Ich möchte Sie heute zu unserer ersten Passionsandacht begrüßen, mit dem Wort: Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Amen.
Wir singen gemeinsam aus dem Lied 65, die Verse 1 bis 4.
Nun wollen wir beten: Liebster Herr Jesus, wir kommen aus einem Tag voller Geschäftigkeit, mit viel Arbeit und einer Welt, die um uns herum in Bewegung war. Stell du uns nun vor Augen, was du durchlitten hast.
Zeige uns, was es bedeutet, dich zu verlieren, was Gottverlassenheit heißt. Erinnere uns daran, dass du all dies getragen hast, damit wir Leben haben, Freude finden und zu dir heimkehren können.
Herr, jetzt rede du zu uns und öffne uns die Augen für deine Passion. Amen.
Einführung in die Passionsgeschichte und der Ort des Geschehens
Die Passionsgeschichte ist reich an vielen Geschehnissen. Heute lese ich das, was sich an diesem Montagabend der Passionswoche in Betanien zugetragen hat. Betanien liegt wenige Kilometer vor Jerusalem.
Sechs Tage vor Ostern kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus lebte. Lazarus war von Jesus von den Toten auferweckt worden. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl, und Marta diente. Lazarus aber war einer der Gäste, die mit Jesus zu Tisch lagen.
Maria nahm ein Pfund Salbe aus unverfälschter, kostbarer Narde. Sie salbte die Füße Jesu damit und trocknete seine Füße mit ihrem Haar. Das ganze Haus wurde erfüllt vom Duft der Salbe.
Da sprach Judas Ischariot, einer von den Jüngern Jesu, der ihn später verriet: „Warum ist diese Salbe nicht für dreihundert Silbergroschen verkauft und das Geld den Armen gegeben?“ Er sagte das jedoch nicht, weil ihm die Armen am Herzen lagen. Judas war ein Dieb und führte den Geldbeutel. Er nahm, was gegeben wurde, für sich.
Jesus entgegnete: „Lasst sie in Frieden. Dies soll gelten für den Tag meines Begräbnisses. Denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit!“
Herr, erklär uns dein Wort! Amen!
Die widersprüchlichen Figuren in der Passionsgeschichte
In der Passionsgeschichte, liebe Brüder und Schwestern, geben alle ein schmähliches Bild ab: Pilatus wirkt diplomatisch, das Volk ist gehässig, die Priester sind gemein, und auch die Jünger zeigen Schwäche.
Die Jünger wollen wir lieber nicht erwähnen: Sie haben geschlafen, obwohl sie hätten wachen sollen. Einer von ihnen hat Jesus verraten. Selbst Josef von Arimathia war in der entscheidenden Stunde irgendwo versteckt im Hintergrund.
Nur eine Person wird uneingeschränkt gelobt – und das ist Maria. Diese Maria hat Jesus schon einmal in Schutz genommen und ein Wort für ihn gesprochen.
Ich weiß nicht, wie Ihr Verhältnis zu diesem Bericht ist. Die Parfümwolke im Haus Simons des Aussätzlichen – wir haben ja alle etwas gegen hysterische Frauen. Man fragt sich oft, ob das eine angemessene Form der Jesusverehrung ist. Was, wenn das Schule machen würde und jeder so eine Flasche mitbringen würde? Da müssen wir vorsichtig sein.
Doch Maria war eine besonnene Frau. Das möchte ich an drei Stellen zeigen: Sie war eine besonnene, nüchterne Frau.
Maria als Frau des Dankes
Erstens: Sie dankt. Jesus war diesmal nicht im Haus, wo Maria und Martha wohnten und wo Lazarus war. Stattdessen war er, wie Markus und Matthäus berichten, im Haus Simons des Aussätzigen. Lazarus war dort als Zeuge dessen, was Jesus an ihm getan hatte.
Dann tritt Maria ein. Vermutlich handelte es sich um eine reine Männerversammlung, und sie muss einfach handeln. Ein Ausleger meinte, sie hätte in der Aufregung den Deckel ihrer Parfümflasche nicht herunterbekommen. Andere sagen, der Deckel sei wegen des Duftes zugelötet oder sogar im Glasgefäß verschlossen gewesen. Deshalb zerbrach sie es. Was tut es? Sie vergoss diesen kostbaren Inhalt über Jesus.
Was steckt dahinter? Ein Dank. Was für ein Dank! Sie hätte sagen können: Ich habe meinen Bruder wieder.
Was war das für ein furchtbarer Augenblick im Haus dieser beiden Schwestern! Sie wissen es aus der Bibel, wie sie verzweifelt Jesus entgegengerannt sind: „Herr, wärst du da gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!“ Dann spricht Jesus sein Wort und schenkt ihnen Lazarus wieder. Doch es war nicht nur das.
Maria hatte bei Jesus alles gefunden, was ihr Leben reichmachte. Entschuldigen Sie, jetzt habe ich ein Wort benutzt, das ich nicht erklärt habe. Sie hat bei Jesus alles gefunden, was ihr Leben erfüllte. Alles, einfach alles. Wo der andere sagt: Das ist mein Auto, das ist mein Beruf, das sind meine Kinder, das ist meine Ehe, da sagt sie: Ich habe in Jesus Lebenserfüllung gefunden – Freude, Sinn. Das zeigte sich da, wo sie so still vor Jesus zu Füßen saß.
Wir haben gerade das Lied von diesem Homburg gesungen. Ich habe es Ihnen schon im letzten Jahr in einer Passionsandacht erzählt. Dieser Rechtsanwalt war ein lustiger, lebenslustiger Mann. Er gab zu seiner Zeit eine Sammlung von Sauf- und Trinkliedern heraus und dichtete die Tragikomödie von der verliebten Schäferin Dulci Kunde. Der Mann, der an nichts anderes dachte, dem Gott plötzlich seine Frau weggenommen hat.
Und da, mittendrin, hat er nach Jesus gesucht und ihn gefunden. Er hat das niedergeschrieben und sagt: Die anderen werden sich fragen, warum er plötzlich geistliche Lieder dichtet. „Ist Saul auch unter den Propheten?“ Dann sagt er: Wenn Gott einen Menschen findet, dann kann man ihn oft erst unter schwerem Kreuz finden. Und das gehört zu unserem Leben wie das Buch zum Schüler. Wie der Kranz zerbrochen wird, aber man alles entdeckt.
Dann singt er dieses Loblied, seine 165 geistlichen Lieder: „Tausend, tausendmal sei dir, großer König, Dank dafür, Dank an Jesus!“
Ich möchte Ihnen nur diesen Tipp geben: Machen Sie sich mit dem, was an Last in Ihrem Leben liegt, auf die Suche – über die Bibel, Jesus. Was kannst du mir schenken? Was ist dein Leiden und Sterben für mich? Dank!
Sie dankt – das war das Erste. Deshalb vergoss sie diese Flasche über Jesus.
Maria als dienende Frau
Das Zweite Sie dient – das muss man ein wenig erklären, besonders im Hinblick auf die Gebräuche früherer Zeiten. Im alten Israel galt es als Schande, wenn eine Frau ihre Haare auflöste. Das taten nur die Dirnen. Für eine jüdische Frau war es eine Verletzung ihrer Ehre, die Haare offen zu tragen.
Ich habe das noch einmal in einer Sammlung jüdischer Geschichten nachgelesen. Dort wird erzählt, dass alle sieben Söhne einer Frau hohe Priester wurden. Diese Frau hätte niemals den Balken ihres Wohnzimmers mit ihren offenen Haaren gezeigt. Das war eine jüdische Sitte.
Maria aber löst ihre Haare auf. Sie war keine schlechte Frau und auch nicht die große Sünderin aus dem Gleichnis. Sie kann über jede Form und Sitte hinwegsehen, wenn es darum geht, zu dienen. Wenn es darum geht, für Jesus einen Dienst zu tun, ist ihr gleichgültig, ob die Nachbarn sie als unanständige Frau beschimpfen.
Für Jesus gibt es keine Norm und keine Etikette mehr – man muss dienen. Diese Haltung ist in ihr gewachsen, weil ihr Herz von Liebe geweckt wurde. „Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ Die Liebe Gottes ist in unser Herz ausgegossen, und so bricht diese Liebe aus Maria heraus. Sie muss einfach lieben.
Ich habe Angst davor, wenn wir in unserer Welt Sozialfragen diskutieren – so wie es die Jünger taten, als sie fragten, ob man nicht die Armen unterstützen sollte. Das ist eine ernsthafte Frage.
Jesus zeigt uns die Kraft der Diakonie, der überströmenden Liebe, die aus dem Herzen quillt. Wo war das immer wieder zu sehen? Dort, wo Menschen plötzlich angefangen haben, Aussätzliche zu berühren, ohne zu fragen, ob sie sich anstecken könnten, und das nur um Jesu willen. Dort, wo Menschen plötzlich den abscheulichsten und abstoßendsten Menschen angenommen haben – nicht weil diese liebenswert gewesen wären, sondern weil Jesus sie nicht fallen lässt. Und weil man die rettende Liebe Jesu an sich selbst erfahren hat.
Dann muss man über alle Gebote, Sitten und Gewohnheiten hinweggehen und neue Wege bahnen. Das ist die dienende Maria. Sie dankt, sie dient und sie ehrt.
Maria als Frau der Ehre
Das wäre noch das Dritte. Nun müssen wir uns vorstellen, was sie gegeben hat. Judas hat schnell ausgerechnet: dreihundert Dinare. Übrigens lässt sich das aus außerbiblischen Quellen belegen. Die Bibel schreibt ja korrekt bis ins Letzte hinein und pünktlich. Wir haben aus römischen Quellen eine Aufzeichnung, dass die teuersten Salben damals 310 Dinare kosteten. Dreihundert schätzt Judas fachkundig und sagt: Das ist so die obere Spitze, das riecht man ja, das ist echt, das ist keine billige Imitation dieser Salbe, die dort ausgeschüttet wurde.
Jetzt möchte ich Sie mal fragen: Das ist doch wirklich zu erwägen. Ein Arbeiter hat damals einen Dinar pro Tag verdient. Zieht man die Sabbate und die Festtage ab, dann war das ein Jahreslohn. Was hat denn Jesus davon? Er war doch sonst nicht so. Er hat doch verzichtet aufs Dach über dem Kopf, er hat aufs Bett verzichtet, er hat oft aufs Essen verzichtet, vierzig Tage gefastet. Warum legt er denn so viel Wert darauf, dass dieser Dienst an ihm geschieht?
Er sagt zum Begräbnis: Braucht es den irdischen Leichnam Jesu noch, dass man ihn mit Parfüm balsamiert? Also das kann doch nicht sein. Es bleibt nur das eine übrig: Jesus hat es gern, wenn man ihn ehrt. Ist es Jesus wichtig? Das ist Jesus sehr wichtig.
Ich freue mich, dass Sie sich heute Abend aufgemacht haben, auch ein Stück um Jesus zu ehren, der leidet und stirbt und sein Leben hingibt. Dabei darf ruhig noch ein Stück Hausputz vor die Feste liegen bleiben, ein bisschen Backwerk und was Sie noch machen wollen. Er ist es wert, dass man ihn ehrt. Er hat es gern, er nimmt es an, wenn Maria es unterstreicht: Du bist mir mehr als alles.
Und Jesus sagt ja, an den Armen könnte auch noch viel getan werden. Uns bleibt noch viel Zeit, all die anderen Aufgaben, die wir sonst so vorschieben, auch noch zu tun. Er hat es gern, wenn man ihn ehrt.
Jetzt, am Anfang dieser Passionswoche Jesu, des leidenden Jesus, der sein Leben für uns hingibt: Danken, dienen, ehren! Amen!
Abschluss mit Lied, Gebet und Segen
Nun wollen wir noch die anderen vier Verse von diesem Lied von Ernst Christoph Homburg singen, 65, die Verse 5 bis 8.
Beten: Herr Jesus Christus, wir sind oft so damit beschäftigt, in unserem Leben Dinge einzufangen, die uns glücklich machen sollen. Du aber hast all das Leiden, dieses Sterben und diese Qualen auf dich genommen, um uns das Größte zu schenken: Deine Vergebung.
Weil du uns annehmen willst und uns den Himmel aufschließt, Herr, lass uns keine Ruhe, bis wir das ganz entdecken. So wie Maria dir darüber danken können, wollen wir dir dienen und dich ehren.
Segne uns diese ganze Passionswoche. Gib uns auch die richtigen Worte, damit wir davon weiter erzählen können – von dem, was du an uns getan hast. Lass uns das festhalten in all den Bewährungen und Anfechtungen unseres Lebens.
Geh du auch mit uns, wenn wir das weitertragen wollen, zu den Kranken und Leidenden in unserer Gemeinde, die wir dir auch für diese Nacht anbefohlen haben. Sei du bei ihnen, halte deine Hand über sie und gib uns und ihnen deinen Frieden.
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
In diesen Passionsandachten wollen wir, wie schon in den letzten Jahren, einen Kreis durch unsere Opfer hinübergehen lassen: die Arbeit des syrischen Waisenhauses, mit dem ja seit alters her unsere württembergische Kirche in den Passionstagen verbunden ist – in Amman, in Jordanien, und im Libanon in Kirbet-Kanafach.
Herr, segne uns und behüte uns. Herr, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Herr, hebe dein Angesicht auf uns und gib uns Frieden.