Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder!
Zu Beginn möchte ich zwei Geschichten erzählen, die beide wahr sind. Zum Schutz der Beteiligten wurden sie leicht verfremdet. Es handelt sich jeweils um zwei Familien: Vater, Mutter, Kind. In beiden Fällen ist die Frau erneut schwanger. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass bei der Untersuchung beider Frauen Entwicklungsverzögerungen des ungeborenen Kindes festgestellt werden. Irgendwann folgt die Diagnose: Das Kind wird wahrscheinlich nicht lebensfähig sein.
Doch es sind zwei unterschiedliche Geschichten.
Die Eltern des einen Kindes erleben eine tiefe Zerrissenheit. Sie durchlaufen einen Marathon an Untersuchungen. Von einem Arzt geht es zum nächsten, immer wieder erreichen sie neue Hiobsbotschaften. Zunehmend drängt sich die Frage auf: Was sollen wir tun? Die Ärzte – manche empathisch, andere sachlich und nüchtern – stellen die Möglichkeit einer Abtreibung in den Raum. Die Entscheidung liegt natürlich bei den Eltern.
Diese machen sich kundig und holen weitere Informationen zu der genetischen Auffälligkeit des Kindes ein, die sie von den Ärzten erfahren haben. Ein Arzt erläutert ihnen, dass Eltern unterschiedlich auf die Diagnose reagieren. Ein Drittel trifft eine Entscheidung und ist damit glücklich, ein weiteres Drittel bereut die Entscheidung, und ein letztes Drittel bleibt innerlich zerrissen. Als ob solche Statistiken die Entscheidung leichter machen würden.
Die Eltern teilen ihren Schmerz mit ihren Familien und Freunden. Sie ringen mit Gott. Am Ende entscheiden sie sich für das Kind. Es stirbt einige Stunden nach der Geburt in den Armen der Mutter.
Auch die Eltern des anderen Kindes sind tief beunruhigt, als die Ärzte ihnen mitteilen, dass sich das Kind nicht normal entwickelt. Sie informieren Freunde und bitten um Gebet. Die Eltern lehnen jede Untersuchung ab, die keine therapeutischen Möglichkeiten eröffnet, sondern einzig den Grund für eine Abtreibung liefern würde. Die Ärzte finden das ungewöhnlich und zeigen sich nicht durchweg verständnisvoll.
Doch die Eltern sehen dieses ungeborene Leben in Gottes Hand. Für sie gibt es keine Entscheidung zwischen Abtreibung und Austragung, denn ihr Kind ist von ihnen angenommen, so wie es ist. Sie beten darum, dass Gott sich als Herr erweisen möge, indem er das Kind leben lässt oder zu sich nimmt: „Dein Wille geschehe!“
Das Kind stirbt im Mutterleib. Die Eltern sind zutiefst traurig, doch sie sind im Glauben gewiss, dass ihr Kind nun seinen Schöpfer sehen und in Ewigkeit bei Jesus sein darf.
Zwei bewegende Geschichten, die beide traurig enden, geben in ihrer Gegenüberstellung dennoch etwas zu erkennen. Wenn es um Leben und Tod geht, dann ist Autonomie, verstanden als das Recht auf ein selbstbestimmtes Entscheiden, ein Konzept, das den Menschen überfordern muss.
Wir sind nicht dazu erschaffen, ein Urteil darüber zu fällen, ob ein Mensch leben darf oder nicht. Zu sagen, die Entscheidung liege allein bei ihnen, bedeutet immer auch, diese Menschen damit allein zu lassen. Doch es gibt Entscheidungen, die Menschen nicht zustehen, und sie dennoch zu erwägen, ist etwas, das Menschen zutiefst belastet.
Die zweite Geschichte ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass der Verzicht auf eine autonome Entscheidung in der unbedingten Annahme des Kindes freimachen kann. Darum zu wissen: Ich bin nicht der Herr über Leben und Tod, befreit dazu, die Situation Gott hinzulegen. In der Abhängigkeit von Gott kann man sagen: Meine Zeit steht in deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir.
„Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden, gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir“, so hat Peter Strauch gedichtet. Wirkliche Freiheit besteht darin, mit gefestigtem Herzen der Logik des Machenkönnens und des Entscheidendürfens zu widerstehen und den Schein des Entscheidenmüssens zu entlarven.
Wirkliche Freiheit besteht darin, Gott als liebenden Vater und als Herrn über Leben und Tod zu kennen und zu lieben.
Im Titel dieses Vortrags werden drei Motive genannt, die ich in der gebotenen Kürze erläutern möchte: Schöpfung, Evangelium, Verantwortung.
Es handelt sich um theologisch-ethische Impulse, die zu einer erneuten Besinnung auf die Gabe des Lebens und die Aufgabe des Lebensschutzes anregen sollen. Christen sind gemeinsam mit allen Menschen guten Willens in diese Verantwortung hineingestellt.
Erstens ist die Schöpfung ein Du Gottes vom ersten Moment an. Wir wissen heute besser und genauer als alle Generationen vor uns, wie ein neues menschliches Leben entsteht. Der schwedische Fotograf Lennart Nielsen hat erstmals 1965 die Entwicklung des Embryos dokumentiert. Sein Buch wurde vor einigen Jahren mit zum Teil neuen, atemberaubenden Bildern wieder aufgelegt.
Lehrbücher vermitteln in Text und Grafik, welche Bedeutung die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle hat. Unser Sachwissen über den Beginn und Anfang des menschlichen Lebens ist enorm. Wir haben viel gelernt, aber eines haben wir weithin verlernt: das Staunen und die Ehrfurcht vor dem ungeborenen Leben.
Unser Sachwissen ist zu Verfügwissen geworden. Es wird der vorherrschenden Logik des Machens und Verwerfens verfügbar gemacht. Die Diskussion darüber, wann das Leben beginnt, soll rechtfertigen, dass straffrei in die frühe Entwicklung eines Kindes eingegriffen wird, dass dieses Kind als Zellkomplex bezeichnet und getötet wird.
Der Beitrag der Theologie besteht unter anderem darin, neu zum Staunen anzuleiten und der Logik des Machens die Theologik des Geschaffenseins entgegenzustellen. Diese Theologik wird unter anderem im Psalm 139 ausgedrückt, wo es heißt:
„Du selbst hast mein Innerstes geschaffen, hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass ich so staunenswert und wunderbar gestaltet bin. Ich weiß es genau, wunderbar sind deine Werke. Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde. Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet, die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war“ (Psalm 139, Einheitsübersetzung).
Drei Gedanken zu diesem Text, der ein Gebet ist, denn er ist an Gott gerichtet:
Erstens preist der Psalmbeter Gott als seinen Schöpfer. „Gott hat mich geschaffen“, bekennt er und verwendet dafür drei verschiedene Verben schöpferischen Tuns. Das Resultat ist, dass ein staunenswertes, wunderbares Werk entstanden ist – ein Mensch.
Zweitens mag es irritieren, dass der Beter nur von sich selbst spricht. Aber das ist unvermeidbar, denn er will keine Theorie des Lebensbeginns entwickeln, die man diskutieren und gegebenenfalls durch später entwickelte Theorien überholen könnte. Nein, hier geht es um ein sehr persönliches Beziehungsgeschehen. „Du, Gott, hast mich geschaffen“, und ich staune, staune, staune darüber.
Drittens tritt dieses Staunen nicht in Konkurrenz zur naturwissenschaftlichen Erklärung des Lebensbeginns, denn es hat seinen Grund darin, dass Gott den Menschen schafft. Das ist eine Gewissheit des Glaubens, deren Grund tiefer liegt, als die Vernunft ihn erreichen könnte.
Gott wirkt das Wunder neuen Lebens im Verborgenen, heißt es im Psalm. Aber ich hatte doch gerade gesagt, dass wir das Dunkel der vorgeburtlichen Entwicklung ans Licht geholt haben. Das stimmt. Aber kein Foto hält fest, wie Gott im Verborgenen schafft – nämlich durch sein schöpferisches Wort. Denn wenn er spricht, so geschieht es, wenn er gebietet, so steht es da, heißt es im Psalm 33.
Alle Dinge entstehen dadurch, dass Gott sie ausspricht. Der Mensch aber ist unter allen Geschöpfen dasjenige, das Gott anspricht. Romano Guardini drückt es so aus: Die Dinge entstehen auf Gottes Befehl, die Person auf seinen Anruf. Dieser Anruf aber bedeutet, dass Gott sie zu seinem Richter macht, dass er sich selbst den Menschen zum Du bestimmt. Der Mensch wird ein Du an der Anrede Gottes.
Das lässt sich mit keinem Foto einfangen. Gottes Anruf ist dem Menschen unverfügbar. Diese Unverfügbarkeit ist dem Menschen Verpflichtung. Gottes Du gibt dem einzelnen Leben seinen Grund. Es setzt dem Menschen zugleich die Grenze, die er nicht überschreiten darf: „Du sollst nicht töten.“
Geschaffen, gesehen – der Psalmbeter sagt weiter: Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. Gott sieht dich und mich, jeden Menschen.
Menschen sehen einander unterschiedlich an. Der Kontrollblick, der sagt: „Ich sehe, was du tust, ich habe dich fest im Blick, mir entgeht nichts“, ist einschüchternd. „Wenn Blicke töten könnten“, heißt es im Volksmund.
Ich habe es am Ende meines Studiums einmal erlebt, wie Blicke töten können. Auf einer Party von Theologiestudenten der Fakultät hatte ich einen Professor parodiert, und diese Nachricht erreichte ihn irgendwann. Als ich ihm später im Treppenhaus begegnete, sagte er nichts. Aber wenn Blicke töten könnten, stünde ich jetzt nicht hier.
Von Gott gesehen zu werden heißt nicht hingerichtet, sondern aufgerichtet zu werden. Von Gott angesehen zu werden bedeutet, von ihm gekannt und anerkannt zu werden. Gottes Ansehen gilt auch den Gottlosen, die wir Menschen der Bibel zufolge von Natur aus sind, um Christi Willen aber nicht bleiben müssen.
Gottes Blick unterscheidet heilsam. Er unterscheidet uns als seine Geschöpfe von dem, was an uns nicht Gottes Willen entspricht. Nur so können wir leben: geschaffen, gesehen, geleitet.
Noch einmal der Psalm: „In deinem Buch sind sie alle verzeichnet, die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war.“ (Psalm 139,16) Gott steht nicht lediglich am Beginn seines Werkes, wie der Uhrmacher, dessen Produkt fertig die Werkstatt verlässt. Gott geht mit uns in die von ihm bereiteten Tage hinein.
Wir machen uns Pläne, aber Gott möchte uns führen. Ein unerwartet sich einstellendes Kind durchkreuzt manche Lebensplanung. Doch es füllt die Tage aus, die Gott zuvor bereitet hat. Denn uns beunruhigt nicht so sehr die Ohnmacht angesichts dessen, was wir nicht kontrollieren können oder nicht in der Hand haben. Darum hätten wir gerne Einsicht in Gottes Plan, in den Bauplan des Lebens oder was auch immer.
Doch Gott gibt uns keinen fertigen Plan. Gott gibt uns seine Hand. Sich von Gott leiten zu lassen, ist Handarbeit. Darum geht es: in Verbindung mit Gott an seiner Hand zu bleiben, auch wenn die Zukunft ungewiss ist.
Die zitierten Verse aus Psalm 139 drücken in poetischer Sprache aus, warum das Leben schützenswert ist – weil Gott der Schöpfer ist und weil das Leben, auch das ungeborene Leben, Grund zum Staunen ist.
Und damit komme ich zum zweiten Punkt: Nach Schöpfung Evangelium Leben dürfen, weil Jesus lebt.
Das Leben ist eine Gabe Gottes und kann dennoch zur Last werden. Wie kann das sein? Die Bibel sagt, dass Gott die Quelle des Lebens ist. Der Mensch hat sich jedoch von dieser Quelle abgeschnitten – darin besteht das Wesen der Sünde.
Die Folgen hat Dietrich Bonhoeffer eindrücklich in seinem Buch „Schöpfung und Fall“ entfaltet. Die Schlange hatte dem Menschen versprochen, dass er wie Gott sein werde, wenn er von der Frucht des verbotenen Baumes isst. Und genau das geschieht: Wie Gott geworden, muss der Mensch jetzt aus eigener Kraft leben.
Doch während Gott ein unvergängliches Wesen hat, das von Ewigkeit zu Ewigkeit besteht, ist der Mensch auf seine sehr begrenzten, endlichen Ressourcen zurückgeworfen. Bonhoeffer schreibt wörtlich: „Der Mensch lebt aus sich selbst und kann doch nicht leben, er muss leben und kann doch nicht leben, das heißt tot sein.“
Alle Lebenskämpfe, das Konkurrieren um Ressourcen, um Aufmerksamkeit und Anerkennung, haben darin ihre Wurzel. Ohne Gott wird das Geschenk des Lebens zum Überlebenskampf.
Gottes Verheißung lautet: Du darfst leben aus der Fülle, die ich bereite. Nach dem Sündenfall wird die Verheißung zum Gesetz: Du musst leben, und zwar aus eigener Kraft, und wirst doch dein Leben nicht erhalten können.
Mit spürbar zunehmender Intensität kämpfen Menschen dagegen an. Sie wollen länger gesund und fit sein, länger leben – bloß nicht sterben. „Ich will leben“, genauer gesagt: Ich will so wie bisher weiterleben, mein Lebensniveau mindestens halten, auch wenn es andere das Leben kostet.
Das Evangelium von Jesus Christus reicht über Angebote in Not- und Konflikttagen hinaus. Es deckt die Wurzel unserer Lebenskämpfe und Beziehungskonflikte auf, nämlich unsere Sehnsucht nach Leben, die kein Mensch aus eigener Kraft, auch nicht mit der Hilfe anderer Menschen, wirklich stillen kann. Das führt dazu, dass wir mit allen Mitteln unser eigenes Leben zu sichern suchen.
Gott durchbricht die auf den eigenen Lebensdurst zentrierte Suche des Menschen, indem er sich in Jesus Christus finden lässt – mehr noch, indem er sich aufmacht, uns zu finden und nach Hause zu holen, in das Haus der Lebensfülle durch die Gemeinschaft mit Gott.
Was bedeutet das konkret für die Achtung des Lebens als Gabe und die Aufgabe des Lebensschutzes? Auch hierzu drei kurze Gedanken.
Erstens: Im Leben von Jesus Christus begegnet uns der Mensch, wie Gott ihn von Anfang an gewollt hat, nämlich als Mitmensch. Kein Mensch steht für sich allein. Wir sind immer schon in Beziehungs- und Gemeinschaftsbezüge hineingestellt.
Wir lernen früh, andere als Konkurrenten um knappe Lebensgüter zu sehen und unsere eigenen Interessen voranzustellen. Unsere Beziehungen geraten dadurch unter einen folgenschweren Vorbehalt: Sind sie mir nützlich? Tragen sie zu meinem Wohlbefinden bei? Oder beeinträchtigen sie mein Leben?
Dieses Schema der Selbstbezüglichkeit in unseren Beziehungen zerbricht in der Begegnung mit Jesus. Er wendet sich gerade denen zu, die von anderen Menschen und von der Gesellschaft insgesamt nichts zu erwarten haben, weil sie als unnütz gelten oder man mit ihnen nicht gesehen werden möchte.
Jesus ruft den Zöllner Zachäus bekanntlich vom Baum herunter mit den Worten: „Heute muss ich in deinem Haus bleiben“, im Haus des Zöllners. Jesus lässt sich von einer Frau berühren, die unter Blutfluss leidet, und scheut auch die Nähe der Aussätzigen nicht.
Jesus kommt den Menschen nahe, um ihnen die grundlose Güte und Zuwendung Gottes erfahren zu lassen. An Jesus sehen wir: Menschsein bedeutet Mitmenschsein. „Wem bist du heute ein Nächster?“ – das ist die Frage, die Jesus seinen Zuhörern am Ende des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter mit auf den Weg gibt. Es ist die Frage, die unser tägliches Leben leiten soll.
Wenn wir ausgehend von den Evangelien fragen, welche Gruppen von Menschen in unserer Gesellschaft Ausgrenzung erfahren und wem wir Nächste sind, dann gehören dazu in jedem Fall auch die ungewollten ungeborenen Kinder. Obwohl sie die schwächsten Glieder der Gesellschaft sind, ist ihnen der Schutz der staatlichen Ordnung in den ersten Lebensmonaten entzogen worden.
Ihr Schicksal ist in die Hände der Schwangeren gelegt. Am seidenen Faden ihres Willensentscheids hängt das Leben des Kindes. Das viel beschworene Konzept der Menschenwürde wird verhöhnt, wenn gerade die Schwächsten einer Gesellschaft nicht geschützt werden, obwohl genau das der Sinn ist, wenn wir uns auf die Unantastbarkeit der menschlichen Würde beziehen.
Im Sterben von Jesus zeigt sich die Liebe Gottes in unüberbietbarer Gestalt. Der Sohn, das Kostbarste, was der Vater hat, gibt sein Leben für die Menschen hin. Gott hält in seiner Liebe zu den Menschen nicht zurück. Er gibt sich selbst zum Opfer in seinem Sohn.
Ich erinnere mich an eine Situation, in der eines unserer Kinder, damals noch klein, plötzlich verschwunden war. Es war ein warmer Tag, die Türen zu Hause im Erdgeschoss standen offen, aber trotzdem hätte das nicht passieren dürfen. Ich hatte in solchen Momenten, wenn das vorkam, den Eindruck, um Jahre zu altern. So tief geht die Sorge, dass meinem Kind etwas zugestoßen sein könnte.
Die Geschichte ging am Ende gut aus. Die Tochter fand sich, aber erst nach einer von Nachbarn unterstützten Suche, die mir quälend lange vorkam. Was würden Eltern tun, um ihr vermisstes Kind zurückzubekommen? Alles. Und was würde sich ändern, wenn sie es verlieren? Alles.
Alles hat sich dadurch verändert, dass Gott Mensch wurde und seinen einzigen Sohn hingegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Diese Wahrheit lässt sich von mindestens zwei Richtungen ausleuchten. Das Kreuz sagt uns zum einen die Wahrheit über Gott. Denn Gott hat die Strafe, die wir verdient haben, auf sich genommen. Der Vater erleidet den Schmerz über den Tod des Sohnes, der Sohn erleidet das Sterben in der Abwesenheit des Vaters.
Dieses Geheimnis ist groß. Wer kann es ergründen? Das Kreuz sagt uns aber auch die Wahrheit über den Menschen. Ohne Gott sind wir verloren. Aber Gott selbst hat das Blatt gewendet.
Er erweist, wie Paulus schreibt, seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren (Römer 5,8).
Wir sind es Gott wert. Wir sind teuer erkauft.
Wenn Christen für das Lebensrecht und den Lebensschutz eintreten, dann aus dem Grund, den das Evangelium in diese Welt hineinruft: Jeder Mensch ist einzigartig und kostbar, weil Jesus sein Leben für diesen Menschen hingab. Damit wir befreit leben können – befreit zur Gottesliebe, befreit zur Mitmenschlichkeit, befreit zur Selbsthingabe, befreit zum Eintreten für die Schwachen.
Jedes Leben steht in Gottes Hand. Das ist das Fundament christlicher Lebensschutzarbeit. Und wir sehen in jedem Menschen das Antlitz Jesu Christi. Das ist das Motiv christlicher Lebensschutzarbeit.
Ein dritter Gedanke zum Evangelium
In der Auferstehung Christi zeigt sich Gott als Sieger über die Verderbensmächte dieser Welt. Inmitten einer Kultur des Todes bekennen Christen: Der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern das Leben aus der Auferstehung.
Nun ist der Tod gebunden und vom Leben überwunden. Wir sind seiner Tyrannei und seinem Stachel quitt und frei. Der Himmel steht offen, wahrer Friede ist erreicht. Halleluja, Halleluja! So dichtete Ernst Christoph Homburg im Jahr 1659.
Zugegeben, wenn der Osterjubel in den Kirchen erschallt, wirkt die Welt außerhalb der Kirchenmauern oft eigenartig unberührt davon. Ein Blick in die Nachrichten zeigt es: Von Kriegsverbrechen und Skandalen ist die Rede.
Doch der Schein trügt, auch wenn der Ostersieg nur mit den erleuchteten Augen des Herzens sichtbar ist. Der Auferstandene hat sich damals seinen Jüngern gezeigt, nicht der ganzen Welt. Und doch brachte sein Ende die Wende.
Auch die Kultur des Todes steht unter dem Urteil, dass sie vergehen wird. Denn die Verheißung lautet aus dem Mund des Herrn: "Siehe, ich mache alles neu."
Für Lebensschützer bedeutet das, dass wir es in dieser Welt mit Mächten und Gewalten zu tun haben, die bereits entmachtet sind. Ja, diese Mächte wehren sich mit äußerster Verzweiflung. Sie haben die Endlichkeit ihres Daseins vor Augen und sind immer eifriger am Werk.
Wir sollten uns daher nicht wundern: Schwere Kämpfe stehen uns weiterhin bevor. Doch es gibt keinen Grund zur Resignation. Ob unser Einsatz Erfolge bringt oder Niederlagen, Lebensschutz bleibt unser Auftrag – weil Jesus lebt.
Mein drittes und letztes Motiv ist die Verantwortung, das Eintreten für das Leben. Ich habe vom schöpferischen Wort Gottes gesprochen und auf das Evangelium verwiesen, das Wort des Lebens. Gottes Wort ruft zur Antwort und stellt uns in die Verantwortung.
Noch einmal Dietrich Bonhoeffer: Er schreibt in seiner Ethik, wir leben, indem wir auf das in Jesus Christus an uns gerichtete Wort Antwort geben. Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi nennen wir Verantwortung.
Weiter sagt Bonhoeffer, Verantwortung gibt es nur im Bekenntnis zu Jesus Christus mit Wort und Leben. Wenn Christen für das Leben eintreten, dann ist das immer auch Ausdruck ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus, denn er ist das Leben. Wenn Christus das Leben ist, dann gewinnt ein Mensch, der sich mit seinen Lebensfragen und Konfliktlagen ihm anvertraut, mehr, als er verliert – auch wenn sich zum Beispiel Freunde abwenden oder in den sozialen Netzwerken verächtlich äußern. Ein solcher Mensch empfängt ein neues Leben.
Der evangelische Theologe Wilhelm Lüttger drückt sehr fein aus, was Jesus damit verheißt, wenn er vom neuen Leben spricht, das er schenkt, und vom Reich Gottes, das kommt. Lüttger schreibt: Jesus verspricht nicht das Ende aller Not, aber das Ende der Sorge; nicht das Ende aller Gefahr, aber das Ende aller Angst; nicht das Ende alles Streits, aber den Frieden Gottes.
Das ist die Verheißung, die wir für dieses unser irdisches Leben bekommen haben. Im Zeichen dieser Verheißung tut sich christliche Ethik nicht mit moralischen Ratschlägen hervor. Sie hilft jedoch, scharf hinzusehen, verantwortlich zu handeln und begründet zu hoffen.
Ich gebe dafür zwei Beispiele und komme damit zum Schluss.
Christliche Ethik leitet erstens dazu an, die Feinde zu lieben. Vielleicht sollten wir in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eher vom Gegner sprechen als vom Feind, also von denen, die uns widersprechen oder sich uns im wörtlichen oder übertragenen Sinne entgegenstellen. Es gibt kein größeres Zeugnis für die unbedingte Liebe Gottes, als diese Menschen zu lieben.
Ich weiß, das klingt zunächst sentimental. Gemeint ist aber nicht weniger als das, was Augustinus über die christliche Liebe schreibt: Wünsch deinem Feind, dass er mit dir zusammen das ewige Leben habe. Wünsch ihm, dass er dein Bruder oder deine Schwester sei. Wenn du also deinen Feind liebst, dann liebst du in ihm nicht, was er ist, sondern was du möchtest, dass er sei.
Manchmal scheint es unmöglich, im wutverzerrten Gesicht meines Krakeelnden gegenüber einen Menschen zu sehen, der nach Gottes Willen mein Bruder oder meine Schwester werden soll. Es fällt einfach schwer, das zu glauben oder zu hoffen. Dann sollte unser Blick zum Kreuz gehen. Denn wir glauben, dass im Gekreuzigten, der vom Durst gequält und von Schmerzen gepeinigt ist, die Liebe Gottes in Person ist. Ist das nicht viel schwerer zu glauben?
Ein zweites Beispiel: Christliche Ethik sieht weiter, weil sie ernst nimmt, dass menschliche Lebensbezüge immer in zahlreichen Wirkungszusammenhängen stehen. Daher ist es zum Beispiel wichtig zu fragen, warum Frauen sich für eine Abtreibung entscheiden.
In einer Untersuchung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gaben Frauen am häufigsten als Grund eine schwierige oder zum Kindsvater nicht mehr bestehende Beziehung an. Auf dem Grund der Entscheidung stoßen wir somit nur allzu oft auf Unsicherheit, fehlendes Vertrauen und vielleicht auch Beziehungsangst.
Was trägt dieser Befund für den Lebensschutz bei, der Auftrag nicht nur von Christen, sondern auch vom Gesetzgeber ist? Der Befund zeigt: Der wirkungsvollste Beitrag zur Verhinderung von Abtreibung ist die Stärkung und Stabilisierung von Paarbeziehungen. Unter allen Paarkonstellationen hat die Ehe die größte Wahrscheinlichkeit auf dauerhaften Bestand.
In der Konsequenz bedeutet das: Die Beteuerung im politischen Raum, man wolle ja weniger Abtreibungen, ist so lange unglaubwürdig, wie gleichzeitig die traditionelle Familie von Vater, Mutter und Kind geschwächt und zugunsten einer vorgeblichen Vielfalt von Lebensentwürfen Politik gemacht wird.
Glaubwürdig ist eine Politik des Lebensschutzes nur, wenn sie aktiv dazu beiträgt, dass die Bindungen zwischen Ehepartnern und die Bindungen zwischen den Generationen gestärkt werden. Nicht der Individualismus braucht noch mehr Bestärkung, sondern solche Beziehungen, in denen Kinder gedeihlich aufwachsen und die Alten sowie des Lebens müde Menschen auch dann nicht aufgegeben werden, wenn es so viel billiger wäre, Leiden zu beseitigen, indem die Leidenden beseitigt werden.
In unseren westlichen Gesellschaften weisen jedoch viele Zeichen in die entgegengesetzte Richtung. Die natürliche Familie wird geschwächt, die Bindungslosigkeit wächst, und der gesetzliche Schutz am Anfang und Ende des Lebens erodiert. Vielen Christen ist das eine Anfechtung.
In solchen Momenten sollten wir uns daran erinnern, dass das Zeugnis für das Leben, das Zeugnis für den lebendigen Herrn Jesus Christus und das Zeugnis für versöhnte, gewaltfreie Beziehungen schon immer umkämpft war.
Der Münchner Kaplan Hermann Josef Werle wurde am 14. September 1944 als Mitwisser des Attentats auf Adolf Hitler zum Tode verurteilt und noch am selben Tag gehängt. In seinem letzten Brief schreibt er an einen erst siebzehnjährigen Freund:
„Du wirst manchmal glauben, das hat doch alles keinen Sinn, es bleibt nur das scharfe, kantige Kreuz. Du wirst erschrecken vor diesem Kreuz, es aber aufheben und dem Herrn nachtragen. Darin liegt das Geheimnis der Freundschaft mit Jesus.“
Und denkt daran: Alle Kreuzwege münden letztlich ein in den Osterweg unseres Herrn und besten Freundes Jesus Christus. Also Mut und unerschütterliches Gottvertrauen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.