuen Menschen. Jetzt haben wir in uns die Fähigkeit – aber nur durch Gott – das Gute überhaupt zu tun.
In Römer 5, Vers 5 heißt es: „Die Hoffnung aber lässt nicht zu Schanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.“
Als Christ solltest du dir bewusst sein, dass all das Gute, das du tust, nur möglich ist, weil Gott sich deiner erbarmt hat und dich befähigt, das Gute zu tun. Das ist die wirklich gute Nachricht des Evangeliums: Gott hat uns so sehr geliebt, dass er uns fähig macht.
Wir sind gestorben für unser altes Leben, für die Sklaverei der Sünde. Wir sind auferweckt worden zu einem neuen Leben mit Jesus Christus. Wir haben eine neue Identität und den Heiligen Geist in uns, der in uns das Gute wirken möchte und kann.
All das ist geschehen. Deshalb können wir jetzt nicht aus eigener Kraft, sondern durch den Heiligen Geist in uns ungeheuchelt lieben. Indem wir ungeheuchelt lieben, spiegeln wir zugleich seine Liebe zu uns wider – denn Christus hat uns mit einer ungeheuchelten Liebe geliebt.
Das waren nicht nur ein paar warme Worte. Schaut euch Römer 5, Vers 8 an: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, als wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.“
Dieses „Gott aber“ begegnet uns in der Bibel immer wieder. Gottes Liebe zu uns ist keine geheuchelte Liebe, sie ist echt und ungeheuchelt – bewiesen an einem römischen Holzkreuz im Jahr 33 nach Christus. Nur Gottes Sohn wurde als Lamm Gottes für unsere Sünden geschlachtet. Das ist Liebe, pure Liebe.
Wir haben diese Liebe erfahren – als Christen. Deshalb schreibt Paulus den Römern in Kapitel 1, Vers 7 und spricht von allen Geliebten Gottes, den berufenen Heiligen in Rom.
Dies möchte ich dir heute als Kind Gottes zusprechen: Du bist geliebt mit einer ungeheuchelten Liebe und zugleich befähigt zu einer ungeheuchelten Liebe. Aber das ist nur möglich durch Gottes gnädiges Eingreifen in unser Leben.
Jetzt drängt sich die Frage auf: Wenn wir feststellen, dass wir durch den Heiligen Geist befähigt worden sind, wie sieht es dann mit unserer ungeheuchelten Liebe gegenüber anderen Menschen aus? Wie steht es um unsere Liebe gegenüber den Menschen in unserem Umfeld?
Kann es sein, dass unsere Liebe oft gar nicht so selbstlos ist, wie wir meinen? Vielleicht begegnen wir Menschen und begrüßen sie freundlich, doch eigentlich geht es uns dabei darum, dass sie später gut von uns denken. Hinterfragen wir doch einmal wirklich unsere Motive.
Wenn ich das tue, werde ich immer schockierter über mich selbst. Ich höre einer Person zu, die Nöte hat, reagiere einfühlsam und verständnisvoll. Doch wenn ich anschließend mein Herz überprüfe, stelle ich fest, dass ich es nur getan habe, damit die Person denkt: „Was für einen einfühlsamen Pastor habe ich da.“ Das drängt mich immer wieder zum Kreuz.
Es wird mir immer wieder deutlich, dass ich eine Baustelle bin. Meine Liebe ist oft weit davon entfernt, wirklich ungeheuchelt zu sein. Je mehr ich das feststelle, desto mehr erkenne ich, dass ich Vergebung brauche, Gnade brauche und Gottes Veränderung nach wie vor nötig habe.
Stell dir heute einmal die Frage: Ist deine Liebe wirklich ungeheuchelt, oder tust du so vieles nur, damit Menschen gut über dich denken?
Eines kann ich dir sagen: Wenn Jesus dir das aufzeigt, ist das zunächst einmal sehr, sehr ernüchternd und manchmal erschreckend. Doch es ist zugleich hoffnungsvoll, weil er uns trotzdem schon angenommen hat. Es gibt Hoffnung für uns am Kreuz.
Und so gehen wir wieder zum Kreuz und sagen: Herr, bitte verändere du mich. Bitte mach du aus mir einen Menschen, der wirklich liebt. Und Jesus tut es.
Paulus beginnt in den nächsten Versen damit, die ungeheuchelte Liebe näher zu erklären. Zunächst schildert er uns die Grundausrichtung dieser Liebe.
Liebe hat zwei Leitplanken, rechts und links. Das macht der zweite Teil von Vers 9 deutlich, wo es heißt: „Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten.“
Damit wir das richtig verstehen, betrachten wir auch die Grammatik. Es handelt sich hier nicht einfach um gleichwertige Aufforderungen, die nebeneinanderstehen: „Eure Liebe sei ungeheuchelt“, daneben „verabscheut das Böse“ und daneben „haltet fest am Guten“.
Vielmehr ist „Eure Liebe sei ungeheuchelt“ die Überschrift. Diese zeigt sich darin, dass wir das Böse verabscheuen und das Gute lieben.
Liebe verabscheut das Böse. Das ist mein erster Unterpunkt: Die ungeheuchelte Liebe verabscheut das Böse. Böse ist das, was Gott in seinem Wort als böse bezeichnet. Punkt. Das ist böse. Nicht nur explizit, sondern auch das, was Gottes Prinzipien oder sein Wesen verletzt – auch das ist böse.
Die Haltung der Liebe zum Bösen wird hier sehr klar durch das Wort „verabscheut“ ausgedrückt. Das ist ein heftig emotional geladener Ausdruck, der bereits Ekelgefühle beinhaltet: Liebe verabscheut das Böse.
Was Ekelgefühle sind, habe ich vor einiger Zeit bei einem Umzug kennengelernt. Ein Bekannter von mir ist umgezogen. Er hat ein Haus gekauft, und in der Einliegerwohnung oben wohnten noch Mieter. Er hat ihnen gekündigt – Eigenbedarfskündigung –, aber sie wollten nicht ausziehen. Irgendwann hat er ihnen angeboten: „Komm, wir machen einen Deal, ich helfe euch sogar beim Umzug.“ Sie sind auf den Deal eingegangen.
An dem Tag bin ich einfach an seinem Haus vorbeigegangen, habe gesehen, dass er umzieht, und gefragt, ob ich helfen kann. Er sagte: „Klar.“ Also habe ich mitgeholfen. Ich will nicht sagen, dass ich es bereut habe, aber es war kein schöner Umzug. Denn die Leute, die dort gewohnt haben, hatten zwanzig Ratten als Haustiere bewusst gehalten. Und alle Möbel dieser Leute waren voll mit Rattenurin.
Es hat gestunken, das kann ich euch sagen. Wir haben die Möbel angepackt und bis in den Abend beim Umzug geholfen, alles ins neue Haus gebracht. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, wollte ich meine Haustür nicht einmal mit der Hand öffnen. Rein, nichts angefasst, direkt unter die Dusche. Ich habe lange geduscht und geschrubbt.
Das Krasse war am nächsten Morgen: Ich stehe im Bad und will mir das Gesicht waschen. Dabei merke ich, dass es mich Überwindung kostet, mit diesen Händen in mein Gesicht zu gehen. Das ist Ekel. Und genau das meint das Wort „verabscheut“. Damit wir eine Illustration haben: Das Wort meint Ekelgefühle. Man könnte es auch mit „sehr hassen“ übersetzen, also etwas sehr zu hassen.
Wusstet ihr, dass Liebe hassen kann? Wir denken meistens, Hass ist das Gegenteil von Liebe. Manchmal ist das auch der Fall. Aber oft hängen Liebe und Hass sogar zusammen. Wir hassen, weil wir lieben.
Jetzt fragst du dich vielleicht: Wie funktioniert das, André? Ein einfaches Beispiel: Weil ich Kinder liebe, hasse ich Kindesmissbrauch. Weil ich jüdische Menschen liebe, hasse ich Antisemitismus. Aber der Hass wird noch einmal verstärkt durch die Liebe. Weil ich etwas liebe, bin ich nicht gleichgültig. Deswegen hasse ich das, was gegen das gerichtet ist, was ich liebe.
So müssen wir Liebe verstehen. Liebe kann hassen, Liebe verabscheut das Böse.
Eine wichtige Klarstellung: Paulus sagt hier nicht „verabscheut die Bösen“, sondern „verabscheut das Böse“. Wir hassen nicht die Menschen, die Böses tun, sondern wir verabscheuen das Böse, das Menschen tun. Das ist Liebe. Ungeheuchelte Liebe wird sich immer gegen das Böse stellen.
Aber nicht nur das: Es gibt auch die positive Seite. Ungeheuchelte Liebe verabscheut nicht nur das Böse, sie hält auch fest am Guten. Paulus sagt: „Haltet fest am Guten.“ Und auch das ist so ein starkes Wort. Ähnlich wie das Wort „verabscheuen“ sehr kraftvoll ist, so ist auch das Wort „haltet fest“ ein sehr, sehr starkes Wort.
Es ist eigentlich ein Beziehungswort. Diejenigen von euch, die die Geschichte vom verlorenen Sohn kennen, wissen, dass dort steht: „Und er hing sich an die Bürger des Landes in seiner Not.“ Oder in der Apostelgeschichte: Paulus kommt zum Glauben, und als frisch Bekehrter hängte er sich an die Christen. Jesus verwendet dieses Wort in Matthäus 19, wenn er über die Ehe spricht. Er sagt, ein Mann wird Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen. Das ist dieses Wort – eine unauflösbare Beziehung, die Ehe.
Das heißt, diese starke Nuance kann dieses Wort haben. Man könnte formulieren: Die Liebe ist eine unauflösbare Beziehung zum Guten eingegangen. Sie wird am Guten festhalten – das macht die Liebe aus. Wer liebt, verabscheut auf der einen Seite das Böse, und verpflichtet sich auf der anderen Seite für das Gute.
Gottes Wort ist der Maßstab dafür, was gut und was böse ist. Douglas Moo, ein Ausleger, den ich sehr schätze, schreibt: Echte christliche Liebe, so Paulus, ist keine richtungslose Emotion oder etwas, das nur gefühlt und nicht ausgedrückt werden kann. Liebe ist nicht echt, wenn sie jemanden dazu bewegt, etwas Böses zu tun oder ihn daran hindert, das Richtige zu tun, wie von Gott in seinem Wort definiert.
Ich finde, das ist sehr, sehr gut zusammengefasst. Liebe ist keine richtungslose Emotion, Liebe findet nicht alles okay, Liebe sagt nicht zu allem Ja und Amen. Liebe sagt Ja zum Guten, aber auch Nein – ganz entschieden – zum Bösen. Liebe hat ganz klare Überzeugungen. Und ich glaube, es ist so erfrischend für uns, dieses klare Profil der Liebe wieder einmal neu festzuhalten.
Wenn wir jetzt mit diesem Verständnis auf unsere Gesellschaft schauen, dann müssen wir sagen: Unsere Gesellschaft hat ein Problem mit Liebe. Unsere Gesellschaft hat den Begriff „Toleranz“ vor einiger Zeit verändert. Früher bedeutete Toleranz: „Ich ertrage dich, obwohl ich anderer Meinung bin.“ Und das ist durchaus eine Toleranz, die biblisch vertretbar ist.
Aber heutzutage bedeutet Toleranz: Du musst das, was meine Meinung ist und meinen Lebensstil befürworten. Sonst bist du nicht tolerant. Unsere Gesellschaft diktiert uns eine Toleranz, die allem gegenüber zustimmen muss.
Josh McDowell und sein Sohn Sean McDowell haben ein wunderbares Buch geschrieben. Das Buch heißt „The Beauty of Intolerance“ – die Schönheit der Intoleranz. Es geht hier letztendlich um ungeheuchelte Liebe. In diesem Buch schreiben sie zum heutigen Verständnis der Toleranz Folgendes:
„Das ist so wichtig, dass wir das verstehen, denn das begegnet unseren Jugendlichen jeden Tag an der Uni und uns auf der Arbeit. Gesellschaftliche Toleranz besagt, dass das, was jeder Einzelne glaubt oder sagt, gleichermaßen richtig und gültig ist und dass die Überzeugungen oder das Verhalten des Einzelnen nicht beurteilt oder kritisiert werden sollten. Das heißt, sie glauben, dass es keine Moral gibt, die für alle richtig ist. Mit dieser Doktrin haben nicht nur alle Menschen das gleiche Recht auf ihre Überzeugungen, sondern sie haben auch das Recht, so behandelt zu werden, als ob ihre Überzeugungen sowie die Überzeugungen aller anderen gleich wären. Alle Werte sind gleich, alle Wahrheitsansprüche sind gleich.“
So tickt unsere heutige Gesellschaft. Das ist eine sehr zutreffende Beschreibung. Aber wisst ihr, worüber wir uns klar werden müssen? Wenn alles gleichwertig ist, dann verwechselt man Toleranz mit Beliebigkeit. Eine Gesellschaft, in der alles beliebig ist, hat aufgehört, wirklich zu lieben. Man hat den Liebesbegriff völlig entleert.
Wisst ihr, wir können als bibeltreue Christen nicht einfach tolerieren, wenn die Regierung das Verständnis von Ehe und Familie verändert. Wir werden die Menschen immer lieben – das ist unser christlicher Auftrag – aber wir können es nicht tolerieren, wenn die Regierung das Verständnis von Ehe und Familie ändert. Wir können es nicht tolerieren, wenn bereits Kinder und Teenager regelrecht motiviert werden, sich ihr Geschlecht selbst aussuchen zu können. Wir können es nicht tolerieren, dass ungeborenes Leben im Mutterleib getötet wird.
Und wisst ihr, warum wir es nicht tolerieren können? Weil wir lieben! Weil wir Gott lieben, weil wir Wahrheit lieben, weil wir Gottes Gebote lieben, weil wir ihn als Schöpfer lieben und weil wir wissen, dass seine Gebote gut für uns sind. Und deswegen, weil wir lieben, können wir dem nicht allem zustimmen.
Diese Grundausrichtung der Liebe hat aber auch Auswirkungen in anderen Bereichen. Auch in seelsorgerlichen Bereichen findet diese Art von Liebe sehr, sehr viel Anwendung.
Schaut mal: Eine Liebe, die am Guten festhält und das Böse verabscheut, sie kann bereit sein, eine Person anzuzeigen, die eine Straftat begangen hat. Und das ist immer noch im Namen der Liebe, weil Liebe das Böse verabscheut.
Diese Liebe, die hier geschildert wird, ist bereit, dem pornografiesüchtigen, dem drogensüchtigen Ehemann auch mal ein klares Ultimatum zu setzen: „Schatz, entweder holst du dir Hilfe bis dann – oder…“ Wenn ich das einer Frau sage, fühlt sich das für sie oft so an: „Oh, da mache ich meinem Mann doch Druck.“ Aber du liebst ihn, und deswegen verabscheust du das Böse. Deswegen wirst du mit einer liebevollen Hartnäckigkeit ihm helfen, das zu überwinden, weil es auch das Beste für ihn ist.
Ich hatte vor einigen Wochen wieder einen dieser sehr traurigen Telefonanrufe in meinem Dienst: Eine Frau, die völlig verzweifelt ist, weil ihr Mann, der auch in einer Gemeinde ist – beide nicht in unserer Gemeinde –, sie heftig schlägt, sie manipuliert, sie kontrolliert. Und ich habe dieser Frau mit Gedanken an Römer 12, Vers 9 gesagt: „Du darfst das nicht still hinnehmen.“
Oft schwingt da so ein falsches Verständnis von Unterordnung mit: „Ich muss als Frau ja alles mit mir machen lassen.“ Nein, musst du nicht, musst du nicht! Und du darfst es sogar nicht verschweigen. Du musst dich hier mutig gegen dieses Verhalten stellen – aus Liebe.
Und es fühlt sich für eine Frau oft so an: „Aber dann verpetze ich doch meinen Mann, wenn ich damit an die Öffentlichkeit gehe.“ Meine Antwort ist: „Du liebst ihn dann wirklich.“
Echte Liebe ist weit davon entfernt, eine Co-Abhängigkeit zu entwickeln. Echte Liebe legt die Wahrheit in Liebe auf den Tisch. Und all das sind Facetten von Liebe.
Aber das hat auch etwas mit unserem ganz persönlichen Leben zu tun. Wenn ich sage: „Jesus, ich liebe dich“, dann beinhaltet das immer, dass ich in meinem Leben bereit bin, mich nie mit Sünde zufrieden zu geben.
Ihr Lieben, ich leide häufig darunter – und ihr wahrscheinlich auch: Als wiedergeborene Christen leiden wir darunter, dass wir immer wieder in Sünde fallen. Wir wollen es nicht, aber wir fallen immer wieder.
Aber das, was einen wirklich wiedergeborenen Christen auszeichnet, ist: Er wird sich nie mit Sünde in seinem Leben arrangieren. Er wird kämpfen, manchmal bis aufs Blut, und sagen: „Jesus, hilf mir, diese Sünde noch mehr zu verabscheuen!“ Denn die Liebe verabscheut das Böse.
Aber wisst ihr was? Genau das ist auch die Liebe, mit der Jesus dich liebt. Weil Jesus dich so sehr liebt, wird er bis zu deinem letzten Atemzug daran arbeiten, die Sünde aus deinem Leben auszumerzen.
Manchmal benutzt er dafür einen Hammer, manchmal zerbricht er uns, manchmal tut das richtig weh. Aber seine Absichten sind so gut, weil er unser Heil sichern möchte. Und er lässt uns nicht laufen. Er sagt: „Ich geb mich hin, und ich werde daran arbeiten, Sünde in deinem Leben auszumerzen, weil ich dich so sehr liebe, dass ich dich nicht so lasse, wie du bist.“
Das ist nicht nur Hoffnung für uns, sondern auch für den, in dem ihr angefangen habt das gute Werk – er wird es vollenden. Das ist Liebe.
Uns kaputte Menschen lässt er nicht los, sondern arbeitet an uns, weil er uns so sehr liebt. Preist den Herrn für seine Liebe!
Diese ungeheuchelte Liebe hat eine ganz klare Grundausrichtung. Wir haben festgestellt, dass Liebe kein nebulöses Empfinden ist, wie es uns oft von Netflix und RTL vermittelt wird. Liebe ist keine vage Empfindung, sondern sie hat eine eindeutige Grundausrichtung.
Paulus fährt fort und betont, dass Liebe auch nicht nur theoretisch ist.
Und nun, liebe Zuhörer, wird es sehr praktisch in den nächsten Versen. Wir kommen zum dritten Punkt: die Ausdrucksweise der ungeheuchelten Liebe. Wie zeigt sich ungeheuchelte Liebe in der Gemeinde ganz konkret?
Der Text nennt sechs Punkte, die uns dazu dienen.
Erstens, in der Bruderliebe, Vers zehn, schreibt Paulus: „In der Bruderliebe seid herzlich zueinander.“ Wisst ihr, was wir darüber wissen müssen? Dieses Wort, übrigens im Griechischen Philadelphia, kennen wir vielleicht vom Brotaufstrich Philadelphia. Es bedeutet Bruderliebe. Adelphos heißt Bruder, Philia beziehungsweise Phileo bedeutet lieben – also Bruderliebe.
Dieses Wort war den römischen Christen schon vor ihrer Bekehrung bekannt. Philadelphia wurde einfach für die geschwisterliche Liebe innerhalb der Familie verwendet, also innerhalb der leiblichen Familie. Das ist kein neuer Begriff, den Paulus einführt. Was neu ist, ist der Rahmen. Paulus benutzt einen Begriff, der sonst immer für die geschwisterliche Liebe innerhalb der Familie verwendet wurde, um deutlich zu machen: Eure Familie ist jetzt größer geworden.
Es geht nicht nur um die leibliche Familie, sondern um die geistliche Familie. Deswegen nennt Paulus die römischen Christen Brüder – gemeint sind auch die Schwestern. Christen bilden untereinander eine neue geistliche Familie. Paulus sagt, dieses Miteinander in der Gemeinde, in der geistlichen Familie, muss von großer Herzlichkeit geprägt sein.
Ich hatte das Vorrecht, in einer intakten Familie aufzuwachsen. Das hatten viele hier im Raum nicht. Ich bin so dankbar und liebe meine Eltern bis heute. Ich habe zwei Geschwister, eine Schwester und einen Bruder, und ich liebe sie und auch ihre Familien. Meine Familie, meine Frau und meine Kinder sind die größten Segnungen in meinem Leben.
Aber ich weiß auch, dass ich eine geistliche Familie habe. Und das ist so etwas Kostbares und Schönes. Ich fühle mich verbunden mit so vielen Brüdern und Schwestern in ganz Deutschland und darüber hinaus. Aber lasst mich ehrlich sein: Vor allem hier liebe ich diese Gemeinde. Das ist unfassbar.
Oft, wenn ich das Abendmahl halte und in der ersten Reihe sitze, drehe ich mich um und sehe die Menschen. Einige sind vor kurzem zum Glauben gekommen. Ich war sogar beim Gespräch dabei, durfte Geburtshelfer für die Wiedergeburt sein und habe ihr Zeugnis gehört. Dann sehe ich gestandene Geschwister, die seit zwanzig Jahren treu hier sind. Zusammen bilden wir eine neue geistliche Familie.
Ich möchte euch einen Einblick in mein Herz geben: Das sind bewegende Momente in meinem Leben. Wenn ich in die Reihen schaue und sehe, was Gott hier getan hat und tut, dann seid ihr meine Lieblingsgemeinde. Köln Ostheim ist etwas Wunderbares, und ich spüre eine tiefe Zuneigung zu den Brüdern und Schwestern hier.
Paulus sagt, genau das muss Gemeinde ausmachen. Es geht nicht nur um die leibliche Familie, sondern um die geistliche Familie – zumal es hier Geschwister gibt, die keine leibliche Familie haben. Umso wichtiger ist es, dass die geistliche Familie greift.
Manchmal finde ich es traurig, wenn einige Geschwister nur mit ihrer leiblichen Familie zu tun haben – Familienclans innerhalb der Gemeinde. Dann denkt man: Wir bekommen so viele neue Leute, wir bräuchten dich jetzt eigentlich. Häng doch nicht nur mit deiner leiblichen Familie ab, sondern kümmere dich um die geistliche Familie.
Übrigens hat Jesus die leibliche Familie zugunsten der geistlichen Familie relativiert. Er hat sie nicht aufgehoben, denn am Kreuz sorgte er für seine Mutter. Aber es gibt eine Situation, in der Leute zu Jesus kamen und sagten: „Hier, deine Mutter, deine Brüder wollen dich sprechen.“ Jesus antwortete: „Wer ist denn meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ Er blickte in die Reihen der Gläubigen und sagte: „Das sind meine Mutter und meine Brüder.“ Damit hat Jesus den Stellenwert der geistlichen Familie hochgehoben.
Meine Frage an dich ist: Inwiefern investierst du dich in die geistliche Familie? Ungeheuchelte Liebe zeigt sich immer darin, dass ich eine herzliche, reine Zuneigung zu meinen Glaubensgeschwistern habe. Das ist kein vorbildliches Christsein, das ist normales Christsein.
Ein wirklich wiedergeborener Mensch hat in sich – natürlich gibt es mal schwache Phasen, die haben wir alle – grundsätzlich den Wunsch und das Bedürfnis nach geistlicher Gemeinschaft mit Glaubensschwestern und -brüdern. Das ist normales Christsein, nicht einmal vorbildliches Christsein.
Wenn du heute Morgen feststellst, dass du oft gleichgültig warst oder dich sogar über Entwicklungen geärgert hast – zum Beispiel, dass so viele neue Leute kommen und du deine alte Gemeinde zurückhaben möchtest – dann tue Buße. Nimm am Kennenlern-Abend teil, lerne die neuen Familienmitglieder kennen. Schau ins Foyer, wer alles neu dazugekommen ist, und schließ dich einer Kleingruppe an. Eure brüderliche Liebe sei herzlich!
Der zweite Punkt betrifft nicht nur herzliche Zuneigung. Es geht auch um Ehrerbietung. Paulus sagt: „In Ehrerbietung einer dem anderen vorangehend.“ Es ist spannend, dass Paulus meint, es sollte in der Gemeinde einen regelrechten Wettbewerb geben, wer der Erste darin ist, den anderen zu loben und zu ehren. Einander mit Ehrerbietung, Wertschätzung und Ehre entgegenzutreten, einer dem anderen vorangehend.
Manche Leute sagen, man dürfe keine Menschen ehren. Doch wo steht das in der Bibel? Wir können Menschen ehren, wir sollen sogar Menschen mit Ehrerbietung begegnen. Das beginnt mit einer Haltung, wie sie in Römer 12,3 beschrieben wird: „Denn ich sage, durch die Gnade, die mir gegeben wurde, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als sich zu denken gebührt.“ Damit beginnt es: Nicht „Ich bin wichtig“, sondern „Die anderen sind viel wichtiger.“
Diese Haltung entspricht der von Jesus, wie sie uns in Philipper 2 beschrieben wird. Philipper 2,3 sagt: „Nichts aus Eigennutz oder eitler Ruhmsucht tut, sondern dass in der Demut einer den anderen höher achtet als sich selbst.“
Ehrerbietung ist also eine Haltung, die ich mitbringe, wenn ich in die Gemeinde komme. Ich sehe auf mein Gegenüber, auf die Geschwister, und sage: Sie sind wichtiger als ich. Christus hat so viel für sie bezahlt. Welchen Wert sie haben, möchte ich ihnen zeigen.
Ehrerbietung ist nicht nur eine innere Haltung, sie zeigt sich auch praktisch. Paulus liefert uns in Römer 16 eine Illustration, was es bedeutet, einander mit Ehrerbietung zu begegnen. Dort setzt er sich für die Schwester Phöbe ein und schreibt den Römern: „Kümmert euch um die Schwester Phöbe, denn sie ist mir ein Beistand geworden und vielen anderen.“ Er lobt sie öffentlich.
Weiter schreibt er: „Grüßt Aquilla und Priska, die für mein Leben ihren Hals gegeben haben, und alle Gemeinden sind ihnen dankbar.“ Bis heute lesen wir im Römerbrief von diesem Ehepaar, weil Paulus sie mit Ehrerbietung wertgeschätzt hat.
Er grüßt Maria, die viel gearbeitet hat, und die geliebte Persis, die viel gearbeitet hat.
Wie wird sich das auf das Gemeindeklima auswirken, wenn wir nicht hereinkommen und sagen: „Hey, begrüß mich! Nimm mich wahr, ich bin da.“ Stattdessen stellen wir uns selbst zurück, sehen die anderen, begrüßen sie freundlich, nehmen sie wahr, machen vielleicht ein aufrichtiges Kompliment und drücken unsere Wertschätzung aus. Das ist Gemeindeleben.
Wertschätzung drückt sich in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aus. Ich war einmal auf einem Missionseinsatz in Thailand. Dort grüßen sich die Thais mit dem Wai. Spannend ist: Je höher sie die Hand halten, desto mehr Ehre bringen sie der anderen Person entgegen.
Gegenüber Kindern bleibt die Hand unten, gegenüber Erwachsenen und Senioren wird die Hand höher gehalten. Das ist das Höchste an Ehrerbietung.
Wir wussten das nicht und haben alle einfach so gegrüßt. Aber eigentlich sollten wir in der Gemeinde, wenn wir das geistlich übertragen, alle einander so begrüßen: mit Ehrerbietung, einer dem anderen vorangehend.
Wir sind befreit vom Streben nach Anerkennung. Unser Becher ist voll in Christus. Deshalb können wir einfach geben.
Drittens zeigt sich ungeheuchelte Liebe ganz praktisch in der Einsatzbereitschaft. Vers elf sagt: „Seid im Fleiß nicht säumig, brennend im Geist, dem Herrn dienend.“ Drei Aussagen, die man zusammenfassen kann unter die Überschrift Einsatzbereitschaft. Luther übersetzt es so: „Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt, seid brennend im Geist, dient dem Herrn.“
Das Wort „dienen“ ist ein sehr starkes Wort. Es wird auch für Sklavendienst verwendet. Deshalb denke ich, dass hier vielleicht eine Anspielung auf Römer 6 vorliegt. Paulus sagt dort, wir seien nicht mehr Sklaven der Sünde, sondern jetzt Sklaven der Gerechtigkeit. Wir sind befreit von diesem ichsüchtigen Leben durch das Evangelium. Wir sind jetzt frei, uns wirklich reinzuhängen. Paulus greift das hier auf und sagt: „Dient dem Herrn!“
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Predigt zu Römer 12,1, die von völliger Hingabe handelt. Paulus sagt: Angesichts dessen, dass Christus alles für uns gegeben hat, sind wir jetzt aufgefordert, aus Dankbarkeit – nicht um etwas zu bekommen, denn wir haben alles in Christus – uns ihm ganz zur Verfügung zu stellen.
Wie zeigt sich das praktisch? In der Einsatzbereitschaft. Seid brennend im Geist, dient dem Herrn! Viele Gemeinden und auch viele Mitarbeiter unserer Gemeinde stöhnen manchmal, weil die Last des Dienstes nach einiger Zeit schwierig wird. Manchmal hört man: „Ich mache Aufrufe, hey, kommt, wir brauchen ein paar Männer, die mit anpacken, beim Baueinsatz oder bei der Obdachlosenhilfe.“ Und irgendwie melden sich so wenige.
Ich habe mich gefragt: Was ist der eigentliche Grund für mangelnde Einsatzbereitschaft im Leben eines Christen? Die Gründe sind sicher vielschichtig, aber ich habe den Eindruck, wir sind auch Kinder unserer Zeit geworden. Heutzutage ist es wichtiger denn je, sich zuerst die Frage zu stellen: Geht es mir gut? Wie fühle ich mich heute?
Diesen Gedanken von Work-Life-Balance finde ich übrigens in der Bibel überhaupt nicht. In der Bibel steht: „Seid brennend im Geist, dient dem Herrn.“ Dort steht nicht: „Achte darauf, dass du ja nicht zu kurz kommst.“ Ja, wir sollen auf unser geistliches Leben achten, aber wir sollen uns reinhängen in das Werk des Herrn.
Karl Truman, ein Historiker, dessen Buch „Der Siegeszug des modernen Selbst“ ich gerade lese, analysiert, warum die heutige Menschheit im Westen so tickt, wie sie tickt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Antwort vielschichtig ist. Aber vor allem prägt die heutige Menschheit ein Fokus auf das Innere, er nennt es den psychologischen Menschen.
Der Mensch fragt heute viel mehr: Wie geht es mir? Unsere Großeltern haben sich nicht morgens zuerst die Frage gestellt: „Geht es mir gut?“ Sie wussten: Nachkriegszeit, wir müssen ran! Heute dagegen lautet die Frage: „Wie geht es mir? Geht es mir gut?“
Karl Truman vergleicht das in der Menschheitsgeschichte und sagt: Der Athener in der Antike war der Volksversammlung verpflichtet, der mittelalterliche Christ seiner Kirche, und der Fabrikarbeiter des zwanzigsten Jahrhunderts seiner Gewerkschaft und seinem Arbeiterverein. Sie alle fanden ihr Wohl und ihre Bedeutung darin, sich in etwas einzubringen, das außerhalb ihrer selbst lag.
Doch in der Welt des psychologischen Menschen richtet sich diese Hingabe in erster Linie nach innen, auf sich selbst. Das erklärt vieles. Es erklärt Work-Life-Balance: „Ich darf mich nicht zu viel in der Gemeinde einbringen, sonst leiden andere Dinge darunter.“ Ich lese nur: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes.“ Ich lese nichts von Work-Life-Balance.
Was ich immer wieder höre, sind Mitarbeiter, die sich richtig reinhängen. Zum Beispiel Jan Suckau, dem immer wieder gesagt wird: „Oh, vorsichtig Jan, du machst zu viel!“ Aber man sollte sagen: „Lass ihn doch brennen für Christus!“ Das ist es, was gesagt wird: „Seid brennend im Geist, dient dem Herrn!“
Und, ihr Lieben, es gibt so viele vorbildliche Mitarbeiter. Ich möchte hier nicht nur den Zeigefinger heben. Ich bin sehr dankbar für die Einsatzbereitschaft so vieler Mitarbeiter in unserer Gemeinde! Man gewöhnt sich fast daran. Aber wenn ich in andere Gemeinden komme, höre ich von Pastoren: „Was, ihr habt drei Gottesdienste? Was ist das denn für eine Arbeit für die Mitarbeiter?“ Und ich stelle fest, wie hoch der Einsatz hier ist: Musiker, Sänger, Ordner, Cafeteriamitarbeiter, Techniker – alle früh morgens hier.
Wisst ihr, wie lange wir schon diese drei Gottesdienste machen? Schon eine ganze Weile, ich weiß es nicht genau. Aber was ich weiß, ist, dass sich bei mir jedenfalls noch nie jemand beschwert hat, dass es zu viel geworden sei. Sie ziehen durch, weil sie brennend im Geist sind und dem Herrn dienen.
Meine Aufforderung heute ist: Wenn du wirklich sagst, du liebst, dann muss sich das in deinem Leben in einer brennenden Einsatzbereitschaft zeigen. Ich möchte euch als Ehepaare ermutigen: Verfallt nicht in diesen Eheegoismus, „Hauptsache, wir haben uns und uns geht es gut.“ Schmeißt euch als Ehepaar in das Reich Gottes.
Ich will dich ermutigen, wenn du einsam bist, wenn du Single bist: Stell dir nicht nur die Frage, wie es dir geht. Ich weiß, das ist eine Herausforderung, sicherlich. Aber stell dir nicht nur die Frage: „Wie geht es mir? Ich bin so einsam.“ Sondern schmeiß dich in das Werk des Herrn. Schau weg von dir selbst. Sei brennend im Geist, dien dem Herrn!
Das möchte ich liebevoll sagen und dich dazu ermutigen. Darin zeigt sich wirklich ungeheuchelte Liebe: Man brennt für den Herrn und zeigt es in der Einsatzbereitschaft.
Aber nicht nur darin, auch in der Ausdauer. In Hoffnung freut euch, in Bedrängnis haltet aus, im Gebet seid beharrlich.
Nicht immer geht es Christen gut. Manchmal geht es uns Christen wirklich schlecht. Vielleicht sitzt du gerade hier und denkst: „André, du sprichst von Einsatzbereitschaft, aber du weißt gar nicht, wie es mir gerade geht. Ich kann nicht mehr. Ich bin fertig. Mir geht es nicht gut.“
Wir Christen leiden auch, aber wir haben immer Hoffnung. Und ich möchte dir etwas Ermutigendes mitgeben, gerade jetzt, wenn du Zeiten durchlebst, in denen es dir nicht gut geht.
Vielleicht sind es gesundheitliche Sorgen, vielleicht psychische Herausforderungen, Eheprobleme, Kinder, die dir viele Sorgen bereiten, finanzielle Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste – all das können Bedrängnisse sein. Doch deine ungeheuchelte Liebe zeigt sich gerade in diesen Bedrängnissen, indem du einfach festhältst.
Glaube zeigt sich besonders stark dort, wo er nicht die Stützräder der Gefühle hat, sondern nur den nackten Glauben an die Verheißungen Gottes. „Ich fühle nichts, aber ich halte mich fest an die Zusagen Gottes.“ Das, ihr Lieben, ist ungeheuchelte Liebe.
Trotzdem festhalten: Echte Liebe ist kein Strohfeuer. Wisst ihr, wie ein Strohfeuer funktioniert? Es flammt ganz schnell auf und ist ebenso schnell wieder erloschen.
Echte, ungeheuchelte Liebe erkennt man an Menschen, die vielleicht seit Jahrzehnten durch Täler gehen und dennoch Christus lieben, an ihm festhalten und tun, was sie können. Das ist ungeheuchelte Liebe.
Und das möchte ich dir ermutigend mitgeben: Wenn du schon lange durchhältst, dann sieh das heute als Zuspruch und Bestätigung. Du liebst den Herrn, du liebst die Gemeinde, wenn du in der Hoffnung, die wir haben, ausharrst.
Fünfter und vorletzter Punkt: Ungeheuchelte Liebe zeigt sich ganz praktisch in der Hilfsbereitschaft bei den Bedürfnissen der Heiligen. Nehmt teil an den Nöten, die Geschwister haben. Kümmert euch um die Nöte der anderen.
Eine ungeheuchelte Liebe kümmert sich um einsame und kranke Personen und besucht sie. Sie sorgt sich auch um das Kind der alleinerziehenden Mutter. Oft haben wir nicht auf dem Schirm, was alleinerziehende Mütter alles durchmachen müssen. Sie können nicht bei jedem Frauentreffen dabei sein, weil sie keinen Babysitter gefunden haben.
Ungeheuchelte Liebe kümmert sich und hilft alleinerziehenden Müttern. Sie unterstützt beim Umzug, hilft finanziell und kocht für die Familie, in der gerade ein Kind geboren wurde. Sie besucht im Krankenhaus, kommt mit zur Beerdigung, um Trost zu spenden, hilft bei der Autoreparatur, nimmt sich Zeit für ein Seelsorgegespräch und bietet spontan einen Schlafplatz an.
Ungeheuchelte Liebe nimmt sich auch mal den Samstag frei, um auf dem Bau zu helfen. Das ist ungeheuchelte Liebe in Aktion.
So wollen wir als Gemeinde Liebe leben. So möchten wir sein. Ich wünsche mir so sehr für diese Gemeinde, dass man von ihr sagen kann: Köln Ostheim – da wird Liebe gelebt, sichtbar, eifrig und konkret. Hier setzen wir uns füreinander ein.
Und wisst ihr, wer uns motiviert? Christus, der unserer größten Not geholfen hat. Deshalb sind wir befreit, ihm zu dienen.
Ein letzter Punkt, und damit schließe ich: Gastfreundschaft. Ungeheuchelte Liebe zeigt sich in der Gastfreundschaft. Paulus sagt: „Nach Gastfreundschaft trachtet.“ Gastfreundschaft beschreibt die Liebe zu einer fremden Person.
Gastfreundschaft ist nicht, dass du dir heute Abend Dortmund gegen Augsburg anschaust, Freunde einlädst, grillst und eine gute Zeit hast. Das ist Freundschaft, nicht Gastfreundschaft. Gastfreundschaft meint die Liebe zu einer ganz neuen Person, die ich noch nicht kenne. Diese Person begegne ich mit Liebe. Das kann eine Einladung nach Hause sein, es kann aber auch einfach eine freundliche Begrüßung nach dem Gottesdienst sein. Das ist Gastfreundschaft.
Paulus sagt hier: „Nach Gastfreundschaft trachtet.“ Wisst ihr, was für ein starkes Wort das ist? Dieses Wort wird sonst im negativen Sinne für Verfolgung verwendet. Wisst ihr, wer Christen verfolgt, macht das gezielt: „Da ist er, den hole ich mir.“ Dieses Wort wird jetzt aber im positiven Sinne gebraucht: „Nach Gastfreundschaft trachtet.“ Das heißt mit Intention: Ich komme in den Gottesdienst, wir haben zu Hause mehr gekocht, und jetzt schaue ich in die Reihen – wer ist neu? Zack, du bist zu mir nach Hause eingeladen.
Gastfreundschaft bedeutet, ganz bewusst nach ihr zu trachten. Das haben wir als Gemeinde auf dem Schirm: Wo sind die Neuen? Es sind doch heute wieder Neue hier, sehe ich von hier vorne. Da gehen wir auf sie zu, begrüßen sie herzlich, weil wir sie von ganzem Herzen lieben.
In unserer Fünfjahresvision haben wir eine Gemeinde beschrieben, wie sie im Jahr 2026 sein soll. Zum Thema Gastfreundschaft haben wir Folgendes festgehalten: Im Jahr 2026 beschreibt die EF Köln die Gastfreundschaft als überwältigend. Neue Menschen werden im Foyer von herzlichen Ordnern und dem Welcome-Team liebevoll empfangen. Sie erhalten auf Wunsch Informationen zur Gemeinde und einen Gutschein für die Cafeteria. Wir arbeiten daran.
Zusätzlich hat die gesamte Gemeinde ein Herzensanliegen für neue Leute entwickelt, sodass eine spontane Einladung neuer Personen nach dem Gottesdienst eher die Regel als die Ausnahme ist. Stellt euch diese Gemeinde vor: Du kommst hierhin und bist überwältigt von der Liebe. Und ihr Lieben, das ist Gemeinde Jesu Christi.
Wir haben uns heute mit einem sehr praktischen Text beschäftigt. Am Anfang der Predigt haben wir festgehalten: Die Gemeinde ist kein Drehort für gespielte Liebe. Gemeinde ist ein Tatort für gelebte Liebe.
Möge der Heilige Geist diese Liebe in uns stärker werden lassen und sie sichtbar machen in unserer Gemeinde. Amen.