Einführung: Die Herausforderung, über Leid zu predigen
Ich gebe zu, dass ich, als ich diese Predigt geschrieben habe, dachte: Ob diese Predigt im Abendgottesdienst funktionieren wird, weiß ich noch nicht. Das werden wir später sehen.
Es ist eine Predigt, die sich sehr stark mit Leid beschäftigt – mit intensivem Leid. Ein Leid, das Menschen mit mehr Lebenserfahrung viel wahrscheinlicher erlebt haben. Dennoch weiß ich, dass hier viele unter uns sitzen, die auch in jungen Jahren schon viel Leid erfahren haben. Vielleicht finden sie sich in den Worten des Predigttextes wieder.
Ich bin mir sicher, dass wir alle eines Tages Leid erfahren werden. Deshalb bete ich, dass diese Betrachtung uns heute darauf vorbereitet. Es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, dass wir gestärkt werden für die Zeiten, die kommen mögen. Vielleicht auch, um anderen beizustehen, die durch Zeiten des Leidens gehen.
Umgang mit Leid aus christlicher Perspektive
Aber wie sollte ein Christ überhaupt mit Leid umgehen?
Ich wurde einmal ganz persönlich gefragt: Wie gehst du mit Leid um?
In christlichen Kreisen gibt es verschiedene Ansichten dazu. Einige sagen, es sei sehr christlich, eine eher stoische Haltung einzunehmen. Gott ist souverän, Gott ist allmächtig, und wenn wir Leid erfahren, dann hat Gott das so gewollt. Deshalb sollten wir das getrost aus seiner Hand nehmen – so ist es eben.
Andere hingegen halten das für unverantwortlich. So könne man es nicht machen. Wir haben ja in der Bibel gelehrt bekommen, dass wir menschliche Verantwortung tragen. Wir müssen Dinge in die eigene Hand nehmen und aktiv werden. Das führt manchmal zu einem relativ hektischen Aktivismus, der oft noch mehr Leid verursacht.
Ich denke, Psalm 6 zeigt uns einen guten Mittelweg, eine sehr biblische Alternative zwischen dem Extrem des einfachen stoischen Ertragens und dem Ansatz, die Dinge jetzt selbst in die Hand zu nehmen.
Es ist das Gebet – das Gebet eines Leidenden.
Bedeutung der Allianz Gebetswoche und Einführung in Psalm 6
Heute beginnt die Allianz-Gebetswoche, die sich über die ganze Woche erstreckt.
Der Grund, warum am Donnerstag keine Bibelstunde stattfindet, ist nicht, dass wir an diesem Tag keine Lust auf Bibelstunde haben oder nicht beten wollen. Vielmehr möchten wir bewusst sagen: In dieser Woche wollen wir uns am Mittwoch gemeinsam mit zwei anderen Gemeinden in der Freien Gemeinde München Nord treffen und dort einen ganzen Abend Zeit zum Beten nehmen.
Deshalb findet die Bibelstunde am Donnerstag nicht statt, sondern stattdessen am Mittwoch das Gebet in der FG München Nord. Ich hoffe, dass viele von uns daran teilnehmen werden.
Teil sechs: Das Gebet eines Leidenden findet sich in den ausliegenden Bibeln auf Seite 539, etwa in der Mitte. Ich glaube, es hilft beim Zuhören, einfach die Bibel aufzuschlagen. Dort sehen wir dann in Vers ...
Wie so oft in den Psalmen gibt es im Prinzip eine Überschrift: „Ein Psalm Davids vorzusingen“. Das steht auf acht Seiten. Ein Psalm Davids vorzusingen macht gleich deutlich, dass wir hier nicht einfach nur zufällig mithören, wenn jemand betet.
Das ist ein Gebet, das Gott wollte, dass wir es hören. Es soll vorgesungen werden, damit Menschen wissen, was damals in David vor sich ging.
Aufbau und Ziel der Betrachtung des Psalms
Und der Psalm gliedert sich in zwei Hauptteile. Das ist ganz offensichtlich und war sicherlich schon beim Vorlesen sehr deutlich zu erkennen.
In den Versen 2 bis 8 sehen wir das eigentliche Gebet. In den Versen 9 bis 11 erkennen wir, was das Gebet bewirkt – das Resultat des Gebets.
Meine Hoffnung für diese Predigt ist, dass wir durch diese Betrachtung ermutigt und motiviert werden, gerade auch in Zeiten des Leidens und in schweren Zeiten zu Gott zu gehen und uns im Gebet Gott zuzuwenden.
Im ersten Teil, der zugleich der Hauptteil der Predigt ist, nämlich in den Versen 2 bis 8, wollen wir zwei Dinge betrachten: Zum einen die Situation des Beters und zum anderen die Bitte des Beters.
Die Situation des Beters: Ein Mensch im tiefen Leid
Da betrachten wir die Situation des Beters. Es wird bereits ziemlich deutlich, auch durch das Lied, das wir gehört haben, dass wir hier ein Gebet von einem Menschen vor uns haben, der sehr vom Leid geplagt ist. Dieses Leid zieht sich durch das gesamte Gebet.
In Vers 3 lesen wir: „Ich bin schwach, meine Gebeine sind erschrocken.“ In Vers 4 wird klar, dass die Not nicht nur körperlich ist, sondern eine viel tiefere Dimension hat. Es wird davon gesprochen, dass auch die Seele sehr erschrocken ist. Dann folgt dieser Ausruf, dieser unvollendete Satz: „Ach du Herr, wie lange!“ Offenbar hat der Leidende schon sehr lange Leid ertragen, und ein Ende ist nicht in Sicht. Er fragt sich: Wie lange noch? Er fühlt sich von Gott verlassen und dem Tode nahe, wie in den Versen 5 und 6 deutlich wird: „Wende dich her und rette mich, hilf mir um deiner Güte willen. Der Methode gedenkt man deiner nicht, wer wird hier bei den Toten dann?“
Anschließend sehen wir in den Versen 7 und 8 die völlige Erschöpfung und die vollkommene Verzweiflung des Beters am Ende dieses Gebets: „Ich bin so müde vom Seufzen, ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager. Mein Auge ist trübe geworden vor Gram und Matt, weil meiner Bedränger so vieles sind.“
Man kann letztlich sagen, dass das, was der Beter hier erlebt, einer Depression entspricht. Eine Depression, die sich sowohl körperlich als auch seelisch manifestiert. Ich fand es passend, vorhin das Zeugnis von der Schwangeren zu hören, die über eine Abtreibung nachdachte. Sie hat genau so etwas erlebt. Sie konnte nicht mehr schlafen, fühlte sich innerlich tot. Sie war verzweifelt, und dieses Leid war sowohl körperlich spürbar als auch tief in ihrem Inneren.
Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst oder ob du so ein Leid schon einmal erlebt hast – ein Gefühl völliger Verzweiflung und Hilflosigkeit, eine Situation, die dich körperlich schwach macht und dein Innerstes, deine Seele, in Schrecken und Bestürzung versetzt. Wer das schon erlebt hat, sollte durch diesen Psalm ermutigt werden.
Dieser Psalm zeigt uns, dass Gott weiß, wie es dir geht. Du bist nicht unverstanden in deinem Leid, und du bist auch nicht allein. Dieser Psalm soll vorgesungen werden, damit die Menschen wissen: Ja, ein solches Leiden kannte selbst der große König David.
Die Verbindung von Leid und Gottes Mitgefühl
Gott sorgt dafür, dass wir in seinem Wort diese Worte lesen, um uns zu sagen: Ich weiß, mein Kind, ich weiß, wie es dir geht. Ja, er weiß, wie es uns geht, weil er es selbst erlebt hat. Gott, der Sohn, Jesus Christus, hat genau so Leid erfahren.
Ich finde es sehr beeindruckend, die Worte zu bedenken, die wir im Matthäusevangelium, Kapitel 26, lesen. Dort wird gezeigt, wie Jesus kurz vor seiner Kreuzigung selbst durch tiefes Leid ging. Es heißt dort, beginnend in Vers 36: „Da kam Jesus mit ihnen, das sind die Jünger, zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hier, solange ich dorthin gehe und bete.“
Er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ Jesus sagt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod. Bleibt hier und wacht mit mir.“
Dann betet er, ringt mit Gott und schwitzt Blut und Wasser. So ist Jesus dann zugerüstet, unser Hohepriester zu sein – jemand, der uns versteht.
Im Hebräerbrief, Kapitel 4, lesen wir dazu: Wir haben nicht einen Hohepriester – hier ist von Jesus die Rede –, der nicht mitleiden könnte mit unserer Schwachheit. Nein, er wurde in allem versucht wie wir, doch ohne Sünde.
Und dann folgt dieser wunderbare Aufruf: Darum, weil wir einen solchen Hohepriester haben, lasst uns mit Zuversicht hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Herzlichkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Das Gebet als biblischer Mittelweg im Umgang mit Leid
Und so wie der Hebräerbrief, will auch dieser Psalm uns Mut machen in Zeiten des Leidens. Eben nicht, dass wir uns in uns selbst vergraben. Das ist das, was wir typischerweise bei Depressionen tun: Menschen drehen sich um sich selbst und schauen nur noch auf sich.
Nein, der Psalmist ermutigt uns, gerade in solchen Zeiten vor den Gnadenthron zu treten. Wir sollen unsere Not Gott kundtun, sie ihm sagen und ihn bitten, einzugreifen. Genau das sehen wir hier.
Wir sehen die Bitte des Beters. Wir sehen, wie er sich Gott zuwendet und nicht in seinem Leid bei sich bleibt. Fünfmal ruft er den Namen des Herrn an – in den Versen zwei bis fünf. Das heißt, in diesen wenigen Versen ruft er in vier Versen fünfmal:
„Ach, Herr, straf mich nicht in deinem Zorn, tüchtige mich nicht in deinem Grimm!
Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach!
Heile mich, Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken,
und meine Seele ist sehr erschrocken.
Ach du, Herr, wie lange?
Wende dich her oder rette mich,
hilf mir um deiner Güte willen!“
Diese Worte zeigen, wie der Beter sich offen und ehrlich an Gott wendet, trotz seines Leids und seiner Schwäche.
Die Haltung des Beters vor Gott: Demut und Gnade
Ist das nicht ein bemerkenswertes Gebet? Der Beter pocht hier nicht auf sein Recht. Er sagt nicht: „Herr, ich habe das nicht verdient, das ist ungerecht. Mach doch was, dafür bist du doch Gott!“ So betet er hier nicht.
Der Beter kommt ganz demütig und appelliert an Gottes Gnade, an seine Güte. Besonders beeindruckend finde ich Vers 2. Die Betonung liegt dort nicht auf „Straf mich nicht, züchtige mich nicht“, sondern auf dem jeweiligen Ende, auf der Motivation: „Herr, straft mich nicht in deinem Zorn, züchtige mich nicht in deinem Grimm!“
Der Beter scheint fast zu sagen: Okay, ich akzeptiere, dass ich zu einem gewissen Grad vielleicht Strafe und Züchtigung verdient habe, aber bitte, bitte nicht im Zorn, nicht im Grimm! Geht das denn nicht?
Das ist eine Herausforderung, eine Herausforderung gegen den evangelikalen Zeitgeist. Psalm 6 müssten wir eigentlich aus der Bibel entfernen – sowas gibt es doch nicht. Ein Gott, der zornig ist und straft? David, Junge, denk doch mal nach, das kann doch nicht sein! Gott ist der Gott der Liebe!
Das mag der Zeitgeist sein, aber der Heilige Geist inspiriert hier einen Beter, der weiß, es ist anders. Die biblische Wahrheit ist: Ja, Gott ist der Gott der Liebe, Gott ist die Liebe, aber Gott ist auch ein Gott des Zorns, des Zorns über die Sünde. Ein Gott, der straft, ein gerechter Gott.
Und der Beter erkennt das an. Er erkennt an, dass der Zorn Gottes wohl existiert. Er appelliert jetzt nicht daran, zu sagen: „Gott, das habe ich besser verdient.“ Nein, er sagt: „Ich brauche Gnade, ich brauche Gnade, und wenn Strafe, dann bitte nicht im Zorn.“
Die Beziehung von Sünde und Leid im biblischen Verständnis
Ich möchte damit nicht sagen, dass jeder, der leidet, in dem Moment, in dem er leidet, auch deshalb leidet, weil er gesündigt hat. Das wäre eine falsche Lehre. Es ist nicht richtig zu behaupten: „Wenn du gerade leidest, dann müssen wir unbedingt nachschauen, welche Sünden vielleicht dafür verantwortlich sind.“ Das ist nicht biblisch. Es kann so sein, aber es muss nicht so sein.
Die Bibel lehrt nicht, dass jedes Leiden unmittelbar mit einer Sünde des Leidenden verbunden ist. Jesus Christus ist dafür das beste Beispiel. Er hat mehr gelitten als jeder von uns. Dennoch war er ohne Sünde. Er hat gelitten wegen der Sünde, aber nicht wegen eigener Schuld.
Unser aller Leiden in dieser Welt hat mit Sünde zu tun, aber nicht zwingend mit unserer eigenen. Es ist nicht immer unmittelbar mit unserer eigenen Schuld verbunden. Als Gott die Welt geschaffen hat, war sie gut. Es gab kein Leid, weil es keine Sünde gab. Erst als die Sünde in die Welt kam, kam auch das Leid.
Wir leiden also wegen der Sünde, manchmal wegen unserer eigenen, manchmal wegen der Sünden anderer. Doch eines ist klar: Keiner von uns ist frei von Sünde. Keiner von uns kann, wie Jesus, für sich in Anspruch nehmen, vollkommen gerecht zu sein.
Deshalb sollten wir zunächst anerkennen, dass wir alle von Natur aus unter Gottes gerechtem Zorn stehen. Wir alle haben gegen das gehandelt, was Gott gefällt, wir alle haben gegen ihn rebelliert. Das erkennt der Psalmist an. Deshalb tritt er in seinem Leid nicht mit Ansprüchen vor Gott, nicht mit der Aussage „Das habe ich nicht verdient.“ Das wäre anmaßend.
Er weiß, dass Gott ein vollkommen gerechter Gott ist und keine Sünde ungestraft lässt. Aber er weiß auch, dass Gott ein Gott der barmherzigen Herzlichkeit und Gnade ist. Deshalb appelliert er hier an die Gnade Gottes.
Gottes Zuwendung in Jesus Christus als Erhörung des Gebets
Er betet in Vers 5: „Wende dich her, wende dich um, wende dich uns zu.“ Dieses Gebet des Psalmisten ist erfüllt; es ist von Gott erhört worden. In Jesus Christus hat Gott genau das getan: Er hat sich uns Menschen zugewandt. Er ist zu uns gekommen, um aller Gerechtigkeit Genüge zu tun.
Das bedeutet, Jesus hat so gelebt, wie wir alle hätten leben sollen, und hat somit keine Strafe verdient. Gleichzeitig hat er uns Gnade und Barmherzigkeit erwiesen. Er hat die Strafe auf sich genommen, den Zorn Gottes getragen und ist dafür am Kreuz gestorben.
Jesus Christus ist der Einzige, der jemals wirklich schuldlos gewesen ist. Am Kreuz hat er Gottes Zorn und Grimm auf sich genommen und damit die Schuld getilgt. Er hat dafür gesorgt, dass es genug war.
Wir könnten niemals aus eigener Kraft dahin gelangen, dass die Strafe Gottes erledigt ist und wir wieder frei vor Gott stehen. Aber Jesus konnte das tun. Als Unschuldiger hat er sich für die Schuld der Welt hingegeben.
Dann war es vollbracht. Er sprach am Kreuz die Worte: „Es ist vollbracht.“ So konnte Gott ihn am dritten Tag von den Toten auferwecken. Jesus ist auferstanden, hat die Sünde besiegt, den Tod überwunden und alle Strafen sowie Gottes Zorn auf sich genommen.
Alle, die im Glauben zu ihm kommen, können sicher wissen, dass ihre Schuld getilgt ist. Am vierzigsten Tag ist er zum Vater aufgefahren. Von dort wird er eines Tages wiederkommen, um alles Leiden zu beenden.
Wenn Jesus wiederkommt, werden alle, die im Glauben zu ihm gehören, erleben, dass ihr Leiden ein Ende hat. Es wird kein Leid mehr geben, und alle Tränen werden abgewischt.
Das ist die sichere Zusage aus Gottes Wort, die sichere Zukunft für alle, die demütig vor Gott treten und sich die Worte des Psalmisten zu eigen machen. Sie rufen nicht nach Gerechtigkeit – das wäre gefährlich –, sondern nach Gnade, nach Güte und nach Rettung.
In Vers 3 heißt es: „Sei mir gnädig“ und „wende dich her und errette mich, hilf mir um deiner Güte willen.“ Gott hat sich uns in Jesus Christus zugewandt. Wenn wir uns ihm zuwenden, werden wir das erleben.
Die Gewissheit der Gnade und der Schutz vor Gottes Zorn
Das ist die Grundlage dafür, dass wir aufgrund von Gottes Gnade durch unseren Glauben nicht mehr unter Gottes Zorn stehen. Jeder, der sich zu Recht Christ nennt, jeder, der tatsächlich aufgrund von Gnade durch den Glauben ein Kind Gottes ist, darf wissen: Du musst Vers 2 nicht mehr beten. Oder wenn du Vers 2 betest, dann darfst du wissen, dass dieses Gebet definitiv erhört worden ist.
Denn alles ist klar, lieber Christ: Wenn du leidest, dann ist das niemals die Konsequenz davon, dass Gott zornig über dich ist. Wir Christen dürfen wissen, dass Gottes Zorn auf Jesus gelegt wurde, sodass wir den Zorn Gottes nicht erleben werden.
Und wenn er dich züchtigt, dann darfst du wissen, dass er das nicht in seinem Grimmen tut. Gott züchtigt seine Kinder nicht, weil er zornig oder grimmig ist, sondern weil er sie liebt.
Es ist diese erst einmal etwas schwierige Aussage aus dem Hebräerbrief, Kapitel 12, Vers 5, wo der Hebräerbrief die Gläubigen aufruft und sagt:
„Mein Sohn, achte nicht gering die Erziehung des Herrn und verzage nicht, wenn du von ihm bestraft wirst. Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt. Es dient zu eurer Erziehung, wenn ihr es dulden müsst. Wie mit seinen Kindern geht Gott mit euch um. Denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, die doch alle erfahren haben, so seid ihr ausgestoßen und nicht Kinder. Wenn unsere leiblichen Väter uns gezüchtigt haben und wir sie doch geachtet haben, sollten wir uns dann nicht viel mehr unterordnen dem geistlichen Vater, damit wir leben? Denn jene haben uns gezüchtigt für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, aber dieser tut es zu unserem Besten, damit wir an seiner Heiligkeit Anteil erlangen.“
Und ganz realistisch, Herr S. S.: Jede Züchtigung, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Leid zu sein. Danach aber bringt sie als Frucht denen, die dadurch geübt sind, Frieden und Gerechtigkeit.
Verschiedene Gründe für Leid und Gottes liebevolle Führung
Um das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wenn wir leiden, bedeutet das nicht zwingend, dass Gott uns gerade züchtigt. Es kann sein, aber wenn Gott uns züchtigt und wir seine Kinder sind, dann dürfen wir wissen, dass es nicht aus Willkür geschieht. Es ist aus Liebe und zu unserem Besten.
Manchmal leiden wir aus anderen Gründen. Vielleicht lässt Gott uns eine Zeit des Leidens durchleben, damit wir uns unserer Abhängigkeit von ihm bewusster werden. Vielleicht will er uns auf etwas in unserem Leben aufmerksam machen. Vielleicht will er uns auch zurüsten, damit wir anderen beistehen können, die in der Zukunft leiden werden. Vielleicht möchte er unser Leiden im Glauben als Zeugnis für andere gebrauchen.
Warum auch immer, wir dürfen wissen, dass Gott das Leiden nur zulässt, weil es in irgendeiner Weise gut ist und von ihm gebraucht wird. Gott ist unser Vater, der uns liebt. Er wird uns nicht ewig leiden lassen, er wird seine Kinder nicht ewig leiden lassen.
Er greift nicht immer sofort ein, aber wir haben die Zusage aus Gottes Wort, dass er uns nicht mehr zumuten wird, als wir ertragen können. Im Gegenteil: Wir dürfen wissen, wie im 2. Korinther 4,17 geschrieben steht, dass „unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit schafft“. Das Leiden dieser Zeit, das Leiden dieser Welt, ist zeitlich begrenzt. Im Vergleich zu der ewigen Herrlichkeit, die uns als Kinder Gottes erwartet, ist es, so schwierig es auch sein mag, leicht.
Wir dürfen wissen, dass uns alles zum Besten dienen wird, wenn wir Gott lieben und zu ihm gehören. Denn Gott hat ein Interesse daran, dass seine Kinder ihn loben und preisen. Darauf vertraut der Psalmist, und deswegen lesen wir in einem Gebet diesen seltsamen Vers: „Im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?“ (Psalm 6,5). Der Psalmist appelliert hier an Gottes eigene Ehre.
Die Bedeutung des Lobpreises im Leben der Gläubigen
Gute Frage, oder? Ich meine, wer von uns hört schon den Lobpreis der Toten?
Wenn Gott auch Freude daran hat, dass die Menschen davon hören, wie seine Kinder ihn loben und preisen, wenn Gott Freude daran hat, dass wir nach der Predigt in eine Zeit übergehen, in der wir mit Liedern Gott danken und loben wollen, dann müssen wir lebendig sein. Denn wenn wir tot sind, dann danken wir Gott nicht mehr. Dann loben wir ihn nicht mehr, zumindest nicht so, dass andere es noch hören können.
Die Frage ist nur: Danken wir ihm, wenn wir leben? Loben wir ihn, wenn er uns durch Zeiten des Leidens hindurchgeführt hat?
Ich möchte uns dazu ermutigen, ab und zu zurückzuschauen und zu sehen, wie Gott treu war in unserem Leben. Wie er uns immer wieder durch schwierige Zeiten hindurchgeführt hat. Und ich möchte uns ermutigen, nicht aufzuhören, ihm zu loben und ihm dafür zu danken.
Der Perspektivwechsel des Psalmisten im Leid
Zu bemerken ist, dass der Psalmist hier plötzlich seinen Blick von sich selbst auf Gott richtet.
Bisher haben wir nur gesehen, wie er sein Leiden beschreibt: Ich bin schwach, es tut alles weh, ich vergehe, ich leide, ich bin erschrocken. Er schaut nur auf sich.
Doch jetzt richtet er seinen Blick nach oben. Mitten in seiner Depression schaut er nicht mehr nur auf sich, sondern fragt nach Gott und was er tut.
Er sagt: Ich weiß eine Sache, ich weiß, dass Gott daran Freude hat, wenn ich ihn lobe und preise. Deshalb hat er doch seinen eingeborenen Sohn dahingegeben.
Das dürfen wir wissen – das wusste David damals noch nicht. Wir dürfen wissen, dass Gott uns das Kostbarste gegeben hat: seinen eingeborenen Sohn.
Er hat ihn dahingegeben, damit wir eines Tages und für alle Ewigkeit ihn loben und preisen können.
Die Zuversicht des Psalmisten und das Vertrauen auf Gottes Eingreifen
Wenn Gott doch so großes Interesse daran hat, dass seine Kinder ihn loben und preisen, dann muss man doch etwas tun. Dann greift er doch ein. Der Psalmist vertraut darauf, dass Gott uns liebt, dass Gott seine Kinder liebt.
So tritt der Psalmist demütig und zugleich mutig vor Gott und bittet ihn, sein Leiden zu beenden und gnädig einzugreifen. Wir dürfen dann erleben, dass Gott genau das tut.
Die letzten drei Verse zeigen uns das Ergebnis dieses Gebets. In diesen Versen erfahren wir nichts darüber, ob Gott tatsächlich eingegriffen hat, ob sich die Situation in irgendeiner Weise verändert hat oder ob das Leiden gelindert wurde – kein Wort davon.
Aber wir sehen eine neue Zuversicht im Beter. Tatsächlich ist sein Gebet beendet. Nun wendet er sich den Menschen zu, die um ihn herum sind. Er sagt denen, die für sein Leiden mitverantwortlich sind: Ihr werdet Gottes Gericht, den Zorn Gottes, die Strafe Gottes nicht entgehen.
Er ist zuversichtlich, dass Gott eingreifen und Gerechtigkeit schaffen wird. Vor allem in Vers 11 wird das deutlich. Ich lese uns die Verse 9 bis 11 vor:
„Weitigt von mir alle Übeltäter, denn der Herr wird mein Weinen hören, der Herr wird mein Flehen erhören, mein Gebet nimmt der Herr an. Sollen alle meine Feinde zu Schanden werden und sehr erschrecken. Sie sollen umkehren und zu Schanden werden, plötzlich.“
Die Umkehr des Blicks vom Selbst zu Gott und der Welt
Ich finde diese Worte hochinteressant. Besonders faszinierend ist für mich die gesamte Struktur des Psalms, weil sie völlig anders ist als das, was wir in der Welt normalerweise erleben.
Wie ist das in der Welt? Wenn Menschen Leid erfahren, zum Beispiel durch eine große Naturkatastrophe, dann passiert es selbst beim verbissensten Atheisten manchmal mehr oder minder aus Versehen, dass er denkt: „Oh Gott!“ Obwohl in seinem Denken eigentlich kein Raum für etwas Übernatürliches ist, richtet sich der Blick doch irgendwie dorthin. Die Fragen lauten: Wie kann das sein? Warum? Für einen Atheisten ist das eine absurde Frage, aber trotzdem hören wir sie.
Das bedeutet: Menschen beginnen in der Not oft, andere anzuklagen – Gott und die Mitmenschen, die angeblich Böses getan haben. Wenn dann alles wieder gut wird und neue Zuversicht entsteht, denken sie: „Ach, ich habe es doch im Griff.“ Dann richtet sich der Blick auf sich selbst.
Bei David ist es genau andersherum. In seinem Leid kommt er gar nicht auf die Idee zu sagen: „Schau dir diese Bösen an, mach sie platt!“ Er sagt vielmehr: „Ich kann nichts dafür, geh hin und mach sie nieder.“ Stattdessen schaut er auf sich selbst und sagt: „Ich brauche Gnade, ich brauche deine Güte, ich brauche Rettung von dir, Gott. Wende dich mir zu! Ich erkenne an, dass du dich vielleicht von mir abgewandt hast. Es hat wahrscheinlich mit mir zu tun. Sei mir gnädig, Herr!“
Dabei sind die Umstände für ihn gar nicht so sehr wichtig. Er sucht nicht die Schuldigen für sein Leid, sondern einfach Gnade.
Jetzt, mit neuer Zuversicht, richtet er den Blick auf die anderen und auf die Umstände. Er ordnet alles neu ein. Er sieht die Übeltäter und ist voller Zuversicht, dass Gott eingreifen wird. Er ist sicher, dass Gott alles gut machen wird.
Wir hören, wie David hier dreimal seinen neuen Ausdruck der Zuversicht beschreibt: „Der Herr hört mein Weinen, der Herr hört mein Flehen, mein Gebet nimmt der Herr an.“
Die Kraft der Gemeinschaft und gegenseitigen Unterstützung
Das ist die Zuversicht eines Leidenden, der vor den Thron der Gnade getreten ist. Er weiß jetzt: Gott ist für ihn. Er hat neue Zuversicht, dass Gott sein Leiden beenden wird und dass er seine Widersacher besiegen wird.
Kennst du diese Zuversicht? Kennst du diese Zuversicht, die uns erfüllt, wenn wir uns Gott zuwenden? Kennst du dieses feste Gottvertrauen, das entsteht, wenn wir uns aus unserer Nabelschau befreien, die das Leid so leicht mit sich bringt? Wenn wir unseren Blick auf den Herrn richten – auf den Allmächtigen, auf den Liebenden, auf den Guten, der alles in seiner Hand hält – dann entsteht neue Zuversicht.
Das schaffen wir manchmal nicht allein, ich weiß, besonders so mitten im Leid. Mitten im Leiden ist es manchmal ganz schwer, den Blick zu heben, sich aus einer Situation zu befreien und auf Gott zu schauen. Da brauchen wir Hilfe.
Deswegen hat Gott uns in die Gemeinde hineingerettet. Deswegen hat er uns zusammengestellt im Leib Christi, damit wir füreinander da sein können in solchen Zeiten. Deswegen hat Gott die Gemeinde gestiftet, unter anderem, damit wir aufeinander Acht haben und füreinander da sein können.
Das wollen wir hier als Gemeinde leben. In drei Wochen findet auf der Wienerwand ein Seelsorgeseminar mit Michael Martens statt. Wir wollen darüber nachdenken und lernen, wie wir füreinander da sein können – gerade für die, die durch schwere Zeiten gehen.
Selbst wenn wir so ein Seminar nicht besucht haben, können wir immer im Gebet füreinander eintreten. Wir können für die beten, die durch schwere Zeiten gehen. Wir können für die beten, die vielleicht selbst gar nicht mehr beten können.
Wir können sogar für die beten, die noch keine Stimme haben – für die, die im Mutterleib leiden und getötet werden. Wir können eintreten und Gott bitten, diesem Leiden, diesem Skandal ein Ende zu machen.
Neue Perspektiven gewinnen trotz Leid
Schwere Zeiten werden wir alle einmal erleben. In solchen Phasen kann Verzweiflung aufkommen, und der Schmerz kann uns überwältigen. Doch Gott will uns dabei helfen, gerade in solchen Situationen wieder frei zu werden und eine neue Perspektive zu gewinnen.
Ich finde es immer wieder interessant, wenn man mit Leidenden spricht und sie es schaffen, einen Schritt zurückzugehen, um ihr eigenes Leid neu einzuordnen. Vielleicht gelingt es ihnen, ihr Leben ein wenig mehr aus Gottes Perspektive zu betrachten. Dann wird deutlich, wie schnell sich Dinge verändern können und wie schnell Leid ganz neu bewertet wird.
Manchmal finde ich es hilfreich, wenn wir durch Abner und Open Doors von verfolgten Christen hören. So erfahren wir, wie es Menschen anderswo für ihren Glauben ergeht. Wenn wir darüber nachdenken, dass es Menschen gibt, die – auch wenn wir vielleicht unter der Gemeinde ein wenig leiden oder Schwierigkeiten in Partnerschaften erleben – Ehepartner im Gefängnis haben oder Kinder, die im Gefängnis sitzen, nur weil sie eine Bibel halten, gewinnt unser eigenes Leid eine neue Dimension.
Gott will uns immer wieder heraushelfen und neue Perspektiven schenken. Vor allem möchte er uns von der Verzweiflung zur Zuversicht führen, damit wir neue Hoffnung gewinnen. Die Zuversicht, dass Gott gut ist und dass er für seine Kinder sorgt.
Deshalb ist der richtige Weg im Leid nicht, stoisch auszuharren und zu sagen: „Ich halte das jetzt aus, das muss so sein.“ Ebenso wenig ist es der Weg, einfach aktivistisch loszurennen und zu versuchen, alles selbst in den Griff zu bekommen, egal was passiert.
Der richtige Weg ist, vor Gott zu treten. Denn Gott ist gut, allmächtig und hört unser Gebet.
Schlussgebet: Vertrauen auf Gottes Liebe und Fürsorge
Und so möchte ich zum Abschluss dieser Predigt beten.
Lieber Vater, danke, dass du gebetet hast, danke, dass du deine Kinder liebst. Danke, dass du weißt, was wir brauchen, und dass du, so wie Jesus es in einem Gleichnis erklärt hat, viel besser bist als die irdischen Väter. Diese geben ihren Kindern keinen Stein, wenn sie nach Brot fragen, und keine Schlange, wenn sie nach einem Fisch fragen.
Ja, so weißt du, was wir brauchen. Du hast uns zugesagt, dass du Gutes geben wirst denen, die dich bitten.
Wir wollen beten für die unter uns, die jetzt im Moment Leid tragen. Wir bitten dich, dass du sie tröstest und ihnen neue Zuversicht schenkst. Dass du Umstände verändern kannst, Verzweiflung in Freude verwandelst und deine Kinder so sehr liebst, dass du uns nicht für immer leiden lassen wirst. Sondern dass du uns eines Tages freimachen wirst von allem Leid.
Danke, dass du in Jesus Christus gekommen bist und dich uns zugewandt hast, damit wir eines Tages Freude, Wohlsein und Genüge haben dürfen in deiner Gegenwart.
Und danke, dass du als unser Vater deine Kinder auch hier auf Erden schon liebst und für sie da bist.
So preisen wir dich im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Amen.