Hier atmet einer gesiebte Luft. Hier sitzt einer hinter Schloss und Riegel. Hier isst einer aus dem Blechnapf. "Paulus i.G.", Paulus im Gefängnis. Das ist der Absender. Dabei handelt es sich um keine kurzfristige Festnahme zur Überprüfung der Personalien. Es hat auch nichts mit einem Wochenendarrest wegen nicht genehmigter Demonstration zu tun. Zeitlich begrenzte Haftstrafen werden an anderer Stelle abgebrummt. Dieser Schreiber ist wegen Landesfriedensbruch zum Tode verurteilt. Dieser Häftling rechnet jeden Tag mit seiner Hinrichtung. Paulus hockt in der Todeszelle. Wird er jetzt hinter vorgehaltener Hand von Gewalt und von Befreiung und von Umsturz reden? Zur Faust geballte Hände stehen auf Revolution. Oder wird er mit abwehrender Hand zum Nichtstun und zum Laufenlassen und zum Schweigen raten? In den Schoß gelegte Hände verfallen der Resignation. Revolution oder Resignation? Das war die Frage. Revolution oder Resignation? Das ist die Frage. Revolution oder Resignation? Das wird die Frage sein. Man muss ja gar nicht am Tiber auf die Henkersmahlzeit warten, um das heulende Elend zu bekommen. Hier am Neckar sind Menschen in Einsamkeit gefangen. Hier in Stuttgart sind Menschen an Krankheiten gekettet. Hier in Württemberg sind Menschen an Sorgen und Süchten gebunden. Auch hier hat das Todeselend viele Gesichter. Vom Glück sind wir getrennt wie durch eine Gefängnismauer. Was zählt bei uns? Die einen reden von Gewalt. Sogar ein Kirchenführer formulierte: "Seitdem Gott die Gewalt des Kreuzes annahm, heiligte er die Gewalt als ein heilsames Werkzeug, um den Menschen zu bessern." Untergrundkämpfer, Bombenleger, Terroristen sollen die Verhältnisse ändern. Geballte Fäuste rufen zur Revolution. Die andern lassen die Köpfe hängen. Ihre Losung stammt aus Dantes göttlicher Komödie: Lasst alle Hoffnung fahren. Alkohol, Nikotin, Heroin oder Kokain sind die einzigen Problemlöser. Lasche Hände verbreiten Resignation. Revolution oder Resignation? Paulus weiß um einen dritten Weg. Nicht die zur Faust geballten Hände und nicht die in den Schoß gelegten Hände, sondern die zum Gebet gefaltenen Hände tun not. Der Apostel durchbricht die böse Alternative zwischen Revolution und Resignation mit der Meditation: Man tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung. Dieser Aufruf ist höchst aktuell geblieben. Schlagende Hände, die Köpfe und Leiber blutig schlagen, haben wir wahrlich genug. Schmutzige Hände, die sich in Unschuld waschen, sind überall zu beobachten. Leere Hände, die nach billigem Glück greifen, werden vielerorts ausgestreckt. Fleißige, arbeitende, helfende Hände haben wir vielleicht selbst. Aber wo sind die betenden Hände, die nicht nach den Sternen, sondern nach Gott greifen? Wir sind doch nicht zur Gefangenschaft verdammt, sondern zum Gebet befreit. Wir greifen doch nicht ins Leere, wenn wir nach Gott greifen. Wir haben doch die Zusage Gottes: "Ich will mich von euch finden lassen." Deshalb schreibt dieser Todeskandidat nicht: "Ich rate euch zu beten" oder "ich empfehle euch das Gebet". Paulus schreibt vielmehr: "Ich ermahne euch zu beten, ich feure euch zum Gebet an." Hinter den Worten steckt der heiße Atem dessen, der den dritten Weg beschritten hat und will, dass wir ihn auch gehen: Betet! Auf vier mögliche Rückfragen gibt er in diesen wenigen Zeilen eine Antwort.
1. Beten, aber wann?
Wir haben Probleme mit der Zeit. Morgens pressieren wir auf den Bus. Die Zeit zwischen Weckerrasseln und Haus verlassen ist knapp bemessen. Ein richtiges Frühstück ist nur am Samstag drin. Mittags stehen wir voll im Stress. Ein Telefongespräch jagt das andere. Ein gemütliches Nickerchen gibt es nur am Wochenende. Abends sind wir hundemüde. Die Kraft reicht gerade noch für das Fernsehspiel. Der Tag hat uns richtig geschafft. Wann sollen wir die Hände falten? Wann sollen wir beten? Wann ist die richtige Zeit für das Gebet? Paulus sagt: Vor allen Dingen.
Also vor allem sollen wir die Hände falten. Vor allem andern sollen wir beten. Vor allen andern Dingen soll das Gebet den ersten Rang einnehmen. Gebet muss Nr. 1 sein. Gott will doch nicht nur hinterher billigen. Er will doch nicht nur im Nachhinein sein Placet geben. Er will doch nicht nur den Karren aus dem Dreck ziehen, den wir ohne ihn hineinmanövriert haben. Allein das Gebet vor allen Dingen lässt Gott Gott sein und ist der Sache angemessen. Das heißt ganz praktisch: Beten wir um einen guten Tag, bevor wir das Radio anstellen und die Zeitung aus dem Briefkasten holen. Beten wir um eine gesegnete Woche, bevor wir den Terminkalender aufschlagen und die anstehenden Dinge erledigen. Beten wir um ein friedevolles Leben, bevor wir um den Frieden streiten und im Unfrieden einander das Leben schwer machen. Beten wir um einen frommen Ehepartner, bevor wir uns umsehen und vor Liebe blind werden. Beten wir um rechte Kinder, bevor sie das Leben empfangen und zur Welt kommen. Beten wir um ein seliges Sterben, bevor die Schmerzen kommen und die Kräfte schwinden. Michael Hahn, der schwäbische Bauer und originelle Pietist, sagte es vor 180 Jahren so: "Wenn ich meine Wiese mähe, ist es wichtig, dass ich meine Sense dengle vor dem Mähen und nicht erst nachher." Sensen dengeln, Sinne schärfen, Gedanken richten, Hände falten, einfach beten in Dank, Bitte und Fürbitte, vor allem, vor allem andern, vor allen andern Dingen, das meint Paulus, wenn er zur Feder greift und dazu kräftig ermahnt. Nun die zweite Rückfrage zum Gebet.
2. Beten, aber wie?
Wir haben Probleme mit der Sünde. Dieser Sund trennt Himmel und Erde. Zwischen Gott und uns liegt ein tiefer Graben. Meiner Frau im Haus kann ich etwas sagen. Meinem Nachbarn über der Straße kann ich etwas rufen. Meinem Onkel in Amerika kann ich etwas telefonieren. Es gibt keinen Punkt rund um den Globus, der nicht per Funk oder Kabel erreichbar wäre. Aber zum Thron Gottes habe ich keine Verbindung. Man mag sich die Lunge herausschreien wie die Baalspriester. Man mag die Gebetstrommeln schlagen wie ein Tibetaner. Man mag die Mantrasilben wiederholen wie ein Guru. Keiner durchbricht die Schallmauer zur Ewigkeit. Niemand erreicht das Ohr Gottes. Der Mensch ist seit Eden nicht mehr gottunmittelbar. Wir wären mit uns mutterseelenallein, wenn, ja wenn Gott nicht von sich aus die Initiative ergriffen hätte. Er sah eine Lösung, die für uns zur Erlösung wurde. Er stellte einen Mittler bereit, der für uns vermittelte. Er schlug eine Brücke über den Sund. Weihnachten ist der Brückenschlag. Karfreitag ist das Brückenholz. Ostern ist das Brückengeländer. Jesus Christus ist die Brücke der Brücken. Und so wie ich über die König-Karls-Brücke nach Cannstatt oder über die Rheinbrücke nach Frankreich komme, so kann ich jetzt über die Jesusbrücke zu Gott kommen. Gebet ist kein vermessener Wahn Gott dreinzureden, wie Immanuel Kant meinte. Gebet ist keine Telefoniererei, bei der sich niemand auf der anderen Seite meldet, wie Rainer Maria Rilke meinte. Gebet ist kein infantiles Durchgangsstadium, das sich beim Erwachsenen legt, wie Johann Gottlieb Fichte meinte. Nein, Friedrich von Bodelschwingh, der Gründer von Bethel, wusste es besser: Sich aus der Welt der Angst aufmachen und zum Vater gehen. Es gibt keine Ecke der Welt mehr, wo diese Jesusbrücke nicht gebaut ist. Aus der Ferne des Zweifels, aus dem Dunkel der Krankheit, aus der Tiefe der Schwermut, aus dem Loch der Einsamkeit, aus der Hölle der Verzweiflung ist uns die Direktverbindung zu Gott angeboten, von dem der Psalmist wusste: "Da dieser Elende rief, hörte der Herr und half ihm aus allen seinen Nöten." Paulus hat dies unterstrichen: Es ist ein Mittler, es ist eine Brücke zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus. Und die dritte Rückfrage lautet:
3. Beten, aber wofür?
Wir haben Probleme mit den Namen. Im eigenen Namen und in eigener Sache zu beten ist kein Problem. Auch für unsere Frau und unsere Kinder zu bitten macht meistens keine Schwierigkeiten. Gerne denken wir an die Freunde, die immer wieder an uns denken. Aber schon beim Schwiegersohn oder der Schwiegertochter haben wir seltsame Hemmungen. Und diese schöne Verwandtschaft kann von uns doch keine Fürbitte erwarten, wo sie uns so schnöde behandelt haben. Nein, für die und für den legen wir auf keinen Fall die Hände zusammen. Schließlich sind wir auch nur Menschen und lassen unsere Ehre nicht in den Dreck ziehen. Aber Paulus wurde sogar ins Gefängnis gezogen. Hauptleute verordneten ihm achtmal eine Tracht Prügel. Die Obrigkeit verurteilte ihn wider besseres Wissen und Gewissen zum Tod. Und trotzdem betet er für diese Schergen und bittet, für alle Menschen zu beten, für gute und schlechte, freundliche und zornige, hohe und niedrige, christliche und unchristliche. Das Gebet macht vor keinem Halt und vor nichts. Denn Jesus hat ja auch nicht vor uns und der Welt Halt gemacht. Niemand und nichts wird aus dem Gebet entlassen, denn wer hätte es nicht nötig, dass für ihn eingestanden wird? Ein alter Lehrer hatte viel unter Schlaflosigkeit zu leiden. An einem Morgen fragte ihn ein Besucher "Hast du gut geschlafen?" Er antwortete: "Ich habe gut gewacht." Auf die Rückfrage, was er denn damit meine, erklärte er, dass er in solch einer Nacht fürbittend das ganze Dorf durchbesuche. Kein Haus lasse er aus, und wenn er dann immer noch nicht schlafen könne, dann durchwandere er mit seinem Herrn Länder und Kontinente, die diese Fürsprache bräuchten. Gut gewacht! Dieser alte Christ hat Paulus verstanden. Auch wenn wir keine Schlafprobleme haben, sollten wir andere Stunden für diesen Besuchsdienst freimachen. Unsere Familie braucht die Fürbitte, weil die Kinder ihre eigenen Köpfe bekommen. Unsere Verwandtschaft braucht die Fürbitte, weil Streitereien so tief verletzten. Unsere Gemeinde braucht die Fürbitte, weil Anonymität keine Gemeinschaft baut. Unsere Stadt braucht die Fürbitte, weil Leere um sich greift. Unsere Regierung braucht die Fürbitte, weil Recht Recht bleiben muss. Unsere Welt braucht die Fürbitte, weil sie wie der Zauberlehrling ihre selbst entfachten Brände nicht mehr löschen kann. Betet für alle Menschen! Und eine letzte Rückfrage:
4. Beten, aber wozu?
Paulus weist auf den letzten Zweck: damit alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Die Wahrheit aber ist, dass wir alle von Natur aus gefallen sind, abgefallen, hinuntergefallen in den trüben Strom der Zeit, in dem wir nun hilflos schwimmen und einem dunklen Ende entgegentreiben. Sicher können wir für einen Hineingefallenen bitten: "Herr, lass ihn in diesem tiefen Strom nicht untergehen. Herr, lass ihn in diesem kalten Wasser nicht erfrieren. Herr, lass ihn in dieser giftigen Brühe nicht vergiftet werden." Lauter respektable Bitten, ganz gewiss, die aber seine Lage nicht entscheidend ändern. Er wird weitertreiben und im Tode enden. Der Mann muss heraus. Der Mann muss ans Ufer. Der Mann muss gerettet werden. Genau das aber will der Retter Jesus tun, wenn wir ihn darum bitten. Was nützt uns letztlich die Bewahrung vor Arbeitslosigkeit, wenn wir doch ein Ende mit Schrecken nehmen? Was nützt uns letztlich die Bewahrung vor Krankheit, wenn wir doch den Todesbazillus in uns tragen? Was nützt uns letztlich die Bewahrung vor Krieg, wenn wir doch alle Waffen strecken müssen? Was nützt uns letztlich die Bewahrung vor der radioaktiven Wolke, wenn wir doch in der Verstrahlung der Sünde umkommen?
Liebe Freunde, man kann vor großem Schrecken bewahrt werden und doch ewig verloren gehen. Und man kann in große Schrecken geführt werden und doch ewig gerettet sein. Gott möchte, dass alle gerettet werden, deshalb schickt er den Retter und deshalb gibt es das Gebet um Rettung. Weil die Welt in Not ist, deshalb müssen wir’s hören: Nicht die zur Faust geballten Hände und nicht die in den Schoß gelegten Hände, sondern die zum Gebet gefaltenen Hände tun not.
Amen
[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]