Wissenschaft und Glaube im Spannungsfeld
Manche Menschen sehen einen großen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glauben. Besonders diejenigen, die von der Wissenschaft begeistert sind – zu denen ich übrigens auch gehöre. Ich selbst bin begeistert von Wissenschaft. Seit meiner Schulzeit lese ich gerne Bücher über Biologie, Geschichte, Physik und Chemie. Es fasziniert mich, was man durch Forschung alles entdecken und verstehen kann.
Es gibt jedoch Menschen, deren Begeisterung für die Wissenschaft dazu führt, dass sie sagen: Glaube ist etwas vollkommen Unsicheres. Glauben bedeutet eben nicht Wissen. Glauben ist eine niedrigere Form des Wissens. Wissenschaftliches Wissen hingegen ist perfekt, beweisbar und nachvollziehbar. Darauf kann man wirklich aufbauen. Glaube dagegen sei nur eine Sammlung von Vermutungen, etwas, das sich Menschen früherer Jahrhunderte ausgedacht haben. Und darauf wolle man sein Leben nicht gründen.
Hier entsteht also ein Gegensatz zwischen Glauben und Wissen: Wissen steht ganz weit oben, Glauben ganz weit unten. Ich habe jedoch den Eindruck, dass diesem Gegensatz ein Missverständnis zugrunde liegt. Auf der einen Seite bietet wissenschaftliches Wissen nicht immer das, was man sich eigentlich davon verspricht. Auf der anderen Seite ist der Glaube nicht so dumm, einfältig, oberflächlich oder willkürlich, wie es manchmal den Anschein hat.
Grenzen und Herausforderungen der Wissenschaft
Wenn wir uns mit der Wissenschaft beschäftigen, könnten wir mit Personen beginnen, die ganz am Anfang des wissenschaftlichen Forschens standen. Ein Beispiel ist Immanuel Kant. Er formulierte, dass das „Ding an sich“ – so nannte er es – eigentlich von Naturwissenschaftlern gar nicht erforscht werden kann.
An einfachen Beispielen lässt sich das verdeutlichen: Wenn Sie mein Hemd anschauen und ich Sie frage, welche Farbe es hat, würden wahrscheinlich viele von Ihnen sagen: „Das ist doch ganz klar, das Hemd ist blau.“ Immanuel Kant sagt zu Recht darauf, dass wir niemals genau sagen können, welche Farbe das Hemd tatsächlich hat. Denn das, was wir sehen, ist nicht das Hemd selbst, sondern das vom Hemd reflektierte Licht. Wir sehen also immer nur das Licht.
Wären wir beispielsweise in einem dunklen Keller und ich würde Sie fragen, welche Farbe mein Hemd hat, würden Sie wahrscheinlich sagen: „Es ist schon blau, aber ich kann es halt nicht sehen.“ Kant würde dem widersprechen und sagen: „Nein, in dem Moment hat das Hemd keine Farbe.“ Das bedeutet, dass das, was wir wahrnehmen, nie das Ding an sich ist, sondern immer nur das, was von dem Ding reflektiert wird – das Licht oder elektromagnetische Strahlung oder Ähnliches. Das schränkt schon die Möglichkeiten der Wissenschaft in gewisser Weise ein. Wissenschaft ist nicht perfekt, wenn schon unsere Augen und Wahrnehmungen nicht perfekt sind.
Das Ganze geht noch weiter. Leider bleibt es nicht dabei. Ein Beispiel ist die Heisenbergsche Unschärferelation. Werner Heisenberg, einer der bekanntesten deutschen Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts, wies darauf hin, dass wir nie gleichzeitig den Impuls und die Masse eines subatomaren Teilchens exakt messen können. Wenn wir diese Teilchen beobachten wollen, müssen wir sie mit etwas bestrahlen, zum Beispiel mit einem Elektronenstrahl im Elektronenrastermikroskop.
Dieses Elektron trifft dann auf ein anderes Elektron, das wir beobachten wollen. Dabei verändern sich gleichzeitig die Masse und der Impuls dieses Elektrons. In dem Moment, in dem es reflektiert wird und wir es beobachten, sind Impuls und Masse schon anders. Das bedeutet, es liegt nicht an den Geräten oder dem wissenschaftlichen Fortschritt, sondern es ist prinzipiell unmöglich, eine genaue Aussage über diese subatomaren Teilchen zu treffen. Hier zeigt sich, dass wissenschaftliches Wissen nicht hundertprozentig sicher sein kann.
Ein weiterer bekannter Wissenschaftler, Sir Arthur Eddington, ein englischer Naturwissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts, wies darauf hin, dass jede Naturwissenschaft durch ihre Methode beschränkt ist. Die Methode der Naturwissenschaft beeinflusst das Ergebnis. Er veranschaulichte das mit einem Beispiel: Ein Ichthyologe, also ein Wissenschaftler, der sich mit Fischen beschäftigt, möchte herausfinden, wie groß die Fische im Meer sind. Er durchkämmt das Meer mit einem Netz und stellt am Ende fest: Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter.
Ihnen ist wahrscheinlich klar, dass das Ergebnis dadurch zustande kommt, dass er ein Netz mit einer Maschenweite von fünf Zentimetern verwendet hat. Sie sagen zu Recht: „Dann nimmt er halt ein Netz mit kleineren Maschen.“ Gut, er nimmt eines mit zwei Zentimetern Maschenweite, und das Ergebnis lautet: Alle Fische sind größer als zwei Zentimeter. Dann sagen Sie: „Dann nehmen wir halt ein Netz mit noch kleineren Maschen.“ Schließlich nehmen sie eine große Betonplatte, die sie durchs Meer ziehen. Das Ergebnis: Es gibt gar keine Fische – denn an der Betonplatte bleibt nichts hängen.
Hier zeigt sich, dass jede Methode, die wir anwenden, das Ergebnis beeinflusst. Naturwissenschaft ist also nie vollkommen neutral. Allein durch die Auswahl der Instrumente und Methoden wird bestimmt, was am Ende herauskommt. Auch hier gibt es keine hundertprozentige Sicherheit.
Die im zwanzigsten Jahrhundert bekannt gewordene Chaostheorie weist ebenfalls darauf hin, dass Wissenschaft immer gewissen Beschränkungen unterliegt. In der Chaostheorie hat man, unter anderem durch den Nobelpreisträger Ilya Prigogine, festgestellt, dass bei sogenannten dissipativen Strukturen keine feste Berechenbarkeit möglich ist.
Die Chaostheorie zeigt auch, dass sogenannte Fraktale oder Schneeflocken zufällig entstehen und nicht exakt vorherberechenbar sind. Man kann nicht genau sagen, wie sie sich entwickeln. Wahrscheinlich verhält es sich in der Natur bei den meisten Phänomenen so, dass sie nicht exakt berechenbar sind, sondern nur eine kleinere Anzahl von Phänomenen folgt einer genauen Berechenbarkeit.
Auch die moderne Quantenmechanik weist darauf hin, dass das Verhalten eines Quantenobjekts nur mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden kann. Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, sondern nur Aussagen wie „mit dieser Wahrscheinlichkeit passiert das“ oder „mit dieser Wahrscheinlichkeit passiert etwas anderes“.
Thomas Kuhn hat in seinem Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ darauf hingewiesen, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht kontinuierlich verläuft. Meistens entstehen Durchbrüche an den Bruchkanten von Generationswechseln. Er zeigt an Beispielen, dass grundlegende Veränderungen in der Naturwissenschaft oft erst dann stattfinden, wenn eine Generation von Professoren ausgestorben ist.
Warum ist das so? Ein Professor ist keine neutrale Maschine. Seine wissenschaftliche Karriere hängt an bestimmten Erkenntnissen, die er verteidigt. Wenn diese in Frage gestellt werden, ist er geneigt, dagegen zu kämpfen. Nur die junge Generation, die Schüler, ist bereit, Denkbarrieren zu überschreiten. Sie wollen Karriere machen und können das am besten, indem sie neue Ideen vorbringen und sich gegen ihre Lehrer wenden.
Kuhn zeigt, dass dieser Prozess nicht zufällig ist. Wissenschaftler halten oft an ihren Ideen fest, obwohl sie diese eigentlich infrage stellen müssten. Der bekannteste Erkenntnistheoretiker der Gegenwart, Sir Karl Popper, ebenfalls ein Nobelpreisträger, hat in seinem Konzept des kritischen Rationalismus genau darauf hingewiesen – und noch auf mehr.
Popper formulierte, dass keine Wissenschaft, weder Geisteswissenschaft noch Naturwissenschaft, letztlich etwas verifizieren kann, also die Wahrheit von etwas beweisen kann. Man kann immer nur etwas falsifizieren, also die Unwahrheit nachweisen. Die optimale Wissenschaft funktioniert demnach so, dass man eine These aufstellt und versucht, sie zu widerlegen. Solange das nicht gelingt, gilt die These als wahr.
Das ist ein ganz anderer Anspruch als die Vorstellung einer vollkommen sicheren Naturwissenschaft, die alles beweisen kann und bei der es nichts gibt, was dagegensteht. Hier herrscht Skepsis: Man kann etwas behaupten, aber es gilt nur, bis es widerlegt wird. In der Praxis funktioniert Wissenschaft oft anders, weil das Widerlegen viel zu aufwendig ist. Wenn man etwas entdeckt hat, versucht man meist, es zu beweisen, nicht zu widerlegen.
Die Krönung dieser Erkenntnisse liefert Kurt Gödel, ebenfalls Nobelpreisträger in seinem Fachgebiet Mathematik. Sein Gödel’sches Unvollständigkeitstheorem zeigt, dass es kein System gibt – und er bezieht sich dabei auf die Mathematik, die als die reinste Form der Wissenschaft gilt –, in dem man, wenn man die Denkvoraussetzungen akzeptiert, einen vollständigen Beweis der Widerspruchsfreiheit erbringen kann.
Wenn das für die Mathematik nicht gilt, gilt es für keinen Bereich der Wissenschaft. Gödel beweist, dass keine Wissenschaft in ihrem eigenen System, das sie entworfen hat, einen Widerspruchsfreiheitsbeweis erbringen kann. Daraus folgt, dass keine Naturwissenschaft wirklich hundertprozentig sichere, unbezweifelbare Aussagen machen kann, die von außen unbedingt nachvollzogen werden müssen.
Man könnte das noch weiter ausführen, aber ein praktisches Beispiel sei noch genannt: Wissen Sie, wie lang die Küste Deutschlands ist? Vielleicht denken Sie, das ist einfach: Sie schlagen Ihren Atlas auf, messen nach und erhalten ein Ergebnis. Doch das Ergebnis hängt vom Maßstab der Karte ab.
Nehmen Sie eine Karte mit größerem Maßstab, ist die Küste plötzlich doppelt so lang. Wenn Sie die Küste selbst ablaufen und mit einem Metermaß nachmessen, ist sie noch viel länger. Wenn Sie dann berücksichtigen, dass Wasser in Ritzen und Kanten hineingeht, müssten Sie das mitmessen – die Küste wird noch länger. Zwischen einzelnen Sandkörnern geht Wasser rein und raus, und wenn Sie bis zum Ende dieser Überlegung gehen, müssten Sie sagen: Die Küste Deutschlands tendiert gegen unendlich.
Welcher Wissenschaftler oder Politiker will das wissen? Stellen Sie sich vor, Sie sind Deichbauminister in Niedersachsen und beauftragen einen Wissenschaftler, die Länge der Küste zu messen. Am Ende sagt er Ihnen, die Küste tendiert gegen unendlich. Was machen Sie dann? Sie könnten sagen: „Dann bauen wir keinen Deich, denn unendlich lange Deiche kosten unendlich viel Geld.“
Hier zeigt sich, dass auch diese Art von Wissenschaft nur einen gewissen Grad von Genauigkeit besitzt. Hundertprozentige Genauigkeit ist nicht möglich.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen: Wissenschaft ist großartig, aber sie kann nur bis zu einem bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit sichere Aussagen machen, mit denen wir leben können. Hundertprozentige Genauigkeit gibt es in keinem Bereich der Wissenschaft.
In den Geisteswissenschaften schon gar nicht. Wenn Sie sich mit der Interpretation von Goethes Gedichten beschäftigen, gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Der eine sieht es so, der andere anders. Niemand erwartet, dass das Wissenschaft im engen Sinne ist.
Das gilt auch für die Naturwissenschaften. Ich habe gerade gezeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse – insbesondere prinzipielle Erkenntnisse – die Grenzen wissenschaftlichen Wissens deutlich machen.
Der Wert des Glaubens neben der Wissenschaft
Und wenn wir jetzt vielleicht gesehen haben, dass das wissenschaftliche Wissen wunderbar und toll ist, aber eben nicht ganz so sicher, wie manche vielleicht den Eindruck haben, dann müssen wir auf der anderen Seite sehen, dass der Glaube nicht so dumm ist, wie manche das meinen.
Denn Glaubensaussagen sind ja nicht nur reine Vermutungen. Nicht umsonst wird Theologie auch an Universitäten studiert und somit zumindest von Seiten des Staates als Wissenschaft anerkannt. Innerhalb der Theologie gibt es den Bereich der systematischen Theologie. Dieser beschäftigt sich genau damit, dass die einzelnen theologischen Aussagen systematisch miteinander übereinstimmen.
Viele Aussagen der Theologie stimmen auch mit der Erfahrung der Menschen überein. Sie sind also nicht etwas, das vollkommen losgelöst von der Realität existiert. Auch das deutet darauf hin, dass hier mehr dahintersteckt als nur eine Behauptung. Es gibt eine gewisse Logik, die dahintersteht.
In vielen Bereichen besteht kein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glauben. Wir könnten zum Beispiel fragen: Was sagt die Geologie gegen den christlichen Glauben? Oder was sagt die Physik gegen den christlichen Glauben? Wo gibt es da Widersprüche?
Eigentlich gibt es diese Widersprüche gar nicht. Wir merken, dass die Wissenschaft nicht generell gegen den Glauben steht. Man kann die Wissenschaft schätzen und akzeptieren und gleichzeitig den Glauben annehmen.
Glaube und Wissenschaft sind nicht so zu verstehen, dass hier die Wissenschaft steht und dort der Glaube. Eigentlich sind sie auf Augenhöhe, beschäftigen sich aber mit unterschiedlichen Dingen.
Die Physik beschäftigt sich mit Phänomenen, die sie untersuchen kann, mit Materie. Glaube hingegen beschäftigt sich nicht mit der Materie der Physik, sondern mit Gott und damit, wie der Mensch Kontakt zu Gott aufnehmen kann.
Dieser Kontakt verläuft durchaus auch nach Regeln, die nachvollziehbar, logisch, stimmig und widerspruchsfrei sind.