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03.10.19935. Mose 26,1-11
Für die Israeliten in Äypten galt genauso wie für uns am Erntedankfest und Tag des Mauerfalls: Danken kommt durchs Denken. Konrad Eißlers Appell: Denket nach, wen Gott sieht, wen er führt und wie er führt. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

Dass wir wieder "danke" sagen, wo uns das "bitte" so leicht fällt, darum geht es. Dass wir wieder danken können, wo uns das Nörgeln und Schimpfen so schnell auf den Lippen ist. Dass wir wieder Dankbarkeit lernen, wo uns die Unzufriedenheit zu schaffen macht, darum geht es an diesem Festtag. Aber wie ist das möglich, "danke" sagen, danken können, dankbar sein?

Ein Blick auf die schöne Ernte wird nicht genügen, weil wir nämlich auch das andere sehen, wie Kartoffeln, Birnen, Tomaten nicht mehr kostendeckend abge­deckt werden können. Der Agrarmarkt hat seine erbarmungslosen Gesetze und die Landwirte fühlen sich als Packesel der Gesell­schaft, die die Lasten für andere tragen. Wenn dann noch Löffel­bagger auffahren und Berge von Frischgemüse einfach kompostieren, um den Preis zu halten, dann steigen beschwerliche Fragen in uns auf. Danken kommt nicht durchs Sehen.

Die Nachricht von einer guten Ernte wird auch nicht genügen, weil wir nämlich auch das andere hören, wie in Drittländern Missernten zu schaffen machen. Über eine halbe Milliarde Menschen werden laut Weltbank in den kommenden Monaten vor halb gefüllten oder gar leeren Tellern sitzen. Der Hunger als entsetzliche Geißel ist längst nicht ausgerottet. Wenn dann noch Meldungen über eine kanadische Erfindung durch die Presse gehen, Weizen in billiges Baumaterial umzuwandeln, dann sind wir entsetzt. Danken kommt nicht durchs Hören.

Und die Hoffnung auf eine reiche Ernte wird erst recht nicht genügen, weil wir nämlich auch das andere hoffen, nicht zu viel Kalorien abzubekommen. Wir verwenden Süßstoff und ver­zichten auf Schlagsahne, wir reduzieren Mehlspeisen und trinken Joghurt, wir joggen durch den Wald und legen Safttage ein, um das Gewicht zu halten. Wenn dann noch reiche Kaffeetafeln und opulente Buffets vor uns aufgebaut werden, geraten wir in große Versuchung. Danken kommt nicht durchs Hoffen.

Aber wenn es nicht durchs Sehen, durchs Hören, durchs Hoffen kommt, durch was kommts Danken dann?

Gehen Sie mit mir nach Alt-Israel. Irgend­wo in der Jordanebene mag jener Bauer zuhause gewesen sein. Jetzt geht er mit einem Korb über die reifen Felder. Hier schneidet er ein paar Ähren ab. Dort gräbt er ein paar Knollen aus. Drüben schneidet er ein paar Trauben vom Stock. "Opa, geht es auf den Markt?", fragt der Enkel. "Nein, Bub", sagt der Alte, "nicht Markttag ist's, sondern Danktag. Willst du mit?" Welcher Junge lässt sich das zweimal sagen? Während sich der Bauer ein frisches Hemd überzieht, windet die Bäuerin noch etwas Grün um den Erntedankkorb. Dann geht's zum Tempel hinauf. Dort nimmt der Priester keine Ähre aus dem Korb und sagt: "Sieh, wie wunderbar dieser Halm ge­wachsen ist". Dann nimmt er keine Knolle in die Hand und sagt: "Hör, wie großartig die Ernte ausgefallen ist". Dann nimmt er keine Traube in den Mund und sagt: "Hoff, dass daraus ein guter Jahrgang wird". Der Priester stellt den Früchtekorb vor den Altar und sagt: "Denke, wie miserabel dein Volk in Ägypten dran war. Denke, wie stark dieses Volk von Gott herausgerissen wurde. Denke, wie reich dieses Volk mit neuem Land beschenkt worden ist. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet!" Dann sieht der Bub, wie der Großvater die Hände faltet und jenes älteste Glaubensbekenntnis der Bibel betet: "Mein Vater war ein Aramäer dem Umkommen nahe und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling."

Liebe Gemeinde, danken kommt durchs Denken. Jede Ähre weist wie ein ausgestreckter Zeigefinger auf den Schöpfer. Diesem Gott gilt es nachzudenken. Jede Knolle zeugt wie ein Beweisstück vom Geber aller guten Gaben. Diesem Gott gilt es nachzudenken. Jede Traube ist wie ein Liebeszeichen dieses Erhalters allen Lebens. Diesem Gott gilt es nachzudenken, damit wir wieder danken können. Also tun wir es jetzt.

1. Denket nach, wen Gott sieht

In Ägypten regierte der Pharao. Wörtlich übersetzt heißt das "großes Haus". Krone mit Kobra und Krummstab dazu wiesen ihn als unumschränkten Herrscher am Nil aus. Durch kluge Bündnispolitik festigte er seine Machtfülle im vorderen Orient. Aber Gott sah nicht zuerst den Pharao.

In Ägypten tönte der Potifar, ein Spitzenbeamter am Hof. In sein Ressort gehörte die innere Sicherheit, der Strafvollzug und die Exekutionen. Den damals unbekannten Vorwurf der Ämterhäufung hätte er sich gefallen lassen müssen. Aber Gott sah nicht zuerst den Potifar.

In Ägypten befehligte der Fronvogt. Riesige Bautrupps erstellten in Pithom und Ramses Silos fürs Getreide und Pyramiden für die Toten. Alles hörte auf sein Kommando. Aber Gott sah nicht zuerst den Fronvogt.

Sein Auge fiel auf diese Aramäer, die sich als verachtetes Vagabundenpack auf dem Lande verdingen mussten. Sein Blick fiel auf diese Hebräer, die sich als billige Gastarbeiter auf dem Bau ausnehmen lassen mussten. Seine Liebe fiel auf diese Habenichtse, die sich als Opfer einer verheerenden Apartheidspolitik durchschlagen mussten. Er sah ihr Elend, wie sie als Dreck behandelt wurden. Er sah ihre Angst, wie sie als Vieh geschlagen wurden. Er sah ihre Not, wie sie nichts mehr zu beißen hatten. Sie hatten einen Gott, der den Kleinen und Schwachen sieht, so wie sie ihn in Israel immer hatten, als er neben Kaiser Augustus und König Herodes und Statthalter Pilat­us zuerst den Handwerker Josef und den Fischer Petrus und den Zöllner Levi gesehen hat.

Und diesen Gott haben wir auch. Er lässt sich nicht von den Strahlemännern in feinen Nadelanzügen oder schmucken Uniformen blenden. Er lässt sich nicht von den Würdenträgern in samtenen Roben oder glitzernden Gewändern beein­drucken. Orden- und Ehrenzeichen lenken ihn nicht ab. Paulus schreibt: "Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, und das Unedle vor der Welt und das Verachtete, das hat Gott erwählt". Also den unter uns, der mit seinem Elend hierherge­kommen ist, weil er vielleicht von seinen Vorgesetzten oder gar von seinen eigenen Kindern wie Dreck behandelt wird, den sieht Gott. Also den unter uns, der mit seiner Angst hierhergekom­men ist, weil vielleicht bei seiner Krankheit jede medizinische Kunst versagt hat, den sieht Gott. Also den unter uns, der mit seiner Not hierhergekommen ist, weil er vielleicht die Arbeitsstelle verloren hat und nicht weiß, wie morgen sein Tisch gedeckt wird, den sieht Gott. Er übersieht keinen. Ihm kommt niemand aus den Augen. Doch, er hat Sie im Blick.

Denket nach, wen Gott sieht.

2. Denket nach, wie Gott führt

In Ägypten wurde der Auswanderungs­antrag Moses für sein Volk glatt abgeschmettert. So schnell lässt kein Pharao seine billigen Arbeitskräfte ziehen. Er ver­schärfte sogar die Arbeitsbedingungen und erhöhte das Plansoll. Aber dann erfährt man bei Hofe, dass sich keiner an Gottes Völklein ungestraft vergreift. Wer nicht hören will, muss fühlen. Zehn Plagen überfallen das Land und treiben die ägyptische Wirtschaft in eine tiefe Rezession. Eine allgemeine Verdunkelung und Ver­düsterung greift um sich. Eine schlimme Gewässerverschmutzung lässt alle Fische im Nil krepieren. Ein peinigender Insektenbefall geht an die Nerven der Leute. Verheerende Gewitter schlagen die Fluren zusammen und die Heuschrecken besorgen den Rest. Schließlich rafft eine unheimliche Krankheit die ganze Jugend des Landes hinweg. Der Pharao ist mürbe. Israel kann sein Gefäng­nis verlassen. Mit Sack und Pack machen sie sich auf und davon. Immer wieder brandet der Jubel auf: "Er führt uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm." Sie hatten einen Gott, der den Kleinen und Schwachen herausführt, so wie sie ihn in Israel immer hatten, als er die Aussätzigen aus der Isolier­station und die Besessenen aus den Höhlen und die Toten aus den Gräbern holte.

Und diesen Gott haben wir auch. Seit Ägypten gibt es keine Gefangenschaft mehr, die er nicht beenden könnte, kein Gefängnis mehr, das er nicht öffnen könnte, keine Ketten mehr, die er nicht sprengen könnte. Sollten wir heute, am 3. Oktober, dem Tag des Mauerfalls, nicht besonders daran denken? Wer in die Bindung eines Menschen geraten ist, die ihn wie eine Fessel belastet, der denke daran: Er führt heraus. Wer unter den Druck der Verhältnisse gekommen ist und nicht mehr hinaussieht, der denke daran: Er führt heraus. Wer in die Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen geraten ist und sich selbst aufgeben will, der denke daran: Er führt heraus. Wer in den Schlingen der Schuld verheddert ist und nicht mehr herausfindet, der denke daran: Er führt heraus. Nicht einmal der Kerker des Tods kann uns lähmen, weil er an Ostern die Schlösser aufgebrochen und einen Weg zum Leben gebahnt hat. "Er weiß viel tausend Weisen, zu retten aus dem Tod."

Denket nach, wie Gott führt.

3. Denket nach, was Gott gibt

In Ägypten war man seine Arbeits­brigaden los. In langen Kolonnen zogen sie durch die Wüste. Mann und Maus freuten sich über die neu Freiheit. Aber dann ließen sie ihre Flügel hängen. In Schur war kein Tropfen Wasser mehr. In Mara war nur Salzwasser aufzutreiben. In Sin war der letzte Riegel Brot aufgezehrt. Kinder schrien: "Hunger!" Alte stöhnt­en: "Durst!" Das ausgemergelte Volk blieb im Sand auf der Strecke. Die Israeliten waren am Ende.

Aber dann trat Gott in Aktion. Abends rauschte es am Himmel und dann war die Gegend mit Wachteln übersät. Jeder griff nach der Delikatesse und schlug sie in die Pfanne. Und morgens wurden die Brötchen dazu geliefert, frei Haus, gratis, direkt von oben, wie Partyservice. Manna, Vollwertkost, ökologisch einwandfrei, mit Honiggeschmack. Wie das schmeckte? Die Karawane kam wieder in Trab. Marschziel Kanaan. Gott gibt dieses Land mit Milch und Honig. Sie hatten einen Gott, der den Kleinen und Schwachen satt macht, so wie sie ihn in Israel immer hatten, als er die 5000 am Galiläischen Meer, oder die 2000 in der Wüste, oder die 12 beim Passahmahl satt machte.

Und diesen Gott haben wir auch. Der, der Wüsten zu Gärten machte, hat seine Kunst nicht verlernt. Der, der statt Blut und Tränen Milch und Honig fließen lässt, ist mit seinen Kräften nicht am Rande. Dieser Gott der unbegrenzten Möglichkeiten ist immer erst am Anfang, wo wir schon am Ende sind.

Oft denken wir nicht mehr daran, so wie damals nach dem Krieg, als es zum Frühstück für uns Kinder nur Röstkartoffel ohne Fett und eine Scheibe Brot gegeben hat. Hunger hatten wir, Bärenhunger. Die Mutter wusste das und wischte sich Tränen aus den Augen. Aber alle sechs sind wir groß und alt geworden, die dies bestätigen: Er gibt genug.

Auch heute angesichts der Ernte, auch wenn sie nur unter großen Schwierigkeiten in die Scheune gebracht wurde und den ganzen Einsatz unserer Bauern forderte, müssen wir es wieder denken: Er gibt genug.

Und wenn jetzt wieder Tage kommen, die uns nicht gefallen, Wege, die uns ängstigen wollen, Wüsten, die so heiß sind wie die Wüste Sin, dann müssen wir denken: Er gibt genug, auch zum Weitergeben genug, damit du und der Fremdling bei dir, du und der Flüchtling bei dir, du und der Gastarbeiter bei dir fröhlich sei.

Liebe Gemeinde, im Hungerjahr 1946 sagte ein Theologieprofessor zu seinen Studenten: "Früher hieß das: 'Gott segne dir die Mahlzeit'. Dann ließ man den Herrgott beiseite und sagte nur noch: 'Gesegnete Mahlzeit'. Dann ist mit der Zeit aus das 'Gesegnete' weggefallen und man sagt nur mehr: 'Mahlzeit'. Ja, meine Herren, nun aber ist die Mahlzeit auch weggefallen."

Also passen wir auf, dass uns nicht wieder die Mahlzeit wegfällt. Tun wir es deshalb dem alten Bauern in Israel gleich. Legen wir unsere Lebensmittel auf den Altar und denken an den Mittler zum Leben. Sagen wir diesem Gott, der uns sieht, der uns führt und der uns genug gibt, sagen wir ihm: "Danke, Herr, danke".

Beim Danken aber ist der Mensch in seiner schönsten Gestalt.

Amen


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]