Einführung in den Psalm und seine Bedeutung
Der Bibeltext, über den Herr Birnstihl heute zu uns sprechen wird, ist ein Psalm, Psalm 77. In der Guten Nachricht ist er überschrieben mit „Trost in verzweifelter Lage – ein Lied Asaphs nach der Weise Jedutuns“.
Ich schreie zu Gott, so laut ich kann, ich schreie zu Gott, er wird mich hören. In meiner Angst suche ich den Herrn, nachts strecke ich die Hand nach ihm aus, ohne davon müde zu werden. Trost von Menschen kann mir nicht helfen.
Denke ich an Gott, so muss ich stöhnen. Ich komme ins Grübeln, mich packt die Verzweiflung. Er hindert mich, die Augen zuzumachen, ich bin verstört und finde kaum noch Worte.
Ich denke nach über frühere Zeiten, erinnere mich an längst vergangene Jahre, als mich beim Seitenspiel noch Freude erfüllte. Die ganze Nacht zerbreche ich mir den Kopf, immer wieder bewegen mich dieselben Fragen.
Hat der Herr uns für immer verstoßen? Will er sich nicht mehr erbarmen? Ist er nie wieder gut zu uns? Gilt sein Versprechen in Zukunft nichts mehr? Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Verschließt er uns vor Zorn sein Herz?
Von Gottes Macht ist nichts zu sehen, der Höchste tut nichts mehr für uns – das ist es, was mich quält.
Ich denke an deine Taten, Herr, deine Wunder von damals. Mache ich mir das bewusst, zähle ich auf, was du vollbracht hast. Immer wieder denke ich darüber nach: Gott, heilig ist alles, was du tust.
Kein anderer Gott ist so gewaltig wie du. Du bist der Einzige, der Wunder tut. An den Völkern hast du deine Macht bewiesen, dein Volk, die Nachkommen Jakobs und Josefs, hast du mit starker Hand befreit.
Als die Wasserfluten dich sahen, Gott, fingen sie an zu beben. Die Tiefen des Meeres begannen zu zittern, die Wolken vergossen Ströme von Regen. In ihrer Mitte grollte der Donner, und deine Pfeile schossen hin und her.
Dein Wagen donnerte durch die Wolken, deine Blitze erhellten die Welt. Die Erde zitterte und bebte, dein Weg führte mitten durchs Meer, deine Schritte gingen durch Wassertiefen. Doch deine Spuren konnte niemand sehen.
Durch deine Diener Mose und Aaron hast du dein Volk geführt wie eine Herde.
Eindrücke von der Kinderevangelisation in Rumänien
Etwas zur Kinderevangelisation zuerst sagen. Vielleicht könnt ihr euch das gar nicht vorstellen, weil ich mir das auch nicht vorstellen konnte. Wir hatten nochmals gesagt, bevor wir zu den Kindern gingen: Übrigens kann man in Rumänien mitten auf dem Dorfplatz, auf dem Hauptplatz, im Dorf fahren. Man kann das Auto quer auf den Platz stellen, sich aufstellen, und dann motzt oder schimpft kein Mensch. Die fahren einfach drumherum. Dann kommt mal eine Kuh vorbei oder irgendein Hund oder irgendetwas. Das ist alles so schlicht und urtümlich. Es braucht keine Bewilligungen.
Übrigens haben auch die Kinder sehr gut mitgemacht. Am letzten Tag sagten wir ja, vielleicht möchten ja Kinder ihr Leben Jesus anvertrauen. Wir sprachen dann die an, die wir für bereit hielten. So wie wir das kannten, dachten wir, da spricht dann vielleicht einmal eine oder andere Ecke. Dann bekehren sich vielleicht zwei, drei Kinder.
Wir sind da, wir singen. Und plötzlich nimmt der Leiter einen Jungen, geht mit ihm weg, und dann geschieht etwas, was wir alle noch nie erlebt hatten. Alle Rumänen, auch die, die vorher kaum bei der Evangelisation waren, saßen jetzt im Auto, um wegzufahren. Alle sind irgendwie mit Kindern zusammen gewesen.
Wann konnte ich das beobachten? Ich sah eine Frau, die mit einem Mädchen sprach. Sie unterhielten sich miteinander. Sie erklärte ihr das Evangelium, dann beteten sie gemeinsam. Danach brachte sie ihr noch ein Lied bei, ein Lied, das das Mädchen bisher noch nie gesungen hatte. Sie sangen es zusammen mit Zeichen, damit das Evangelium mit diesem Lied mit auf den Weg gegeben wird.
Und das ging überall so. Die Kinder gingen mit den Leuten mit, sie sprachen miteinander. Bei einem Mann kamen Jungs dazu, dann Mädchen bei den Frauen. Wir konnten gar kein Spiel mehr machen. Wir hatten ein Spiel vorbereitet, aber es war keine Zeit mehr dafür. Die Atmosphäre stimmte nicht, um noch ein Spiel zu machen. Das haben wir noch nie erlebt.
Das hättet ihr miterleben sollen. Das war so etwas Wunderbares. Das zu sehen, einfach diese Offenheit dieser Kinder, das war faszinierend. Und wie diese rumänischen Geschwister das gemacht haben, das war absolut vorbildlich. Wir waren völlig platt und haben nur gestaunt, was sich vor unseren Augen abspielte. Das wollte ich doch noch sagen.
Das sind ja auch die Dinge, worüber wir uns freuen im Leben, auch im Glaubensleben. Das sind natürlich wunderbare Erfahrungen, wenn wir sehen, dass Menschen offen sind, dass sie Fragen haben. Wir haben gemerkt, in Rumänien gibt es relativ kaum Widerstand, wenn man das Evangelium verkündet.
Die erste Tankstelle, die wir angefahren sind, war von Christen betrieben. Das hat man sofort gesehen. Wenn man weggefahren ist, gab es dort große Tafeln, auf denen stand, ich glaube, "Gott segne sie", also sogar auf Deutsch. Es war klar, das sind Christen, die hier sind.
Das ist schon eine andere Mentalität, als wir sie hier haben. Ein Land, das viele Möglichkeiten bietet, gerade im Bereich Evangelisation. So hat auch Rumänien viel, viel mehr christliche Verhältnisse als wir in der Schweiz. Ich glaube, bis zu zehn Prozent sind evangelikale Christen.
Die Realität des Lebens: Freude und Leid
Eben das Leben bringt viele schöne Zeiten und Erfahrungen mit sich. So eine Zeit haben wir jetzt miteinander erlebt. Einige haben festgestellt, dass es schön ist, einfach Ferien zu machen. Gleichzeitig haben sie erkannt, dass es auch bereichernd ist, wenn man neben den Ferien einen Einsatz leistet. Niemand in unserem Kreis hat das bereut.
Wir lieben auch die schönen Seiten des Lebens, die wir genießen können. Zeiten, in denen es gut läuft und alles gut geht. Doch unser Leben kennt auch andere Seiten. Oft begegnen uns Schicksale, die uns überschatten und schwer zu schaffen machen.
Manch einer kann wie Hiob sagen: „Was ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen; wovor mir graut, das hat mich getroffen.“ Das ist die andere Seite des Lebens, die wir weniger lieben.
Im Folgenden einige Beispiele.
Beispiele von Leid und Schicksalsschlägen
Da ist ein junger Mann, gerade Vater geworden, voller Zukunftspläne. Er beschäftigt sich damit, die neue Lebenssituation als Vater zu bewältigen. Plötzlich verunglückt er tödlich und reißt ein wenige Monate altes Kind zurück, das nun bei der Mutter bleibt.
Oder eine Frau in guten Jahren. Sie ist verheiratet und hat die Ehe mit der festen Absicht geschlossen, Jesus zu dienen. Sie zieht Kinder groß, unterstützt ihren Mann im Geschäft und beteiligt sich rege am Gemeindeleben. Plötzlich muss sie sich der Tatsache stellen und akzeptieren, dass ihr Mann eine jüngere Frau kennengelernt hat – obwohl er ebenfalls Christ ist und in der Gemeinde das Abendmahl verteilt.
Zerbrochen sind nun die Träume von einem gemeinsamen Älterwerden, zerbrochen das ersehnte Familienidyll.
Noch ein Beispiel: Eine Familie, die sich mit aller Kraft im Reich Gottes einsetzt, will Gott dienen. Die Kinder stehen hinter dem Dienst ihrer Eltern. Viele Kontakte pflegen sie, sie bemühen sich um benachteiligte Menschen. Die Eltern empfehlen ihre Kinder immer wieder dem Schutz Gottes an, denn sie wissen, dass sie von Jesus ganz abhängig sind.
Plötzlich erreicht sie während einer Abwesenheit die Nachricht, dass ihre Tochter zuhause ermordet wurde – von einem Mann, den sie begleitet hat. Ein unsägliches Schicksal, das hier über eine christliche Familie kommt, die mit besten Absichten handelt. Schatten und Schicksale, die unser Leben plötzlich erschüttern.
Oder denken wir an dieses Missionsehepaar auf den Philippinen. 13 Monate lang waren sie gefangen, wurden durch Wälder geschleift. Dann kam der Befreiungsschlag für die Frau, doch der Mann wurde im Kugelhagel erschossen, kurz vor der Befreiung.
Gott, warum? Warum? Können wir so etwas verstehen? Nein, wir können es nicht. Und wir könnten noch viele unzählige Beispiele anführen, bei denen man nicht einfach sagen kann, ja, das war ein ungehorsamer Christ oder so. Schicksalsschläge, die das Leben massiv verändern und die wir nicht verstehen können.
Was wären wir gewesen bei einem Unfall mit unserem Bus, in dem 14 junge Leute saßen? Was hätten wir getan? Unsägliches Leid über unsere Gemeinde. Ich bin dankbar, dass wir gut angekommen sind.
Hilflos stehen wir solchen Schicksalen gegenüber. Wie kann ein Mensch das überhaupt verkraften?
Die Bedeutung des Psalms 77 in der Not
Ich denke, Psalm 77 kann uns helfen. Vor einigen Wochen habe ich ihn gelesen und sofort gedacht: „Oh, darüber muss ich unbedingt predigen, weil die Botschaft in diesem Psalm so wichtig ist.“
Dann stellte ich fest, dass ich bereits vor siebeneinhalb Jahren darüber gepredigt hatte. Im Leiterkreis sagte ich unseren Brüdern: „Jetzt wollte ich über diesen Psalm reden, aber ich habe schon darüber gepredigt, und jetzt weiß ich gar nicht, was ich machen soll.“
Trotzdem habe ich mich entschlossen, nochmals darüber zu predigen. Die Botschaft ist mir einfach zu wichtig. Unsere jungen Leute haben mir zwar gesagt, sie würden bald einschlafen während meiner Predigt, aber ich möchte eines betonen: Es ist eine wichtige Botschaft, die dieser Psalm für unser Leben bereithält.
Zuerst sehen wir den Schrei aus tiefem Herzen. Danach folgt der Trost, der aus den geschichtlichen Tatsachen kommt. Wir wissen nicht genau, in welcher Not der Psalmschreiber war. Vermutlich handelt es sich um eine aussichtslose Situation des Volkes Israel. Eine unbegreifliche Entwicklung, die der Schreiber nicht verstehen oder einordnen konnte – er hat keine Erklärung dafür.
Das löst für ihn eine persönliche Krise aus. Er schreit zu Gott um Hilfe. Er ruft und hofft auf die Erhörung seines Hilferufs. Er sucht den Herrn, findet aber auch nachts keine Ruhe mehr. Er kann nicht mehr richtig schlafen. Seine Hand ist ausgestreckt – das heißt: „Herr, ich versuche ständig zu verstehen, warum tust du das?“
Ausgestreckte Hände zeigen seine Sehnsucht nach einer Antwort, wie es auch in Psalm 42 heißt: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, o Gott, zu dir.“ Kennt ihr das? Kennt ihr dieses Schreien?
Es gibt keine Antwort, nur noch Not. Seine Seele findet keinen Trost und kommt nicht zur Ruhe. Angst beherrscht sein Leben. Nachts kann er nicht schlafen. Seine Unruhe nimmt ihn so sehr gefangen, dass er sogar verstummt. Er kann nicht einmal mehr sprechen. Er wird sprachlos und verschließt sich in sich selbst.
Wir würden das heute vermutlich als eine depressive Phase bezeichnen. Er denkt über die vergangenen Jahre nach. Er führt in seinen Gedanken Seelsorgegespräche. Er beginnt zu grübeln und stellt elementare Fragen: Wird der Herr auf ewig verstossen und keine Gnade mehr erweisen? Ist denn ganz und gar aus mit seiner Güte? Hat die Verheißung für immer ein Ende? Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Oder hat er sein Erbarmen im Zorn verschlossen?
Was ist denn los mit dir, Gott? Er versteht Gott nicht mehr. Wie kann Gott so etwas zulassen? Er sagt: „Ich sprach verzagt darunter leidig, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann.“ Das zeigt, wie tief seine Verwirrung ist. Über seinem Gott – wie unverständlich ist, was er erlebt!
Ein Mensch, der an der bedrängenden Not zu zerbrechen scheint. Trüb und schwarz türmen sich die Wolken über seinem Leben.
Umgang mit Klage und Not im Glauben
Und nun höre ich die Stimmen von uns Frommen, die diesem Menschen sagen wollen: Lobe den Herrn, unseren Gott! Das Lob zieht nach oben! Ja, wunderbar! Lass das Klagen, das sich nur noch mehr in die Tiefe zieht!
Aber sind das wirklich gute Ratschläge? Warum sollen wir einen Menschen nicht einfach mal klagen lassen? Warum soll er seine Not nicht einfach mal aussprechen dürfen, so wie sie ist? Tun wir uns schwer damit, weil wir uns der tiefen Not dann selber stellen müssten?
Haben wir vielleicht Angst davor, mit in diesen Abgrund gezogen zu werden? Dass wir dann sofort sagen, wenn jemand in einer Not steckt: Ja, lob, du musst jetzt Gott loben, dann kommst du aus der Not. So müssen wir nicht zuhören, was ihn treibt.
Manchmal müssen wir uns fragen, ob diese Ratschläge nicht mehr Selbstschutz von uns sind als Liebe zu dem, der in der Not ist. Es ist nicht einfach, Not auszuhalten. Es ist viel besser, wenn man dem anderen schnell vorwerfen kann: Du bist gar nicht so fromm, wie du sein solltest, wenn du jetzt klagst. Lobe nur Gott, dann habe ich auch Ruhe. Dann muss ich mich der Not und der Tiefe und des Abgrunds nicht stellen.
Oft haben wir Angst, weil wir zutiefst wissen, dass wir keine Antwort geben können auf die Klage. Aber oft ist es eben besser, in dieser Unbeholfenheit zu bleiben. Manchmal ist es besser, still mitzugehen, als ein wohl gemeintes, aufmuntertes Wort zu sagen, das der andere eh schon kennt.
Oft wird der Betroffene durch diese gut gemeinten Anweisungen tiefer ins Elend gerissen, weil er das ja schon weiß. Aber was ich weiß und was ich sein kann in einer Situation, das sind oft zwei verschiedene Welten. Schmerz kann man nicht einfach überbrücken, indem man sagt: Lobe ein bisschen, dann geht der Schmerz weg.
Als die drei Freunde Hiobs sein Elend sahen, zerrissen sie ihre Kleider, weinten, warfen Staub auf ihre Häupter und saßen sieben Tage und sieben Nächte schweigend bei ihm. Das war das Beste, was sie tun konnten. Am besten wären sie ruhig geblieben, diese Freunde. Das war das Beste, was sie tun konnten: ihm mit auszudrücken, dass sie betroffen sind von dem Elend, das ihn getroffen hat.
Wir kennen das neutestamentliche Wort: Wir sollen leiden mit den Leidenden und uns freuen mit den Freunden. Es heißt nicht, wir sollen mit den Leidenden die, die pushen, dass sie sich freuen. Sondern wir sollen mit ihrem Leid mitgehen.
Das haben die Freunde Hiobs sieben Tage geschafft, und dann ist ihnen auch die Sicherung durchgebrannt. Dann haben sie ihm nämlich vorgeworfen, dass er schuld ist an seinem Elend.
Schön, wenn wir das Unfassbare nicht immer gleich fassbar machen wollen. Das ist so unsere Tendenz: Wir brauchen für alles ein Gefäß, für alles Worte. Und so sind wir schnell dran, das Unfassbare fassbar zu machen.
Ist jemand gestorben? Nehmen wir an, ein Christ ist im Flugzeug abgestürzt. Wir haben sofort die Antwort dafür: Der ist abgestürzt, damit durch seinen Tod Menschen zum Glauben kommen bei seiner Beerdigung. Wunderschön! Dann ist unsere Welt in Ordnung. Dann wissen wir das, das ist ja gut, dass das passiert ist.
Aber wer sagt dann, dass, wenn er länger gelebt hätte, nicht mehr Menschen zu Jesus gefunden hätten als durch seinen Tod? Und wenn bei der Beerdigung niemand zum Glauben kommt, was sagen wir dann?
Wir sind manchmal so einfältig plakativ mit der Art, wie wir Dinge einordnen, dass ich finde, dass wir da wirklich aufpassen müssen.
Gott hat nämlich nichts gegen Klagen einzuwenden. Er wünscht sogar, dass wir ihm die Klagen bringen. So beginnt auch der Psalm 142 ganz selbstverständlich mit den Worten: „Ich schreie zum Herrn mit meiner Stimme, ich flehe zum Herrn mit meiner Stimme, ich schütte meine Klage vor ihm aus und zeige an vor ihm meine Not.“
Das ist ja gerade das Privileg, das wir haben, dass wir diese Not bringen können. Dass Gott von uns gar nicht erwartet, dass wir ihm nur immer Lob bringen, sondern auch die Klage, was uns beschäftigt.
Entscheidend ist, dass die Klage dem Herrn, dem Gott Israels, vorgebracht wird. Wir sehen auch in unserem Psalm, dass der Klagende nicht Gott verflucht oder Gott flucht oder seine Autorität in Frage stellt. Er sagt sich weder von Gott los, noch beleidigt er ihn.
Da muss ich sagen: Ich halte sehr, sehr viel von Klagen, dass man bei Gott klagen kann. Aber ich halte nichts von Unflätigkeiten gegenüber Gott, und das widersteht mir oft.
Es gibt so eine Tendenz, wo ich merke, dass man dann sagt, man kann Gott klagen und alles, was einen beschäftigt. Und das geht mir dann oft zu weit. Da greift man Gott in seiner Heiligkeit an.
Ich kann nicht mit Gott streiten wie mit einem Menschen und sagen: Was bist denn du für einer? Und ihn beschimpfen. Da müssen wir aufpassen. Da finde ich, dass die Art Therapie, wie wir mit Gott umgehen und uns wiederfinden, über die Ziellinie hinaus schießt.
Die Ziellinie, die Grenze ist der Respekt vor Gott. Der muss durch alles gewahrt bleiben, genauso wie in jeder Beziehung. Man kann in einer Ehe Streit haben, Meinungsverschiedenheiten, aber eines, das aufrechtzuerhalten ist, ist der Respekt voreinander.
Und wenn der fällt, dann ist man zu weit gegangen, viel zu weit. Und wenn man meint, dass bei Gott Klagen heißt, dass ich Gott beschimpfe, dann hat man das falsch verstanden. Gott wird nicht beschimpft von seinen Kindern.
Aber man darf bei ihm klagen, man darf ihm das sagen, was einen beschäftigt. Auch wenn man seinen Handel nicht versteht, kann man sagen: Ich verstehe nicht, warum du das getan hast.
Wenn wir verunfallt wären, würdet ihr als Gemeinde hier sein und sagen: Wir verstehen nicht, warum Gott das getan hat mit unseren jungen Menschen. Es hätte aber gut sein können, dass das Gott zugelassen hat.
Wir haben keine Garantie, dass wir alle gesund zurückkommen.
Eine richtige Klage wendet sich an Gott, und der Klagende behält den Respekt gegenüber Gott. Er verspottet und verleugnet Gott nicht einmal ansatzweise, aber er ist ganz ehrlich mit seiner Not.
Und wer diesen tiefen Respekt vor Gott hat, der darf ruhig klagen. Wir brauchen ihm keine sogenannten Weisungen zu geben. Er soll sein Herz einfach öffnen, die Fragen müssen raus.
Ob das jetzt Warum- oder Wozu-Fragen sind, ist doch völlig egal. Das ist ja auch so etwas, wenn einer sagt: Warum ist jetzt das geschehen? Nein, du darfst nicht nach dem Warum fragen, du musst nach dem Wozu fragen.
Ja, wunderbar, es ist auch wieder etwas Wunderbares, wie wir alles kanalisieren: Du darfst nicht nach dem Warum fragen.
Hiob fragte nach dem Warum: Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Geburt? Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum bin ich an den Brüsten gesäugt worden? Er fragt nicht nach dem Wozu, sondern nach dem Warum.
Ist es doch egal, ob wir Warum- oder Wozu-Fragen stellen? Wir haben diese Fragen. Können wir Hiob im Angesicht seines Zustands diese Warum-Fragen dann verübeln?
Ist es nicht unser Problem, dass wir durch dieses Warum selber in die Tiefe gerissen werden?
Schlussendlich ist es ja egal, ob wir Warum- oder Wozu-Fragen stellen. Meistens bekommen wir keine Antwort. Meistens bekommen wir keine Antwort. Jedenfalls nicht eine definitive.
Und das müssen wir uns als Christen merken. Wir hätten immer gern für alles die richtige Antwort. Und wir müssen lernen als Christen, dass uns Gott für vieles keine Antwort gibt.
Nicht einmal Hiob hat eine Antwort von Gott bekommen auf die Frage, warum Gott das Leid zulässt. Hiob hat keine Antwort bekommen.
Ihr könnt das Buch zehnmal durchlesen. Ich finde keine Antwort auf diese Frage.
Trotzdem dringt Hiob zur Anbetung Gottes durch. Und warum, werden wir sehen. Das ist nämlich das, warum mich dieser Psalm so fasziniert.
Aber die Klagen können wir hervorbringen. „Mich ekelt mein Leben an“, sagte Hiob sogar. „Ich will meine Klage ihren Lauf lassen und reden in der Betrübnis meiner Seele.“
Der Trost aus der Erinnerung an Gottes Taten
Als zweites kommt der Trost aus der geschichtlichen Tatsache. Die ganze Situation hat sich nicht geklärt. Alles Nachsinnen dieses Psalmschreibers und das Wälzen in der Nacht haben für die aktuelle Situation keine befriedigende Antwort gebracht. Gott offenbarte sich nicht durch ein Wunder oder durch ein besonderes Erlebnis, das ihm sagte: „Aha, deshalb, jetzt kann ich das verstehen.“
Die Wende im Leben des Leidenden trat dort ein, wo er sich daran erinnerte, wie Gott in der Geschichte Israels gehandelt hat. Das finde ich faszinierend. Ich möchte es nochmals betonen: Wir müssen lernen, als Christen mit unbeantworteten Fragen zu leben. Wenn meine Frau stirbt oder ein Kind von mir stirbt, weiß ich nicht, ob ich bis ans Ende meines Lebens eine Antwort haben werde, die mich völlig befriedigt und das „Warum“ so beantwortet, dass ich zufrieden bin. Ich weiß es nicht.
Ich weiß auch nicht, ob Gott verpflichtet ist, mir diese Antwort zu geben. Aber eines weiß ich: Der Trost kommt nicht aus der Antwort auf meine „Warum“-Frage, sondern von ganz anderswoher. Gott offenbart sich nicht durch ein Wunder an dieser Stelle. Darum denke ich an die Taten des Herrn, ja, ich denke an deine frühen Wunder. So überlegt er nun: Wer ist denn Gott wirklich?
In den folgenden Versen wird deutlich, dass er daran denkt, wie Gott sein Volk aus Ägypten herausgeführt hat. Dieses Ereignis liegt jedoch Hunderte von Jahren zurück. Er hat es nicht einmal selbst erlebt, er hat keinen Film darüber gesehen – denn die Filmindustrie war noch nicht entwickelt. Stattdessen hat er es einfach durch Erzählungen und die Feste, die Israel feierte, kommuniziert bekommen. Gott hat sein Volk aus Ägypten erlöst.
Daran erinnert sich nun dieser Psalmschreiber: an das Handeln Gottes in der Weltgeschichte. In dieser Weise bricht er zum Lob Gottes durch und sagt: „Gott, deine Wege sind heilig. Wo ist ein so mächtiger Gott wie du? Gott, du bist der Gott, der Wunder tut. Du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.“
In der Erinnerung an das, was vor Hunderten von Jahren geschehen ist, findet er wieder Trost und Geborgenheit. Das fasziniert mich hier. Mit Blick auf den Herrn bekommt er wieder Ruhe. Nun findet er den Trost, den er für seine Seele suchte.
Wisst ihr, welchen Trost Hiob bekam? Er bekam nicht die Antwort auf die Frage, warum der Gottlose leiden muss. Nein, das ist ja klar. Die eigentliche Frage ist: Warum muss der Gottesfürchtige leiden? Warum muss der Gerechte leiden? Diese Frage wurde nicht beantwortet. Aber was hat Gott getan? Gott hat ihm seine Heiligkeit offenbart, und Hiob hat erkannt, wer Gott ist. Die Frage, warum Gott ihn in so eine Situation gebracht hat, war dann gar keine Frage mehr.
Im Angesicht der Heiligkeit Gottes werden unsere Fragen irrelevant. Es ist gar keine Frage mehr, weil dann alles so deutlich vor uns steht. Der Trost liegt also nicht in der Beantwortung seiner Frage oder in der Beschwichtigung seiner Zweifel, sondern im Blick auf den Herrn, im Blick auf das Handeln Gottes in der Vergangenheit.
So wurde auch Paulus mit seinen Nöten fertig. Er schreibt den Thessalonichern, dass sie, obwohl sie zuvor in Philippi gelitten und Misshandlungen erfahren hatten, dennoch in ihrem Gott den Mut fanden, bei ihnen das Evangelium zu verkündigen. Im Blick auf den Schöpfer bekommen wir Mut und Trost. Paulus musste wie unser Psalmschreiber auf den Herrn sehen.
Es ist wie, wenn einem schwindlig wird. Was man dann tun muss, ist, einen Gegenstand zu fixieren. Das wissen vielleicht die meisten. Wenn euch schwindlig wird, müsst ihr versuchen, wenn ihr das noch könnt, einen Gegenstand zu fixieren. Auch wenn ihr auf einem Schiff seid und das Schiff schwankt und euch übel wird, dann müsst ihr aufs Deck gehen und, wenn überhaupt Land in Sicht ist, etwas fest fixieren. Das kann helfen, dass der Schwindel nicht so stark wird oder verschwindet.
Genauso ist es in unseren Nöten: Den Fixpunkt fixieren. Für uns ist dieser Fixpunkt Jesus Christus. Mag uns das Leben noch so viele Schicksale bringen, unser Fixpunkt ist Jesus Christus. Wir denken daran, was Jesus vor zweitausend Jahren für uns getan hat, an die große und mächtige Wundertat, dass er für unsere Sünden am Kreuz gestorben und auferstanden ist. Er, der jetzt zu Recht an Gottes rechter Seite ist.
Wir denken an das, was Jesus für uns getan hat, und darin finden wir Trost. Darin findet schlussendlich eine Mutter Trost, die ihr Kind verloren hat, findet eine Gemeinde Trost, die ihre Jugend verloren hat. Nur so finden wir Trost. Wir bekommen nicht unbedingt eine Antwort, wir können zwar Hilfsantworten geben, die uns ein wenig beruhigen, weil wir dem Geschehen ein bisschen Sinn abgewinnen können, aber das sind unsere Überlegungen.
Wo wir jedoch zur Ruhe kommen, ist im Blick auf den Herrn. Wir führen uns vor Augen, wer unser Herr ist, und erkennen aus diesem Blickwinkel, dass er auch die Situation, die ich nicht verstehe, überblickt. Er steht darüber und weiß wohl, was er zugelassen hat und was nicht, warum und warum nicht – ob ich es verstehe oder nicht.
Wisst ihr jetzt, warum mir der Psalm so wichtig ist und warum ich dachte, als ich ihn las, dass ich unbedingt darüber predigen muss? Das ist Glaube. Glaube, der sich an das festhält, was Gott getan hat und wer Gott ist. Wer Jesus fixiert für das, was er getan hat, jammert nicht ständig vor Gott: „Gib mir ein Zeichen, dass du mich liebst!“, sondern sagt: „Jesus, du liebst mich, denn du bist für mich am Kreuz gestorben vor zweitausend Jahren – wie wunderbar ist das!“
Das bedeutet, dass mein Leben auf einer festen Basis steht, weil du das für mich getan hast. Die Welt mag untergehen, aber du bist ein wunderbarer Gott und tust Wunder. Was du in der Vergangenheit vollbracht hast, wirst du auch in Zukunft vollbringen. Und wenn Jesus für mich, für meine Schuld gestorben ist, wirst du mich in die Herrlichkeit bringen. Das ist dein Werk, ich danke dir dafür.
Im Blick auf unseren Herrn ordnet sich das andere langsam wieder. Schmerzen mögen bleiben, Wunden heilen oft langsam. Wenn wir jemanden verloren haben, den wir lieben, werden wir nicht am nächsten Tag strahlend über die ganze Welt laufen und jubeln und sagen: „Wie wunderbar, dass er verloren ist, der ist im Himmel gewesen oder ist schon im Himmel oder kommt in den Himmel.“ Wir werden traurig sein.
Wir werden mit dem Verlust fertigwerden müssen. Vielleicht werden wir auch nach zwei, drei Jahren wieder von diesem Leid eingeholt, das uns getroffen hat. Wir werden erneut eine Trauerphase durchleben. Aber in all dem finden wir Trost in dem, was Jesus für uns getan hat, wenn wir Jesus fixieren.
Wir wissen: Gott wird unsere Tränen einmal abwischen, denn Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.
Wir werden hier auf der Erde noch Tränen vergießen, auch als Christen. Wir werden Leid tragen müssen, Schmerzen ertragen müssen. Aber eines wissen wir: Unser Gott ist groß in der Dunkelheit. Was er für uns am Kreuz von Golgatha getan hat, richtet uns in aller Not immer wieder auf.
In dem, was geschehen ist, finden wir Trost. Nicht in besonderen Offenbarungen Gottes, nicht indem wir von Gott erwarten, dass er uns jetzt eine Erklärung gibt oder durch ein Wunder zeigt, dass er uns liebt. Sondern indem wir uns erinnern – dafür haben wir auch die Bibel –, was er für uns getan hat.
Kennst du diesen Orientierungspunkt in deinem Leben überhaupt? Kannst du auf Jesus sehen, wenn du zu straucheln scheinst? Wenn alle Werte, die in deinem Leben Bedeutung haben, zerfallen, hast du denn diesen beständigen Wert, der dich hindurchträgt? Einen Orientierungspunkt, der über den Tod hinausbesteht? Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben.“ Jesus ist dieser Orientierungspunkt.
Nur wer an ihn glaubt, wird die Kraft erleben, die im Glauben an Jesus liegt, die aus der Tatsache seiner Rettung entspringt. Der Trost ist gottesfürchtig in trostloser Zeit. Die Klage in schweren Lebensabschnitten hat bei Gott Platz. Wir müssen lernen, diese Klagen in den Raum zu geben. Wir müssen lernen, diese Klagen auch von Christen anzuhören.
Sicherlich heißt das nicht, dass wir im Klagen stecken bleiben sollen. Aber wir sollen nicht zu früh mit unseren schönen, fromm gemeinten Floskeln dem anderen sagen, was er zu tun hat. Vielmehr sollen wir mit ihm durch diese Tiefen hindurchgehen, mit in diese Sprachlosigkeit hineingehen, bis der Punkt kommt, an dem Gott wieder eingreift und das Wesentliche wieder auf den Leuchter stellt.
Es gibt so viele wunderbare Psalmen, zum Beispiel Psalm 73: „Als ich sah, wie es dem Gottlosen gut geht, bin ich fast gestrauchelt.“ Die Wende in seinem Straucheln wurde eingeleitet, als er sagte: „Da ging ich in das Heiligtum, in die Nähe Gottes, und dachte darüber nach, welches Ende es mit dem Gottlosen nimmt.“ Dann brach wieder Jubel aus.
Für ihn war die Frage, dass es ihm schlechter geht als dem Gottlosen, nicht mehr relevant. Stattdessen wurde er dankbar über den Reichtum, den Gott in sein Leben gelegt hatte. Durch diese Klage hindurch dringen wir zu einem echten Lob. Wer mir das nicht glaubt, soll bitte die hundertfünfzig Psalmen lesen. Dann wird er unweigerlich erkennen, dass Gott es wohl so geordnet hat und es ihm gefällt, wenn von Herzen ein Lob Gottes kommt.
Dieses Lob entsteht nicht, weil Gott meine nagenden Fragen beantwortet hat, sondern weil er mir einmal mehr seine Größe und Herrlichkeit gezeigt hat. Und einmal mehr beuge ich mich über die Allmacht Gottes und gebe ihm Recht, wenn er sagt: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“, spricht der Herr.
Können wir es Gott so zugestehen, dass wir keine Antwort bekommen? Ja! Herr, deine Gedanken sind höher als meine Gedanken. Dich, du Allmächtiger, rühme ich, denn ich danke dir aus reinem Herzen: „Gott, dein Weg ist heilig. Wo ist ein so mächtiger Gott wie du? Gott, du bist der Gott, der Wunder tut. Du hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.“
Das hat dieser Psalmist gesagt, obwohl er in tiefster Not steckt und in seiner Not kein Wunder erlebt hat, keine Offenbarung Gottes. Aber er erinnert sich an das, was Gott vor Hunderten von Jahren getan hat. Das ist glaubwürdig.
Ich wünsche, dass Gott uns schenkt, dass wir das erleben dürfen, wenn wir in solche Nöte kommen. Deshalb fand ich es auch für euch wichtig, dass ihr das mit in euer Leben nehmt. Die einen haben schon viel hinter sich, und euch steht das Leben bevor – viel Schicksal wird euch treffen. Das Leben kann völlig anders verlaufen.
Aber Trost und Geborgenheit findet ihr, wenn ihr daran denkt und euch in Erinnerung ruft, was Jesus für euch getan hat. Dann könnt ihr verwundert über diese Welt gehen, aber verwundert, getröstet und erfreut über den wunderbaren Gott, den wir haben, der uns ewiges Leben geschenkt hat und eine wunderbare Zukunft bereitet.
Schlussgebet
Ich bete mit uns. Vater, ich danke dir für diesen Psalm, der uns etwas außerordentlich Wichtiges vor Augen führt. Er zeigt uns, dass du uns nicht in jeder Situation die Antwort gibst, die wir gerne hätten. Dennoch werden wir getröstet, wenn wir auf dich schauen und uns daran erinnern, wie groß das ist, was du schon getan hast.
So wissen wir, dass wenn du all dies getan hast, du auch in Zukunft alles tun wirst. Die Erde wird nicht entgleiten, unser Leben wird nicht entgleiten, nichts wird dir entgleiten. Bei dir sind wir geborgen.
Ich wünsche, dass du uns allen schenkst, dass wir durch tiefe Nöte hindurch immer wieder zu diesem Lob, zu diesem Dank und zur Verehrung deiner Herrlichkeit durchringen können. Hilf uns, dass wir uns als Geschwister gegenseitig stützen, ermutigen und stärken können.
Lass uns zulassen, dass wir traurig sind, dass wir klagen und dass wir manchmal nicht ein und aus wissen. Aber hilf uns auch, miteinander die Durchbrüche zu erleben, die wir in dem Psalm immer wieder entdecken.
Danke, Herr Jesus, dass du am Kreuz für uns gestorben bist und uns neues, ewiges Leben geschenkt hast – einen Reichtum, den uns niemand wegnehmen kann. Wir beten dich an und preisen deinen Namen.