Die Gegenwart Gottes in der Schöpfung und unser Empfang
Liebe Geschwister,
wir dürfen diesen ersten Mai mit dem großartigen Lied „Schönster Herr Jesus“ beginnen. Dieses Lied ist durchdrungen von der Schöpfung Gottes, die mit Gottes Gegenwart und Heiligkeit erfüllt ist.
Man kann es sich ähnlich vorstellen wie bei Rundfunkwellen, die überall vorhanden sind. Auch bei Fernsehausstrahlungen ist das so. Doch um diese empfangen zu können, braucht man am Auto eine Antenne und ein Radiogerät. Außerdem muss man das Gerät einschalten und den richtigen Sender finden. Nur so kommt das, was unsichtbar durch die Luft schwebt, bei uns an.
Genauso ist es mit der Gegenwart Gottes, die alles erfüllt. Gott, der Himmel und Erde erfüllt, möchte auch bei uns konzentriert und aufgenommen sein. Er will bei uns sein, wenn wir uns ihm öffnen.
Der Bruder Laia hat uns heute mit seinem Gebet eröffnet, wie Samuel gesagt hat: „Rede, Herr, dein Knecht hört.“
Die Darstellung Jesu im Tempel und das Gesetz des Mose
Jetzt darf ich Sie bitten, dass wir Lukas 2 aufschlagen, das herrliche Kapitel von der Geburt unseres Herrn Jesus.
Allerdings, nach der Bethlehemgeschichte, lesen wir in Lukas 2, Vers 22: „Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn, das Kind Jesus, nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen.“
Wie im Gesetz des Herrn geschrieben steht, im zweiten Buch Mose, Kapitel 13: „Alles Männliche, das zuerst den Mutterschoß durchbricht, soll dem Herrn geheiligt heißen und man soll das Opfer dazu bringen, wie es gesagt ist im Gesetz des Herrn, ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben.“
Was für ein Begriff taucht da immer wieder auf? Dreimal wird das „Gesetz des Herrn“ erwähnt.
Der Apostel Paulus sagt im Galaterbrief: „Er ward unter das Gesetz getan.“ Der heilige Gotteswille, wie er dem Volk Israel bekanntgegeben war, hat sich unser Erlöser Jesus ganz hineingestellt. Er hat das Gesetz nicht abgetan, sondern sich ihm untergeordnet.
Paulus sagt, dass Jesus gekommen ist, damit er uns vom Gesetz erlöst, indem er es durchbricht. Aber zunächst war er gehorsam nach dem Gesetz.
Jetzt kommen Maria und Josef mit dem Jesuskind in den Tempel. Und siehe, sehr oft in der Bibel gibt es kein Füllwort, sondern eine Aufforderung zum Hinsehen: „Schau mal“, „guck“, „blick auf“, „aufpassen“. Johann Albrecht Bengel hat das mit „colligite animas“ beschrieben – „passt auf“, „schaut hin“, „stellt euch das vor“.
Simeon und die Erwartung des Trostes Israels
Ein Mann namens Simeon lebte in Jerusalem. Dieser Mann war fromm und gottesfürchtig. Es ist nicht ganz klar, ob dies nur eine Beschreibung seiner Eigenschaft war oder ob damit angedeutet werden sollte, dass er erst teilweise in die Gemeinschaft Israels aufgenommen war. Die Gottesfürchtigen standen sozusagen auf der Warteliste.
Simeon war gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels.
Nun, liebe Geschwister und verehrte Schriftgelehrte, was ist der Trost Israels? Es wird der Erlöser kommen, der Israel erlöst, wie es in Hesekiel 37 beschrieben wird. Dort heißt es, dass der Geist des Herrn über die Totengebeine kommen wird, damit sie lebendig werden.
Der Apostel Paulus sagt später: Warum wird es bei euch als unglaublich angesehen, dass Gott Tote auferweckt? Der Trost Israels ist das. Wir brauchen doch auch diese Auferweckungskraft Gottes. Ihr glaubt nach der Macht seiner herrlichen Stärke, die erwiesen wurde, als er Jesus von den Toten auferweckte.
Wir glauben nicht, weil wir fromme oder anständige Menschen sind, sondern weil Gott uns mit seiner Macht erreicht und zum Glauben geführt hat. Simeon wartete auf den Trost Israels – auf den Moment, in dem der Erlöser kommt, der uns von dem gottlosen Wesen abwendet.
Der Heilige Geist war mit ihm, und ihm war ein Wort vom Heiligen Geist zuteil geworden.
Simeons Begegnung mit Jesus und die Würde des Alters
Ach, liebe Schwestern und Brüder, wie schön wäre es, wenn Sie mit dieser Haltung in jeden Gottesdienst, jede Bibelstunde und jeden Hauskreis gehen könnten!
Lass mir ein Wort zuteilwerden, auch wenn es nur eine Zeile aus einem Lied ist. Lass es mir zuteilwerden durch deinen Geist. So war es auch bei ihm: Ein Wort war ihm durch den Heiligen Geist zuteilgeworden. Er solle den Tod nicht sehen, denn er hatte zuvor den Christus, den Herrn, gesehen.
Auf Anregung des Geistes kam er in den Tempel. Als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, was nach dem Gesetz Brauch war, nahm er das Kind auf seine Arme, lobte Gott und sprach: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast. Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“
Er durfte nicht sterben, bevor er den Heiland Gottes, den Tröster Israels, den Erlöser seines Volkes gesehen hatte.
Es ist die Würde des Alters, dass uns Ähnliches geschehen kann: dass wir nicht von dieser Welt gehen müssen, bevor uns ganz gewiss wird: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“
Das ist das Geschenk des Heiligen Geistes an uns. Und das sollte auch unser Anliegen im Alter sein: Herr, mach du es bei mir fest!
Herausforderungen des Glaubens im Alter
Denn im Alter kommen nicht nur die großen Erleuchtungen – die gibt es auch. Aber ich erlebe es besonders in der Begleitung von Gleichaltrigen, die von heute auf morgen in die Demenz abgesunken sind.
Da sagt mir einer, der mit mir in den Synoden der Evangelischen Kirche in Deutschland, in unserer württembergischen Synode war – einer der großen Leitenden des CVJM-Gesamtverbandes: „Rolf, ich kriege nicht mal mehr das Vaterunser zusammen.“
Eine 97-jährige Dame, die ihr Leben lang als Lehrerin den Kindern die Bibel lieb gemacht hat, als Religionslehrerin, sagt mir: „Ich habe Zweifel, ob das alles eigentlich stimmt oder ob das nicht bloß Erfindung ist.“
Der Teufel lässt nicht nach bis ins siebenundneunzigste Lebensjahr, um uns das zu rauben, was wir meinen zu haben. Nicht nur das: Die Gefährdung unseres Glaubens durch Demenz, durch Zweifel und durch Verhärtung des Unglaubens, den wir irgendwo mitschleppen – da hat uns irgendeiner eine ungute Wurzel in unser Leben hineingepflanzt.
Zweifel und das Gebet Jesu im Garten Gethsemane
Einer unserer Religionslehrer am Gymnasium hat gesagt: Woher weiß man eigentlich, was Jesus im Garten Gethsemane gebetet hat? Er war doch nur einen Steinwurf weit entfernt. Diese Frage überfällt mich immer wieder. Dann denke ich, die Jünger haben gut gehört, obwohl sie nur einen Steinwurf entfernt waren. Aber der Religionslehrer sagt, sie haben noch geschlafen.
In der Bibel steht, dass Jesus vierzig Tage nach der Auferstehung vom Reich Gottes gelehrt hat. Darin sagte er: „Liebe Leute, ich habe gebetet. Ihr habt zwar geschlafen, aber ich habe den Vater angerufen.“ Das ist möglich.
Zweifel können uns überfallen, Zweifel, die wir vielleicht schon seit dem siebzehnten Lebensjahr mit uns tragen. Irgendwann erwacht man daraus. Dann sagt man: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“
Jetzt gehören wir zu denen, über die Jesus gesagt hat: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Diejenigen, die erkennen dürfen, auch ohne sichtbare Beweise.
Das ewige Leben und die Erkenntnis Christi
Hohe priesterliche Gebet, Johannes 17: Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Christus Jesus, erkennen.
Liebe Schwestern und Brüder, es ist wichtig, dass uns im Alter, so sage ich gerne, Aha-Erlebnisse geschenkt werden. Es kommt darauf an, dass wir plötzlich Durchblicke bekommen und sich neue Perspektiven öffnen.
Vielleicht sind es altbekannte Tatbestände. Wir werden nicht die Ersten sein, die das entdecken. Doch für uns wird es plötzlich erleuchtet.
Neue Erkenntnisse im Alter: Beispiele aus Theologie und Alltag
Professor Peter Stuhlmacher ging, wie ich einst, ins Gymnasium und wurde später Professor der Theologie. Ich habe ihm einmal eine Ausarbeitung von mir geschickt, worauf er zurückschrieb: „Na ja, das ist eben das pietistische Verständnis.“
Jetzt, im Alter und seit er im Ruhestand ist, schreibt er plötzlich eine Schrift, in der er sagt: Jesus ist überhaupt nicht zu verstehen ohne Jesaja 53. Zuvor hatte er das pietistische Verständnis so abgetan. Doch plötzlich ist ihm klar geworden, ja, er ist erleuchtet worden. Der Allerverachtetste und Unwerteste, durch den wird der Plan des Herrn gelingen. Er, mein Knecht, der Gerechte, wird die Vielen gerecht machen.
„Er, der sich hinführen lässt wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, das nicht widerstrebt.“ Selbst Schweine und Ochsen widersetzen sich, doch Schafe lassen sich führen zur Schlachtbank. So geht auch Jesus hin. Der Vater ist alle Zeit bei mir.
Diesem Herrn Professor ist ein Durchblick geschenkt worden. Den Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus waren, war Jesus groß erschienen. Sie dachten: Er sollte Israel erlösen, er sollte der Erlöser sein. Als Jesus ihnen die Schrift ausgelegt hat, begann sogar ihr Herz zu brennen. Hoffentlich geschieht das immer wieder auch bei uns, dass die Herzen zu brennen anfangen: „Wie herrlich ist dein Wort!“
Doch dann, als er ihnen das Brot brach, erkannten sie ihn. Sofort rannten sie durch die Nacht nach Jerusalem und sagten: „Wir haben den Herrn gesehen.“
Es geht nicht darum, dass wir aus Pflicht anderen von Jesus erzählen. Die Menschen müssen spüren, dass wir ihm selbst begegnet sind, seine Gegenwart erfahren haben und einen Durchblick bekommen haben. Er lebt, mein Heiland.
Die Klarheit des Glaubens im Alter
Lassen Sie mich dazu einiges sagen, nämlich dass wir Jesus erkennen sollen. Neulich habe ich meiner Schwester geschrieben, dass es eigentlich interessant ist, wie im Alter vieles abfällt – jedenfalls ist das meine Erfahrung. Vieles von dem, was früher theologisches Rüstzeug war oder in Kommentaren stand, verliert an Bedeutung.
Ich habe dann geschrieben, dass manches plötzlich luzide, hell und klar wird, was man vorher gar nicht erkannt hat. Ich möchte Mut machen, dass gerade im Alter, wenn sehr viel von den täglichen Aufgaben, Pflichten und familiären Bedingungen wegfällt, wir plötzlich neue Durchblicke bekommen.
Es wird vom alten Reichspräsidenten Hindenburg berichtet, dass er noch auf dem Sterbebett gesagt hat: Früher hat man gesagt, er habe das Losungsbüchlein auf seinem Nachttisch liegen gehabt. Doch er sagte: „Ich bleibe dabei, ich glaube, dass Jesus Christus mein Heiland ist und dass ich mich seiner Gnade getrösten darf.“ Das ist Altersweisheit.
Er sagte: „Ich bleibe dabei, ich glaube, dass Jesus Christus mein Herr ist und dass ich mich seiner Gnade getrösten darf.“
Das erinnert mich an eine Zeit, als ich im siebten theologischen Semester eigentlich aussteigen wollte. Ich hatte das Gefühl, ich sehe nicht mehr durch die Fülle des Stoffes. Das Examen würde ich nicht schaffen.
Unser Repetent, der Stiftsassistent Fäkelmen aus Tübingen, sagte damals: „Warten Sie ab, bis das achte Semester kommt. Dann strömt plötzlich alles, was Sie gelesen und gehört haben, zusammen, und es passt alles zusammen.“
Er hatte Recht. Wenn das schon beim Studium so ist – bei einer solchen Fülle von Stoff, bei der man meint, man könne nicht mehr durchsehen und alles gar nicht behalten – wenn das zusammenströmt, dann gilt das erst recht im Alter.
Im Alter kann es sein – so hat es der Herr Jesus mit uns vor – dass vieles zusammenströmt und vieles wegfällt, was zweitrangig ist. Übrig bleibt nur das eine, was wirklich nötig und wichtig ist.
Die Würde und Erfahrung im Alter
Ich habe gestern von meinem Vater erzählt. Als er so im Sterben lag und man mit ihm schon gar nicht mehr sprechen konnte, hat er, der großer Pädagoge, Volkswirt war und leitender Mann im Kultusministerium, etwas gezeigt. Man spricht oft von großen Bildungsplänen und großen Zusammenhängen. Hat er schon etwas gesehen, dass in der Welt Gottes noch etwas anderes ist als unsere winzigen Häkelarbeiten, die wir auf dieser Welt machen?
Bruder Andreas Schäfer habe ich einmal gefragt, warum er mich, einen alten Knochen, eigentlich in die lange Steinbacher Höhe einlädt. Dort sagen so viele andere bei Konferenzen: „Oh, der ist alt jetzt, den brauchen wir nicht mehr.“ Er antwortete, dass die alten Brüder uns etwas zu geben haben, was viele der Jungen nicht geben können.
Ich weiß nicht, ob das bei mir stimmt, aber die Griechen, die gar nicht fromm waren, also Heiden, hatten den Rat der Alten. Sie wussten, dass auch in menschlichen Zusammenhängen die Älteren Erfahrung und Wissen besitzen. Bei uns, wenn ein Minister im Ruhestand ist, fragt keiner mehr nach Kohl oder Schröder. Sie sind weg vom Fenster, man braucht sie nicht mehr.
Stattdessen sollte man sagen: Wir brauchen eure Erfahrung. Wir brauchen einen Rat der Alten. Wie seht ihr die Geschichte? Ihr lauft doch mit eurer ganzen Volkswirtschaft gerade gegen die Wand. Wo soll das hinführen? Habt ihr nicht den Rat, was wir tun können?
Erst recht im Geistlichen ist es so, dass unser Gott uns die Würde gibt im Alter, damit wir erkennen dürfen.
Die geistliche Spannzeit im Alter
Mir hat sehr geholfen, dass der große jüdische Philosoph und Theologe Maimonides, der um 1200 gelebt hat – das ist schon lange her – Folgendes gesagt hat:
Gott legt seinen Leuten im Alter noch eine gewisse Spannzeit zu, eine Art Zulage. Diese Zeit erhalten sie, damit sie, wenn die beruflichen Verpflichtungen wegfallen, wenn die Sorgen um die Familie geringer werden und wenn das fleischliche Verlangen langsam abstirbt, die Möglichkeit haben, eine Antenne auszufahren nach den göttlichen Erkenntnissen.
So ist es, dass wir im Alter Großes erwarten dürfen.
Beispiele von Glaubensstärke trotz Demenz
Ich habe den Alten erlebt. Sie wissen, ich erzähle viele Geschichten, vergeben Sie mir das – das gehört auch zu alten Leuten. Unser Bruder Walter Tlach war ein großer Schriftkenner, Dekan in Württemberg und Leiter unseres Jugendwerks in der Nachkriegszeit. Später wurde er Gründungsrektor des Tübinger Albrecht-Bengel-Hauses, eines großen und wichtigen Studienhauses.
Im Alter ist er in die Demenz abgesunken. Seine Frau schaltete morgens den Fernseher ein, und er sah den ganzen Tag Bilder. Das ist eine Gefahr im Alter: dass wir uns von der „Kiste“ unterhalten lassen. Als ich ihn besuchte, fragte ich Walter: „Womit beschäftigt sich dein Geist?“ Da war es, als würde er wieder seine Vorlesungen in Tübingen halten. Er sagte, im Alten Testament laufen alle Linien auf eine Gestalt zu.
Ich hatte vorher gesagt: „Ich sei 53, er, der Gerechte, mein Knecht, wird die Vielen gerecht machen.“ Bei Jesaja steht auch: „Wie lieblich sind die Füße der Boten, die Frieden verkündigen“ (Jesaja 52,7). Darum heißt es, der Bote wird kommen. Und dann steht da: „Es wird der Erlöser kommen aus Zion“ (Jesaja 59,20). Alles läuft auf den einen zu.
Plötzlich war das Fernsehen nebensächlich, die Bilder bedeutungslos. Sein Geist war voll da und konzentriert auf Jesus. So etwas kann im Alter geschehen, selbst wenn wir in die Demenz abgesunken sind.
Ich habe Ihnen zuvor von unserem Bruder erzählt, der so plötzlich in die Demenz abgesunken ist und in der Synode tätig war. Ich sagte zu Walter: „Jetzt beten wir noch miteinander.“ Ich begann zu beten und dachte, ich wollte für ihn beten und mit ihm. Doch dann begann er und hörte nicht mehr auf. Er, der sonst kaum noch etwas über die Lippen bringt, strömte beim Gebet.
Er sprach voll Zusammenhänge – vom verfolgten Volk im Sudan, in China und Nordkorea, von der Arbeit im CVJM und den jungen Menschen, von der Generation, der wir Lasten auflegen. Alles wurde im Herrn gebracht. Er war wach und präsent.
Da ist auch die Frau Professor Doktor Kimmich, die in die Demenz abgesunken ist. Sie war unsere führende Persönlichkeit in der EKD-Synode und im Rat der EKD. Sie ist kaum ansprechbar, aber ich darf sie begleiten und betreuen.
Wenn wir anfangen zu singen – „Ich singe dir mit Herz und Mund, schönster Herr Jesu, die gültende Sonne“ – dann geht ein Vers nach dem anderen. Alles ist da, lebendig und hellwach. Danach sagt sie: „Das ist schön, dass der Geist wieder lebendig wird.“ Gott kann uns solche Augenblicke schenken – Durchblicke!
Der Unterschied zwischen theologischer Kenntnis und Herzensglauben
Doktor Erich Stange, der langjährige Reichswart der deutschen CVHM, war im Alter, als man ihn aus der CVHM verabschiedete, verantwortlich für den Aufbau der Telefonseelsorge in der Bundesrepublik. Doch mit der Zeit wurde er immer vergesslicher. Früher sprach man nicht von Demenz, sondern sagte, er sei „verkalkt“.
Eines Tages rief er mich an und sagte: „Bruder Schiffbruch, könnte ich nicht mal mit Ihnen sprechen? Können wir uns nicht treffen?“ Ich dachte nur: „Oh, liebe Zeit!“
Als wir dann bei einer Tasse Kaffee im Kaffeeraum des CVM saßen, sagte er: „Bruder Schiffbruch, mich beschäftigt eine Frage. Könnte es sein, dass ein Buddhist oder ein Hindu Theologie an einer unserer Fakultäten studiert, all das in seinen Geist aufnimmt, das Examen sogar mit sehr gut besteht und vielleicht noch einen Doktor macht, aber trotzdem Hindu bleibt und kein Christ wird?“
Plötzlich war der alte Mann, der kaum noch sprechen konnte, wieder ganz präsent. Man merkte, womit sich sein Geist von Gott her beschäftigte. Er bekam Durchblicke und erkannte, dass es einen Unterschied gibt zwischen theologischem Bürgerwissen und dem, was das Herz wirklich prägt.
Die Größe Gottes und die Hoffnung auf Auferstehung
Es handelt sich um eine Ausgabe von Ideaspektrum mit einem Interview von Professor Robert Speymann. Kreiser Professor, eine interessante Frage an Sie: Wir sind doch im Weltall nur winzige Minikügelchen auf der Erde, eingebettet im unendlichen Raum des Weltalls. Warum hat Gott überhaupt unsere kleine Erde als Wohnort geschaffen? Wenn die Toten auferstehen, alle Generationen, wo sollen sie auf unserer Erde Platz finden? Nicht auf der Theresienwiese, die reicht nicht aus, auch nicht auf dem Cannstatter Wasen oder dem Tempelhofer Flugfeld.
Professor Speymann antwortet darauf: Mir ist gekommen, dass, wenn Himmel und Erde vergehen werden – wie es in der Bibel steht –, und wenn es heißt, dass wir durchs Feuer hindurchgehen, Gott im unendlichen Weltraum ganz neue Ebenen und Begegnungsflächen schaffen kann. Für alle, die Gott erwecken wird.
Diese Frage hat oft meine Frau beschäftigt: Wo treffen wir uns einmal alle, die verstorben sind? Es kann hier sein. Der alte Professor Speymann hat einen Blick bekommen, einen Durchblick, eine Antwort.
Respekt vor dem Alter und das stellvertretende Leiden
Mein Freund Ayit Fernando aus Sri Lanka, früher Ceylon, war einmal Kandidat für die Position des internationalen Direktors der Lausanner Bewegung. Er sollte Asien vertreten, ich sollte Europa vertreten. Doch während der dreistündigen Befragung unseres Kandidaten hat er kein Wort gesprochen.
Nachher fragte ich ihn: „Ayit, warum hast du geschwiegen?“ Er antwortete, dass der Mann, den wir als Kandidaten hatten, einige Jahre älter sei als er. In Asien sei es unmöglich, dass ein Jüngerer einen Älteren kritisch befragt. Man habe großen Respekt vor dem Alter.
Dieser Ayit Fernando ist jetzt auch mit mir älter geworden. Neulich hat er ein wunderbares Bild geprägt. Er fragte, warum wir eigentlich behaupten, die Vorstellung vom stellvertretenden Leiden des Herrn Jesus sei etwas Undenkbares oder Unnatürliches. Dabei sei unser Blut so beschaffen, dass es genau das widerspiegelt.
Wenn wir die kleinste Verletzung haben, beginnt ein Wunder der Schöpfung. Ein bisschen infiziert, kommen die weißen Blutkörperchen und nehmen den Kampf mit dem Eindringling auf, der uns vergiften will. Dabei opfern sie ihr Leben. Die toten weißen Blutkörperchen sind das, was wir als Eiter bezeichnen – Opfer, damit der Körper gesund bleibt.
So sagt Ayit Fernando, ist das stellvertretende Leiden bereits in unserem Blut angelegt. In jedem von uns, in unserem Körper, ist organisch ein stellvertretendes Leiden vorhanden. Lasst die Zweifler behaupten, was sie wollen – das ist eigentlich etwas ganz Natürliches, das in uns angelegt ist.
Die Sünde und das Leben mit Jesus
Wilhelm Weigle, der große Seelsorger der Evangelischen Jugend, nach dem das Essener Jugendhaus, das Weiglehaus, benannt ist, hat sich als alter Mann besonders als Seelsorger unter jungen Leuten bewährt. Er war auf besondere Weise mit dem Weiglehaus verbunden. Sein Nachfolger war Wilhelm Busch. Die Menschen im Weiglehaus sagten oft: „Wir haben die älteste Kanonenfabrik in Essen, den Krupp, und wir haben den ältesten Jugendpfarrer der Welt.“
Als Wilhelm Busch 64 Jahre alt wurde, wurde er von seiner Kirchenleitung nie vergessen – genauso war es schon bei seinem Vorgänger Wilhelm Weigle. Weigle war als alter Mann ein kleiner, verschrumpelter Mann, der Jugendseelsorger blieb. Einmal fragte ihn ein junger Mann: „Herr Pastor Weigle, jetzt hat mir Jesus die Sünde vergeben. Ich möchte doch mit Jesus leben, aber immer wieder kommt die Sünde in mein Leben. Ist da etwas kaputt, oder kann man sich auf Jesus nicht verlassen?“
Darauf antwortete Weigle: „Weißt du, es ist so, als wenn dir ein Russkorn ins Auge fliegt.“ Damals war der Himmel über dem Ruhrgebiet nicht blau, sondern die Luft war durch die vielen Zechen und Krupp-Kamine voller Kohlestaub. Wenn dir so ein Kohlepartikel ins Auge fliegt, kannst du das nicht verhindern. Das passiert immer wieder. Dann tränt und schmerzt das Auge, bis du den Fremdkörper endlich herausbekommst.
So ist es auch bei einem echten Christen: Er gibt sich nicht damit zufrieden, wenn die Sünde wiederkommt, sondern er leidet darunter, bis er sie vor dem Herrn Jesus bereinigt hat. Das ist ein wunderbares Bild, ein Bild aus der Schöpfung, um zu verdeutlichen, wie es ist, wenn auch wieder Sünde ins Leben eines Christen eindringt.
Solche Bilder helfen, durchblicken zu lassen, besonders bei älteren Menschen. Vor allem aber kann man durchblicken bekommen im Wort Gottes.
Johann Albrecht Bengel und die Bedeutung von Durchblicken
In Württemberg lebte der große Schriftausleger Johann Albrecht Bengel, Klosterpräzeptor von Denkendorf, das heißt Lateinlehrer bei jungen Burschen, die elf oder zwölf Jahre alt waren. Mit ihnen musste er sich beinahe drei Jahrzehnte herumärgern – so sind eben Burschen.
Bei jeder Berufung an die Fakultät nach Tübingen wurde er souverän übergangen. Man wollte den frommen Johann Albrecht Bengel nicht in Tübingen haben. Manchmal war er nahe daran, mit Gott zu hadern: Warum werde ich eigentlich vergessen? Gott, du hast mir doch große Gaben gegeben. Doch dann wurde ihm der Durchblick geschenkt. Er erkannte, dass er hier in seinem dunklen Denkendorf sitzen durfte. In hoc loco meo obscuro – in meinem dunklen Loch Denkendorf – ist er in den Mittelpunkt der Weltgeschichte Gottes gerückt. Dort erschließt ihm Gott die Bibel.
Bis heute gehört Bengels Gnomon zur Standardliteratur eines Theologen, auch noch 250 Jahre nach seinem Tod. Viele andere Kommentare sind längst vergessen, aber Durchblicke in die Schrift gibt es bei Bengel weiterhin.
Ich erzähle Ihnen auch von einigen Durchblicken, die ich in letzter Zeit bekommen habe. Wenn Jesus sagt, sein Sterben sei so, wie wenn das Weizenkorn in die Erde fällt, dann stirbt er. Wenn das nicht geschieht, bringt es keine Frucht. So erklärt Jesus sein stillvertretendes Leiden, sein Sterben – ganz normal, so wie in der Schöpfung.
Ich durfte dann weiterdenken: Überhaupt ist es so, dass wenn das Weizenkorn Frucht bringt, lauter Todesprozesse ablaufen. Zuerst kommt die scharfe Sense und mäht den Halm ab, dann wird er getroschen. So müssen wir uns als moderne Mähdrescher vorstellen, welche Erschütterungen das sind. Danach wird in der Mühle das Korn gemahlen, bis nur noch Puder übrig bleibt. Früher hat dann der Bäcker, zumindest die Teigmaschine, das Mehl weiterverarbeitet. Anschließend wird der Teig einer Hitze ausgesetzt, die keiner von uns in der Sauna aushalten würde.
Am Ende entsteht Brot zum Leben – durch lauter Todesprozesse hindurch. Vielleicht haben das viele vor mir auch schon entdeckt, doch für mich war es ein Aha-Erlebnis. Jesus führt uns auf die Spur: durch den Tod hindurch zum Leben, zum Leben für andere.
Die Hauptsache: Jesus als Hoherpriester zur Rechten Gottes
Aber die Hauptsache steht ja da: „Ich, Herr, du lässt deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast.“ In meinen Augen haben wir den Heiland gesehen, so wie die Jünger von Emmaus. Wir haben den Herrn gesehen.
Das ist das ewige Leben: dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.
Ich bin vor zwei, drei Jahren über Hebräer 8 gestolpert. Das ist nun die Hauptsache, wovon wir reden: Wir haben einen Priester, der zur Rechten Gottes sitzt.
Was, das ist die Hauptsache? Ich habe immer gemeint, die Hauptsache sei, dass man christlich und anständig lebt. Wenn Sie heute in unsere Kirchen hineinschauen, spielen Werte eine große Rolle. Es scheint, als ob das Hauptproblem Homosexualität sei, Pro und Contra, Abtreibung.
Die Hauptsache, die andere ist nicht nebensächlich, aber die Hauptsache, wovon wir reden, ist nicht, ob Kinder getauft werden, ob Säuglinge oder Erwachsene. Die Hauptsache ist: Wir haben einen Hohenpriester, der zur Rechten Gottes sitzt und für uns eintritt.
Das habe ich bisher in meiner Verkündigung nicht als Hauptsache dargestellt. Und in meinem Christenleben habe ich gesagt: Jesus, ich danke dir, dass du für mich gestorben bist, dass du mich liebst, dass du mich kennst.
Dann ist mir plötzlich aufgegangen, in Römer 8: Er ist zur Rechten Gottes und tritt für uns ein, tritt für mich ein. Morgens, bevor ich das erste Gebet sprechen kann, sagt Jesus zu seinem Vater: „Vater, pass auch auf den Schiffen auf, dass er keine Dummheiten macht.“ Er tritt für uns ein.
Der Hebräerbrief ist voll von dem Gedanken: Er ist zur Rechten Gottes.
Als ich diese Entdeckung meinem Freund, Professor Martin Hengel, gesagt habe – inzwischen nach schwerem Krebsleiden verstorben –, hat er gesagt: Ja, ich bin auch erst als Theologieprofessor darauf gekommen. Das am meisten im Neuen Testament zitierte alttestamentliche Wort ist Psalm 110: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege.“
Das ist das am meisten zitierte Wort. Ich möchte Sie auch mal auf die Spur setzen: Warum haben das die ersten Christen zitiert? Weil er aufgefahren ist. Er ist jetzt zur Rechten Gottes, er regiert mit, er kennt mich, und er tritt für mich ein.
Es war plötzlich ein ganz neuer Durchblick, den Gott mir geschenkt hat: Er, mein Heiland, der sein Leben für mich gegeben hat, tritt für mich ein.
Gottes Freude über unsere Erlösung
Im letzten Jahr erhielt ich eine Korrektur zu dem, was ich oft bei Evangelisationen und Vorträgen vertreten habe. Ich dachte immer: Wenn ich einmal vor dem heiligen Gott erscheinen muss, möchte ich am liebsten in den Boden versinken. Dann wird alles deutlich – jedes unnütze Wort, auch in Predigten, jedes unnütze Wort in der Kindererziehung, in der Ehe. Ach, Herr, wie kann ich dann bestehen?
Bisher habe ich immer gesagt: Jesus, mein Herr, wird vor den Vater treten und sagen: „Ich trete für Rolf Schäffbuch ein. Da ist vieles falsch gelaufen, aber ich bürge für ihn.“ Das war bis dahin mein Trost.
Plötzlich wurde mir klar: Gott ist doch nicht der Gestrenge, der streng und forschend auf mich schaut, bis endlich der treue, liebe Herr Jesus für mich eintritt. Vielmehr wird der Vater im Himmel strahlen vor Freude, weil Jesus mich gefunden und in seine Hand genommen hat.
Gott ist nicht der strenge Richter, sondern der, der jubelt darüber, dass sein Erlösungsprogramm sogar bei mir, Rolf Schäffbuch, zum Ziel gekommen ist. Der große Gott voller Liebe sehnt sich danach, dass wir seinen Erlöser, den Heiland Jesus, finden.
Dieser Durchblick ist für mich neu. Vielleicht haben ihn viele vor mir schon längst gesehen, aber ich durfte ihn erst mit 78 Jahren begreifen. Für mich war das ein entscheidender, neuer Durchblick.
Die Gerechtigkeit Gottes als zentrales Geschenk
Im Augenblick bin ich dabei, dass Gott mich auf die Spur gesetzt hat, dass das entscheidende Geschenk Gottes die Gerechtigkeit ist. Wir reden viel von Erlösung, und in der ganzen Welt benutzen Schriftsteller das Wort Erlösen und Erlösung öfter, als wir ahnen. Unsere Welt sehnt sich nach Erlösung – auch nach Erlösung von Selbstgerechtigkeit und Selbstzucht. Aber es gibt noch etwas anderes: „Er, mein Knecht, der Gerechte, wird die vielen gerecht machen.“
Ich bin auf diese Spur gesetzt worden. Schon einmal durfte ich hier in Langensteinbacher Höhe darüber sprechen, dass die Bibel viel von Gerechtigkeit redet. Gestern Abend bin ich jung gewesen, alt geworden und habe noch nie gesehen, dass Gott einen Gerechten verlassen hat. Das ist wahrscheinlich eine Spur, die auf den gerechten Jesus hinweist, ein Hinweis, der schon im Alten Testament zu finden ist. Erst dann wird das Wort voll verstanden.
Im Alten Testament wird jedoch nirgends gesagt, dass wir nichts Gutes tun können. Wir Menschen können unheimlich viel Gutes tun, wenn wir uns anstrengen. Die Welt wäre schon längst zerbrochen, wenn es nicht Menschen gäbe, die versuchen, das Gerechte zu tun. Aber im Propheten Jesaja heißt es: „All unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand.“ Wie ist das zu verstehen?
Da kann ich versuchen, bevor ich auftrete, ein einigermaßen sauberes Hemd zu haben, die Schuppen wegzukratzen. Dann sagt meine Frau: „So kannst du nicht unter die Leute mit diesem Fleck auf deiner Krawatte.“ Entschuldigung, 99,8 Prozent meines Outfits sind perfekt, doch 0,2 Prozent sind ein Fleck – so kannst du nicht unter die Leute. All unsere Gerechtigkeit – das heißt, es ist nichts.
Das ist hoffentlich sehr viel Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Entgegenkommen und Geduld. Hoffentlich. Aber so kann ich doch vor Gott nicht treten – mit der Panne, mit den paar Worten, mit dem Zorn, mit der Ungeduld. Das sind Flecken. „All unsere Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Gewand.“
Dann entsteht die Sehnsucht. Nicht nur die Sehnsucht, sondern auch die Zusage Gottes, dass er uns wie eine Braut schmückt mit dem bräutlichen Kleid. Gott breitet über uns seine Gerechtigkeit aus.
Wenn im Fernsehen das Bundesverfassungsgericht ein Urteil verkündet und die Richter mit ihren roten Roben erscheinen, sieht man nicht, was darunter ist. Ob sie Haare haben oder nur Haut, ob die Kleider darunter anständig sind oder nicht – alles ist zugedeckt.
So wird er mich überkleiden mit dem Kleid, mit dem bräutlichen Schmuck der Gerechtigkeit. In Korntal gibt es seit der Gründung der Brüdergemeinde 1819 die Tradition, dass die Glieder der Brüdergemeinde in einem weißen Sarg bestattet werden. Das ist sinnbildlich für all das Vergängliche, das Irdische, das nach drei Tagen nur noch nach Verwesung riecht – zugedeckt mit der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes.
Gib mir dort ein neues Kleid, welches Gerechtigkeit ist.
Die Bedeutung der Gerechtigkeit in Liedern und im Glauben
Es ist erstaunlich, wie wenig Lieder das Aufnehmen der Hauptsache betonen. Bei Jochen Klepper ist dies jedoch vorhanden. Er ist mir täglich nahe und spricht mich direkt an. Hiller gibt mir dort ein neues Kleid, das Gerechtigkeit symbolisiert. Zinzendorf spricht von Christi Blut und Gerechtigkeit, die mein Schmuck und meine Ehre sind.
Unsere Gesangbücher sind ansonsten voll mit tröstlichen Nachrichten. Zum Beispiel: „Weil mich festhält deine starke Hand“ oder das herrliche Lied „Stehen meines Herrn Hand alles wunderbar“. Diese biblischen Nachrichten sind wunderbar, doch das Entscheidende soll sein, dass ich, der ein beflecktes Kleid der Gerechtigkeit trage, mit seiner Gerechtigkeit überkleidet werde.
Dies ist die zentrale Aussage der Ankündigung in Jesaja 53. Er, mein Knecht, der Gerechte, an dem selbst seine Feinde nichts fanden, was gegen ihn sprach, wird die Vielen gerecht machen.
Ermutigung zum Erkennen und Erleben im Alter
Ich wollte Ihnen Mut machen, die Jahre, die Ihnen geschenkt sind, und die Tage gespannt darauf auszurichten, was Ihnen Ihr Herr an Erkenntnis mitteilt. Paul Gerhard schreibt: „Mein Auge schaut, was Gott gebaut zu seinen Ehren, und uns zu lehren, wie sein Vermögen sei mächtig und groß und wo die Frommen dann sollen hinkommen.“
Kritische Zeitgenossen sagen, das sei eine Transgression. Plötzlich komme er von der Schöpfung, von den Bäumen, vom Wald und von den Frommen. Das sei doch ein Bruch. Paul Gerhard hätte gesagt: Das ist kein Bruch. Ich sehe an der Schöpfung, was mein Gott kann und was er mit meinem sterbenden, vergänglichen Leib einst noch vorhat.
Vor ein paar Monaten waren die Bäume kahl und sahen nach nichts aus. Jetzt aber wird etwas daraus. Wir warten gespannt darauf, was unser Gott, der Schöpfer und Erlöser, tun kann. So wie er den Liederdichtern Durchblicke gegeben hat. Eigentlich sind unsere Kanäle voll von biblischer Kost und immer wieder von Durchblicken, die den Liederdichtern geschenkt wurden, damit auch sie das Alter dazu nutzen.
Ich habe angefangen, eine Kladde zu führen, die ich mit „Erkenntnisse“ überschrieben habe. Das hilft mir bei jedem Bibelabschnitt, den ich morgens lese oder auch bei der Vorbereitung meiner Dienste. So kann ich sehen, wo das Ungewöhnliche liegt.
Im Alter sind wir eigentlich in der Versuchung, bei vielen Predigten und Bibelarbeiten zu sagen: „Na ja, das haben wir auch schon einmal gehört, längst bekannt.“ Als ich das erste Mal als junger Mensch hörte: „Danken schützt vor Wanken, Loben zieht nach oben“, dachte ich: wunderbar, ausgezeichnet. Wenn ich es jetzt als Achtzigjähriger höre, sage ich: gut, abgehakt, habe ich schon längst gehört.
Die Gefahr des Alters ist, dass wir so viel schon gehört haben und deshalb nicht mehr zulassen, dass es in uns wirkt. Deshalb ist ein Geschenk des Alters, dass wir gespannt sind auf Erkenntnisse. Ich bin inzwischen bei der dritten Kladde „Erkenntnisse“ angelangt. Nicht jeden Tag, aber dann plötzlich ist es, als wenn sich eine Schneise öffnet und man einen Durchbruch hat: „Ach so, da gehört das hin.“
Beispiele von Durchblicken im Glaubensleben
Einige von Ihnen wissen das bereits, ich habe es schon einmal in unserer Gemeinde erzählt: In Schöndorf gab es eine alte Dame aus dem Baltikum. Vierzehn Tage nach ihrer Hochzeit wurde ihr Mann von den Bolschewisten erschossen. Sie war eine treue Helferin im Kindergottesdienst, eine regelmäßige Besucherin der Bibelstunden und Gottesdienste.
Sie hatte die Gewohnheit, dass sie manchmal plötzlich während einer Predigt oder einer Bibelstunde wie von einem Peitschenschlag überrascht aufrief: „Aha!“ Dann war sie ganz bei sich, denn ihr war ein Durchblick geschenkt worden. Sie hatte etwas begriffen.
Ich selbst möchte nicht sterben, bevor ich nicht solche „Aha-Erlebnisse“ gehabt habe, bevor ich nicht neue Erkenntnisse gewonnen habe. So wie der fromme Simeon im Tempel, der den Heiland Gottes erkannte und im Angesicht des Herrn Jesus die Herrlichkeit Gottes sah.
Herr, ich bitte dich, gewähre diesen Schwestern und Brüdern solche Erkenntnisse. Du, der Erbarmer, du hochheiliger Gott, der du vor dem Vater für uns eintrittst, gib uns Anteil an diesem ewigen Leben und an diesem Durchblick. Lass sich der Himmel öffnen, damit wir plötzlich erkennen, was uns längst verborgen war.
Schenke uns das Vorrecht, Wahrheit zu erkennen in einer Welt voller Lüge. Herr, du adelst uns mit dem, was du für uns bereit hast. Danke dafür. Amen!