Armselige Knechte

Unsere Stellung bei Gott
Konrad Eißler

Das Gleichnis vom Diener, der nur seine Pflicht erfüllt und keinen Dank erwarten kann, gibt eine dreifache Denkhilfe. Durch die Erinnerung, durch die Überlegung, durch die Hoffnung erkennen wir unsere Stellung bei Gott. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart


Ein Faulenzer war er nicht, der nur Ferien auf dem Bauernhof machte. Ein Nichtsnutz war er auch nicht, der nur auf eine gute Metzelsuppe aus war. Ein Tagdieb war er erst recht nicht, der nur die gute Landluft genießen wollte. Nein, dieser Knecht war ein Arbeiter, ein Schaffer, ein Wühler, der schon früh das Vieh versorgte und dann auf die Weide trieb. Anschließend ging es zum Pflügen auf den Acker. Mit einem Motorpflug und 200 PS kein Problem, aber mit einem Handpflug und zwei Ochsenstärken. Und dies bei 35 oder 40 Grad in der prallen Hitze. Der Mann war nach getaner Arbeit geschafft. Müde klopfte er die Schuhe aus, hängte seine Mütze an den Nagel und betrat das Haus. Feierabend, endlich Feierabend. Aber dann knüpfte ihm die Küchenfee eine Schürze um, drückte ihm ein Tablett in die Hand und schob ihn als Kellner in die Stube. Wenn das keine Diskussion gibt: Lohnerhöhung, Tarifverhandlungen, Feierschichten! Der Zahltag muss sich ändern! Wenn das keine Rebellion gibt: Streik, Arbeitsniederlegung, passiver Widerstand! Die Verträge müssen neu ausgehandelt werden. Wenn das keine Revolution gibt: Aufruhr, Ausbeuterei, Veränderung der Verhältnisse! Knechte aller Länder vereinigt euch! Aber bei Hofe gibt es keine Diskussion, Rebellion oder Revolution aufmüpfiger Knechte, sondern nur die Konfession, das Bekenntnis: Wir sind armselige Knechte.

Liebe Freunde, eine Bildgeschichte über das Leben bei Hof, gewiss, aber doch eine, die uns ins Bild setzen will über das Leben bei Gott und die uns jede Einbildung ein für allemal nehmen kann. Nun, Faulenzer sind wir nicht, die nur Ferien vom Ich machen. Nichtsnutze sind wir auch nicht, die nur eine ruhige Kugel schieben. Tagdiebe sind wir erst recht nicht, die nur dem lieben Gott den Tag wegstehlen. Nein, schaffige Leute sind wir, die von früh bis spät auf den Beinen sind. Wir versorgen unser Sach, wir erledigen unsere Aufgaben, wir tun unsere Pflicht. Rechtschaffene Leute sind wir, die deshalb abends rechtschaffen müde sind und alles Recht auf einen Feierabend haben. Aber dann bekommen wir eine Schürze umgebunden: “Schaffet, dass ihr selig werdet!” Dann bekommen wir ein Tablett in die Hand: “Wenn dein Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn.” Dann werden wir als sein Dienstpersonal in die Welt geschoben: “Dienet einander, ein jeder, mit der Gabe, die er empfangen hat.” Wenn darüber nicht diskutiert wird: Gute Werke, Übersoll, Platz im Himmel! Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Wenn an dieser Stelle nicht rebelliert wird: Gesetzlichkeit, Pharisäismus, Kirchenaustritt! Wir sind schon recht. Wenn wegen dieser Zumutung nicht revolutioniert wird: Gott ist tot, Abschaffung Gottes, Religion ist Opium fürs Volk! Aber bei Gott darf es keine Diskussion, Rebellion oder Revolution aufrührerischer Knechte geben, sondern nur die Konfession, das Bekenntnis: Wir sind armselige Knechte.

Väter sollen so sagen, die es zu einer ordentlichen Stellung, zu einem eigenen Haus und zu hohen Ehrenämtern gebracht haben: Wir sind armselige Knechte! Mütter sollen so sagen, die sich ein Leben lang nur für ihre Familie aufopferten: Wir sind armselige Knechte! Kinder sollen so sagen, die daheim spuren und in der Schule lernen, Ärzte sollen so sagen, die schon vielen Patienten helfen konnten, Schwestern sollen sagen, die um des Dienstes willen die Ehelosigkeit auf sich nahmen, Pfarrer sollen so sagen, die auf der Kanzel den Mund aufmachen, alle sollen es sagen, jeder muss bekennen: Wir sind armselige Knechte. Wie ist das möglich? Wie kommt man dazu? Wie kann so etwas über die Lippen kommen? Das Gleichnis gibt eine dreifache Denkhilfe, nämlich durch die Erinnerung, durch die Überlegung, durch die Hoffnung erkennen wir unsere Stellung bei Gott.

1. Die Erinnerung geht zurück in die Vergangenheit

Wie ist denn der Mann auf den Hof gekommen? War vielleicht im Staatsanzeiger eine Beamtenstelle für einen diplomierten Agrarexperten ausgeschrieben? Er hat sich beworben und aufgrund seiner glänzenden Examens die A13 Stelle erhalten. Aber er war kein Beamter auf Lebenszeit. - War vielleicht im Stellenmarkt der Wochenzeitung ein Angestellter gesucht worden, der als Kapo nach dem Rechten schaut? Er hat sich gemeldet und die BAT 5-Stelle bekommen. Aber er war kein Angestellter mit Tarifvertrag. - War vielleicht am Hoftor ein Schild aufgehängt: Wir stellen Arbeiter ein? Er suchte gerade einen Job und freute sich über das Angebot. Aber er war kein Arbeiter mit einer 40-Stunden-Woche. Nicht einmal ein Taglöhner war er, der für jede Arbeitsstunde 13 Mark kassieren konnte. Der Mann war ein doulos, ein Verschuldeter. Aus irgendwelchen Gründen war er in die roten Zahlen gerutscht. Trotz aller Bemühungen ging es immer weiter bergab. Schließlich war er bankrott, äußerlich und innerlich. Wer sein Geld los ist, ist auch seine Freunde los. Seine Lage war hoffnungslos. Er wäre verloren gewesen, wenn, ja wenn nicht eines Tages dieser Hofbesitzer aufgekreuzt wäre, der nicht nur ein Auge, sondern auch ein Ohr für das Elend hatte. Ihm ging die Schuldverfallenheit sogar ans Herz. Er litt darunter, dass der andere so viel leiden musste. Sein Mitleid war grenzenlos. Deshalb nahm er sich dieses Mannes an, stellte dessen Gläubiger zufrieden und gab ihm eine neue Existenz an seiner Seite. Bei Hofe war er endlich angenommen und aufgenommen. Kein Verdienst und Tüchtigkeit hat ihm diesen Platz verschafft, sondern ganz allein Gnade und Barmherzigkeit.

Liebe Freunde, sind denn wir als unkündbare Hofbeamte ins Reich Gottes gekommen, weil wir mit unserer Frömmigkeit geglänzt haben? Haben wir denn als leitende Angestellte einen Tarifvertrag mit Gott abgeschlossen, der uns einen sicheren Platz im Himmel garantiert? Können denn wir wie Arbeiter auf Überstundenbezahlung pochen und womöglich noch dafür streiken? Wer sind wir denn? War es nicht auch so, dass wir mit unserem Egoismus, mit unserer Lieblosigkeit, mit unserer Gottlosigkeit in die roten Zahlen geraten sind? Trotz allen Bemühungen, uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, ging es immer weiter hinab. Schließlich mussten wir den paulinischen Offenbarungseid leisten: “Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leib dieses Todes!” Jede Lebenslage ohne Gott ist hoffnungslos. Wir wären verloren gewesen, wenn nicht eines Tages dieser Gott im wahrsten Sinne des Wortes aufgekreuzt wäre; auf dem Kreuz sehen wir, dass er kein blindes Schicksal ist, sondern dass er Augen, Ohren und ein Herz hat. Er leidet an unserem Leid. Er trägt an unserer Last. Er stirbt an unserer Statt. So nimmt er sich unser an und begleicht unsere Rechnungen. Eine neue Existenz tut sich vor uns auf. Bei Gott sind wir um Jesu willen angenommen und aufgenommen. Keine Taufbescheinigung, keine Konfirmationsurkunde, keine Kirchensteuerbescheinigung, keine Liste guter Werke und keine großartige Frömmigkeit hat uns diesen Stand verschafft, sondern allein Gnade und Barmherzigkeit. Das ist nicht der Gott der Dichter, der Eisen wachsen ließ und keine Knechte wollte, das ist der Gott der Bibel, der Eisen durch seine Hand treiben ließ und Hausgenossen zu sich nahm. Wer sich daran erinnert, wird es gerne bekennen: Wir sind armselige Knechte.

2. Die Überlegung geht hinein in die Gegenwart

Wie soll es bei Hofe zugehen? Drehen wir einmal die Bildgeschichte um. Der Mann hat seine Feldarbeit getan. Müde klopft er den Schmutz ab, hängt seine Mütze an den Nagel und betritt das Haus. Feierabend, endlich Feierabend. Sofort spritzt der Chef vom Stuhl auf, streicht die Kissen auf dem Sofa glatt und ruft: Freund, leg dich aufs Canapé! Während der Knecht alle Glieder von sich streckt, bindet sich der Herr die Schürze um, holt in der Küche das Vesper und serviert dem Ermatteten neben dem Polster: “Ein Schlückchen Tee gefällig und ein bisschen Schinken mit Ei?” “Gerne”, murmelt der Knecht und fügt hinzu: “Zieh mir doch noch die Schuhe aus!” Genüsslich schlürft er seinen Tee. Kein Gedanke daran, dass hier etwas nicht in Ordnung sein könnte. Wer so viel arbeitet, darf auch ruhen. Wer so viel schuftet, darf auch feiern. Wer so viel dient, darf sich auch bedienen lassen. Neun Stunden sind genug!

Das kennen wir doch auch. Konfirmanden gehen ein Jahr lang zum Unterricht, passen auf und lernen ihre Sprüche, singen Lieder und lesen die Bibel, aber am Konfirmationstag ist Abschiedstag: 100 Konfirmandenstunden sind genug. Jugendliche gehen jeden  Dienstagabend von 7 bis 10 in ihren Kreis, spielen Billiard und Tischtennis, diskutieren und halten Andacht, aber sonst tauchen sie nicht auf: 3 Jugendstunden sind genug. Erwachsene gehen sonntäglich zum Gottesdienst, singen mit und hören zu, aber von Montag bis Samstag spielt dieser Gott keine Rolle: 1 Gottesdienststunde ist genug. Beim Spenden kann man es hören: 5 DM sind genug! Beim Helfen kann man es hören: 5 Besuche sind genug! Beim Beten kann man es hören: 5 Minuten sind genug! Jetzt ist Gott dran, uns Gutes zu tun, in der Schule, im Beruf, in der Familie, denn wer dient, darf sich bedienen lassen!

Verkehrte Welt! Als ob am Feierabend das Verhältnis zwischen Herr und Knecht plötzlich auf den Kopf gestellt werden könnte! Dass der Mann auch nach der Feldarbeit noch einige Handgriffe tut, ist doch selbstverständlich und keiner besonderen Erwähnung wert. Diesem Herrn gehört er nicht nur 9 Stunden am Tag, sondern 24. Diesem Herrn dient er nicht nur am Morgen und am Mittag, sondern auch am Abend. Diesem Herrn schuldet er nicht nur dies und das, sondern sich selbst. Weil er ihm ganz gehört, gehört ihm alles, seine Zeit und seine Kraft, seine Gaben und seine Fähigkeiten, sein Werktag und sein Sonntag.

Liebe Freunde, Gott braucht keine Gelegenheitsarbeiter, die nur dann zur Stelle sind, wenn sie gerade leere Taschen haben. Gott will keine Taglöhner, die einmal hier und einmal dort zu finden sind, Gott ist auf keine Mitarbeiter angewiesen, die auf den Glockenschlag genau den Hammer weglegen. Gott möchte nur die bei sich haben, die gerne bei ihm sind, denen es eine Ehre und Freude ist, bei Hofe zu sein und deshalb sagen: Herr, meine Kraft ist nicht groß, aber ich möchte sie für dich einsetzen; meine Fähigkeiten sind gering, aber ich möchte sie bei dir einbringen;  mein Eigentum ist bescheiden, aber du sollst darüber verfügen, denn ich besitze ja nichts, was du mir nicht schon vorher alles gegeben hast.

Wilhelm Löhe, der Seelsorger und Hausvater aus Neuendettelsau, formulierte es für seine Diakonissen so: “Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe. Mein Lohn ist, dass ich darf.” Nathan Söderblom, der sich als Theologe um die Einheit der Christen in der Welt mühte, ließ es auf seine Grabplatte im Dom von Uppsala gravieren: “Wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.” Und Rudolf Alexander Schröter dichtete in unserem Gesangbuch: “Wir dienen Herr um keinen Lohn, es wär uns selbst zu Schaden. Doch stehen wir um deinen Thron im Abglanz deiner Gnaden.” Wer sich das alles überlegt, muss im Blick auf sein Leben bekennen: Wir sind armselige Knechte.

3. Die Hoffnung geht in die Zukunft

Wie wird es auf dem Hofe einmal sein? Unsere Bildgeschichte hat eine Fortsetzung. An anderer Stelle wird davon berichtet. Jesus sagt es in seiner Wiederkunftsrede. Auf dem Hof wird nicht ewig gearbeitet. Auf dem Acker wird nicht ewig gepflügt. Auf dem Feld wird nicht ewig gehackt. Einmal stehen die Räder still. Einmal werden die Mützen weggehängt. Einmal werden die Hände in den Schoß gelegt. Einmal ist Feierabend, der große Feierabend, wenn Gott selber erscheinen wird. Und dann geschieht das Unbegreifliche und Unfassliche, dass dieser Herr tatsächlich sich die Schürze umbindet, eine Tafel richtet, die Kerzen anzündet, das Essen aufträgt und seine Knechte zu Tisch bittet: Kommt, denn es ist alles bereit! Alle Mühen sind vergessen. Alle Lasten sind vergangen. Alle Sorgen sind vorbei. Das Fest beginnt, wo Armselige glückselig sind.

Liebe Freunde, es bleibt nicht alles beim Alten. Es geht nicht dauernd im Kreis. Es wird nicht ewig geboren, gelitten und gestorben. Einmal ist die Weltenuhr abgelaufen. Einmal ist das Ende aller Dinge gekommen. Einmal ist die Zeit erfüllt, wenn Jesus wiederkommt und seine Verheißung wahrmacht: “Wahrlich, ich sage euch, er wird sich aufschürzen und wird sie zu Tisch setzen und zu ihnen treten und ihnen dienen.” Wer will dann nicht zu diesen glückseligen Armseligen gehören? Bis dahin aber lasst uns dranbleiben an der Arbeit, drinbleiben in der Liebe und dabeibleiben bis zum Schluss. Nur bei ihm sind wir wer.

Amen