Die Verbindlichkeit der biblischen Worte und historische Grundsatzentscheidungen
Jesus hat sich ausdrücklich dazu verpflichtet, dass jedes Bibelwort, das in unseren Gottesdiensten laut verlesen wird, eine Garantieerklärung Gottes ist. Diese Worte sind verbindlich und verlässlich. Man sollte nicht denken, dass man immer nur auf alte Texte zurückgreift, weil keine neuen Ideen vorhanden sind. Vielmehr bringt Gott durch seine Propheten, Apostel und am stärksten durch seinen Sohn Jesus grundlegende Erklärungen, die zeitlos gültig sind.
Unser Bruder Werner Pichtler hat uns in diesen Tagen daran erinnert, was eine Grundsatzerklärung bedeutet. Gestern jährte sich zum einhundertneunzigsten Mal der Tag, an dem seine Majestät, unser verehrter König Wilhelm I., das Privileg für die Brüdergemeinde Korntal unterzeichnet hat. Dieses Privileg besagt, dass eine selbständige Gemeinde innerhalb der Landeskirche in Württemberg existieren darf. Der König hat dieses Dokument unterzeichnet und signiert. Dieses Ereignis liegt nun 190 Jahre zurück. Bis heute gilt diese Regelung.
Werner Pichtler hat darauf hingewiesen, dass der König schon lange vor der Unterzeichnung erklärt hatte, er werde diese Sondergenehmigung erteilen. Daraufhin begann Gottlieb Wilhelm Hoffmann bereits mit dem Bau des Saals, noch bevor das Privileg offiziell unterzeichnet war. Man konnte auf das Wort des Königs vertrauen.
Darum geht es auch, wenn wir ein Bibelwort verlesen und aufmerksam in unseren Gottesdiensten hineinhören. Es ist ein Wort, auf das man bauen kann.
Jesu Gleichnis als Grundsatzerklärung zur Gerechtigkeit
Wir hören heute aus Lukas 18 eine Grundsatzerklärung des Herrn Jesus. Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßen, fromm zu sein und die anderen verachten, dieses Gleichnis.
Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten: der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute – Räuber, Betrüger, Ehebrecher – oder auch wie dieser Zöllner.“
Der Zöllner aber stand von ferne, wollte auch die Augen nicht zum Himmel erheben, sondern schlug an seine Brust und sprach: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Und Jesus sprach: „Ich sage euch, dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Viele, liebe Gemeinde, sehen dieses Gleichnis von Jesus vielleicht schon seit den Tagen des Kindergottesdienstes als eine moralische Beispielgeschichte an – ähnlich wie Johann Peter Hebel in seinem Schatzkästlein viele solche Lesebuchgeschichten geschrieben hat. Dort ist es die Geschichte vom bösen Pharisäer, und dem Zöllner ist ja gerade noch mal gutgegangen.
Aber Jesus nimmt ein Stichwort auf, das uns hellhörig machen sollte: „Dieser ging hinab gerechtfertigt.“
Der Evangelist Lukas hat diese Gleichnisgeschichte in seinen Bericht über Jesus an der Stelle eingeklinkt, an der vorher zweimal steht: „Gott wird Recht schaffen, Gott wird Recht wirken, selbst dort, wo gar kein Recht vorhanden ist.“
Das hat Jesus ein für alle Mal geklärt, wie es ist, wenn Gott Recht schafft.
Die weltweite Bedeutung der Gerechtigkeit und ihre Schwierigkeit
Eigentlich müsste die ganze Welt den Atem anhalten, denn Gerechtigkeit ist ein weltweites Menschheitsthema. Wir leiden unter so vielen Systemen der Ungerechtigkeit, wie Menschen leiden müssen.
Es ist verständlich, dass die Christenheit weltweit sich zum Ziel gesetzt hat, für Gerechtigkeit einzutreten. Ebenso kämpfen sie für den Frieden und für die Bewahrung der Schöpfung.
Doch mit der Gerechtigkeit ist es leider so eine Sache. Man müsste einmal eine halbe Stunde mit unserem Herrn Vorsteher zusammensitzen, um zu verstehen, wie es bei Vermögensauseinandersetzungen zugeht und wie am Ende eine Lösung gefunden wird, mit der alle zufrieden sind.
Es gibt immer wieder Menschen, die sagen: „Mir ist Ungerechtigkeit widerfahren.“ Das ist schon in kleinen Verhältnissen schwierig.
Wir Menschen meinen oft, wir könnten auf dieser Erde Gerechtigkeit schaffen. Das ist ein kühnes Unterfangen. Dabei vergessen wir, dass die Bibel einen ganz anderen Horizont aufreißt – auch als Menschheitsfrage.
Wie kann ein Mensch, vom Weibe geboren, gerecht sein vor Gott? Im Buch Hiob heißt es: Nicht einmal die Sterne haben Glanz vor Gott. Wie kann der Mensch, eine Made, ein Wurm, gerecht sein vor seinem Schöpfer?
Der Psalmbeter im Psalm 145 schreit hinaus: „Geh nicht ins Gericht mit mir, denn vor dir ist keiner, der lebt, gerecht, keiner.“ Beim Propheten Nahum heißt es: „Niemand ist unschuldig. Wer kann vor ihm bestehen?“ Das sind nur einige Beispiele.
Der Prediger Salomo, mit seiner großen Lebensweisheit, sagt: „Es ist kein Mensch gerecht auf Erden, so gerecht, dass er nur Gutes tut.“ Das ist viel Gutes, aber nur Gutes gibt es nicht. Da gibt es auch Fehler.
Wie kann ich vor Gott bestehen? Das müsste die Menschheitsfrage sein, wenn es um das Stichwort Gerechtigkeit geht. Und eigentlich müssten wir alle den Atem anhalten.
Die überraschende Botschaft des Gleichnisses und ihre Tragweite
Wenn es heißt, Jesus erzähle ein Gleichnis von jemandem, dem es trotz vieler Fehler gut ergeht, dann war dieser nicht ein ehrbarer Zollbeamter – wie man sich heute Zollbedienstete vorstellt –, sondern ein Helfer der römischen Besatzungsmacht. Er hatte sich dazu hergegeben, das Volk Israel auszubeuten. An jeder Straßenecke, an jeder Brücke, an jedem Hohlweg stand eine Zollbude. Dort wurde Geld für die Römer eingetrieben – und dazu kam noch ein Betrag, den die Zöllner für sich selbst behielten.
Diese Männer, die Zöllner, führten oft ein verkommenes Leben. Doch einer von ihnen ging hinab und wurde gerechtfertigt. Ist das alles in Ordnung? Kann das wirklich sein? Hat Jesus das wirklich gemeint? Das wäre eine wirklich erstaunliche Nachricht für uns Menschen, eine frohe Botschaft: dass ich gerecht werden kann.
Ich weiß nicht, ob Sie in den letzten Tagen das Fernsehen aus Berlin verfolgt haben, wie manche Wettkämpfer aufatmeten und strahlten, weil sie zumindest eine Bronzemedaille errangen oder der Hammer weit genug geworfen wurde. Sie sagten: „Das habe ich nie für möglich gehalten, dass ich das schaffe.“
Noch viel mehr müsste es uns so gehen, wenn wir in Staunen darüber kommen: Ich kann gerecht werden, keine Macke mehr sichtbar, kein Makel mehr in meinem Leben und meinen Versäumnissen.
Herr Jesus, hast du das wirklich so gemeint? Ja, und ich bin fest davon überzeugt. Weil das so schwer in unsere Köpfe hineingeht, hat Jesus bewusst eine Geschichte erzählt, ein Gleichnis, eine Art Krücke zum Aha-Erlebnis. So ist das mit der Gerechtigkeit Gottes.
Die Rechtfertigung durch Glauben als zentrales Thema
Der Apostel Paulus hat sich zum besonderen Erinnerer in dieser Sache machen lassen. Es heißt immer: Gott macht Gottlose gerecht – nicht wie bei Goethe: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Gott macht Gottlose gerecht.
Auf das, wo die Sünde mächtig geworden ist, soll die Gnade umso mächtiger werden und die Gerechtigkeit herrschen. Unvorstellbar, aber ich bin überzeugt, dass der Apostel Paulus verstanden hat, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen wollte. Es geht nicht nur darum, eine erbauliche Geschichte weiterzugeben, sondern darum, dass nun in Kraft ist, dass Gott Sünder gerecht macht.
Das ist eine Linie, die sich durchzieht von der Bergpredigt Jesu: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.“ Diese Menschen können nicht sagen: „Lieber Gott, in meinem Leben ist alles in Ordnung.“ Sie merken, dass bei ihnen alles voller Fehler ist. Sie möchten so gern gerecht sein, sind es aber nicht. Sie möchten gern anders sein mit ihren Ecken und Kanten, sind es aber nicht. Sie hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – und ich kann sie satt machen.
In der Bergpredigt sagt Jesus ein paar Sätze weiter: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ Die Schriftgelehrten und Pharisäer waren beinahe hundertprozentig gerecht nach dem Gesetz. Wir haben in der Schriftlesung gehört, wie Paulus sagte: „Ich war nach dem Gesetz vollkommen.“ Jesus wollte damit die Schraube noch mehr anziehen: Ihr müsst noch vollkommener werden, von einer Vollkommenheit zur nächsten. Los, immer herrlicher, noch ehrlicher, noch ... Nein! Ihr müsst Hunger haben nach dem, was ich in die Welt gebracht habe!
Jesus nimmt die Sünder an und sagt damit allen Trost zu. Dieses Wort ist mit Jesus in die Welt gekommen. Er hat sich eindeutig dazu erklärt, dass unvollkommene Leute gerechtfertigt werden.
Die Tragik der Selbstgerechtigkeit und die Einladung zur Demut
Jesus sagte mit einer gewissen Trauer: „Dieser ging hinab gerechtfertigt.“ Damit meinte er nicht, dass jemand schlecht in sein Haus zurückkehrt oder verdammt sei, wie es die Pharisäer vielleicht denken würden. Jesus drückt hier sein Leid darüber aus, dass sich jemand abmüht, noch besser und vollkommener zu sein, in der Hoffnung, dass Gott am Ende sagt: „Du kannst auch noch ins Himmelreich kommen.“
„Dieser ging hinab gerechtfertigt“ bedeutet, dass alles in Ordnung ist, dass jemand jetzt schon gerechtfertigt, also gerechtgemacht ist. Eigentlich müsste die Welt den Atem anhalten über diese Botschaft.
Das Zweite, was jetzt mit Jesus in Kraft getreten ist und lange zuvor angekündigt wurde, ist ein für allemal geklärt. Es ist in Kraft, was Gott durch seine Propheten verkünden ließ. Das Wunder, das noch einmal anders und viel größer ist als der Durchzug durchs Rote Meer, wird wahr: Gott sagt, „Ihre Gerechtigkeit kommt von mir“, spricht der Herr.
Jesaja 53 kündigt es an: „Das ist mein Knecht, mein Auserwählter, der Gerechte, der die vielen gerecht machen wird.“ Gott hat angekündigt, dass sein gerechter Knecht kommen wird. Er ist der treue Knecht, der die Qualen auf sich genommen hat. Er wird Gerechtigkeit schaffen, denn er trägt ihre Sünden.
Die göttliche Gerechtigkeit als Geschenk und Verheißung
Ich erhalte dich, weil du so anständig bist. Fürchte dich nicht vor dem heiligen Gott, ich helfe dir, ich erhalte dich.
Wie geht es weiter? Durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit, obwohl du selbst nichts an Gerechtigkeit vorzuweisen hast. Ich bin der gerechte, heilige Gott. Ich tue das, was recht ist.
Und das wird der Name sein, mit dem man Gott nennen wird: der Herr unserer Gerechtigkeit. Nicht der, der mich gesund macht, der mein Leben bewahrt, sondern der, der für meine Gerechtigkeit eintritt.
All dies, was angekündigt war, ist jetzt in Kraft. Er ging hinab, gerechtfertigt.
Der Apostel Paulus hat in Antiochien in der großen Heidenpredigt gesagt: Gerecht ist, wer an ihn glaubt. Und er hat damals damit begonnen, zu sagen, dass diese Linie schon beim alten Abraham, dem Erzvater, begonnen hat.
Abraham glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete diesen Glauben als Gerechtigkeit an. Er hat nicht gesagt: Das machst du prima, es ist wunderbar, jetzt freut mich, dass mir einer glaubt. Nein, er rechnete es um, als ob es auf das Konto Gerechtigkeit gebucht wäre. Gott hat den Glauben Abrahams als Gerechtigkeit anerkannt.
Das hat der Apostel Paulus aufgenommen: Wer Jesus zutraut, dass er mich unvollkommen gerecht macht, der ist gerettet.
Wer sich selbst erniedrigt, wer zugeben kann: „Ich brauche das, ich habe es nötig“, der wird erhöht.
Das ist in Kraft – über dem eigentlich die ganze Welt den Atem anhalten müsste.
Die Herausforderung, Gerechtigkeit anzunehmen
Aber wer will denn eigentlich gerecht werden?
Der Konthaler Indienmissionar Traub, der mit 34 Jahren an Schwindsucht starb, die er sich in Indien zugezogen hatte, weil er mit den indischen Christen der ersten Generation zusammenleben wollte, hat einmal in sein Tagebuch geschrieben: Unsere indischen Geschwister wollen von uns Geld, sie wollen Medikamente, sie wollen lernen, aber keiner will Jesus, der uns gerecht macht.
Wie ist das bei Ihnen, bei mir? Wollen wir denn gerecht werden?
In den letzten Wochen ist mir beim Hineinhorchen in dieses Gleichnis von Jesus, in dieses altbekannte Gleichnis, bewusst geworden, dass Jesus das Gleichnis werbend gesprochen hat. Will denn nicht auch einer gerechtfertigt werden? Vielleicht hat Jesus dieses Gleichnis sogar mit großer Wehmut erzählt, weil er nicht von einem einzigen gehört hatte, der bei ihm Hilfe erfahren und Heilung erfahren konnte und gerecht gemacht werden wollte.
Zum Gichtbrüchigen hat er gesagt: Dir sind deine Sünden vergeben. Wir wissen, dass dieser danach begeistert seine Pritsche nach Hause getragen hat. Ob er glücklich darüber war, dass Jesus ihm die Sünden vergeben hat, steht nicht in der Bibel. Er war glücklich, gesund geworden zu sein. Da kann man auch glücklich werden.
Es ist etwas Phantastisches, wenn es Aufschub der Krankheit gibt, wenn Gott heilt, wenn er eingreift. Aber jetzt ist noch viel mehr wichtig: dass ich mit meinem kranken, schattigen Leben gerecht werden soll.
Von den zehn Aussätzigen, die geheilt wurden, kam einer zurück, ein Samariter, und dankte Jesus. Jetzt hätten wir so gern, dass er gesagt hätte: Jesus, wenn du das kannst, dass du meinen Aussatz wegnimmst, heile auch meine Ungerechtigkeit. Kein Wort davon.
Jesus musste eine Geschichte erfinden, um deutlich zu machen, was Gerechtmachung ist.
Die menschliche Selbstgerechtigkeit und Gottes Sicht darauf
Man kann sich vorstellen, dass Jesus dies mit Wehmut getan hat, weil er auf kein Beispiel zurückgreifen konnte, bei dem Menschen Gott dankten, dass es so etwas gibt. So wie es später der Verbrecher am Kreuz tat, der mitgenommen wurde ins Paradies.
Jesus hat sicher auch mit Wehmut den Pharisäer geschildert. Er hat ihn überhaupt nicht karikiert, wie wir es manchmal tun, wenn wir den Pharisäer als Heuchler darstellen. Nein, dieser Pharisäer war ein vorbildlicher Mensch, der seinen Glauben ernst nahm – bis in die Moral hinein. Er konnte freiwillig Gaben abgeben, so wie wir es wünschen: „Ich gebe den Zehnten von allem, was ich habe“, zum Beispiel. Aber nicht nur das, auch in seiner ganzen Moral und Lebensauffassung war er vorbildlich.
Ich bin fest überzeugt, wenn er für die Gemeinderatswahl in Jerusalem kandidiert hätte, wäre er Stimmenkönig geworden. Er hätte mit seiner ganzen Lebenshaltung vorbildlich gehandelt. Solche Leute brauchen wir.
Natürlich hätte er hinunterschlucken können, dass er so abwertend über den Zöllner urteilte, immerhin war dieser ja auch in den Tempel gegangen. Erstaunlich ist, dass der Pharisäer sich nicht vor anderen Menschen seiner Verdienste rühmen wollte. Im Gleichnis Jesu steht, dass er für sich allein abseits ging, wenn er mit Gott sprach. Er wollte vor Gott sein und sagte: „Ich danke dir, dass du mein Leben bewahrt hast, geleitet hast, vor Dummheiten geschützt hast, dass ich nicht auf Abwege gekommen bin.“
„Herr, ich danke dir, ich halte mich fest daran. Herr, ich danke dir, dass ich danken kann. Lobe den Herrn, der deinen Stand sichtbar gesegnet hat.“ So schildert Jesus mit Wehmut, dass all dies echt und richtig war.
Doch vor Gott kam dem Pharisäer keine Spur einer Frage auf: „Lieber Gott, wie denkst du über mich? Tut dir meine Selbstgerechtigkeit, meine Superfrömmigkeit nicht auch weh? Dass ich gar nicht entdecke, wie arm der Zöllner ist, dass ich nicht erkenne, was ihn vielleicht antreibt, in den Tempel zu kommen? Dass ich so überheblich bin, während einer vor Gott steht und Schwielen auf seiner Seele hat, sodass Gott gar nicht bis zu seinem Gewissen durchdringen kann?“
Die Gefahr des Vergleichens und die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit
Und jetzt sind wir doch vor Gott – wie ist das bei uns? Kann Gott durchdringen? Wer will denn Gerechtigkeit haben?
Bei allem, was ich versucht habe herauszuhören, wurde mir plötzlich klar, warum der Apostel Paulus in all seinen Briefen immer wieder eines der schlimmsten Vergehen gegen Gott nennt: dass wir uns aufblasen gegen andere, dass wir uns an anderen messen und so unsere hervorragende Leistung anerkannt haben wollen.
Wir messen uns an anderen – und stehen doch selbst vor Gott. Wir bauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sagte einmal Daniel im Einzel, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Wir liegen vor dir, nicht im Vertrauen auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine Barmherzigkeit.
Er spricht mich täglich an, er ist mir täglich nahe – eine Zeile bei Jochen Klepper: „Er ist mir täglich nahe und spricht mich selbst gerecht.“ Er hilft mir nicht bloß, er spricht mich gerecht. Man kann es auch andersherum formulieren: „Er spricht selbst mich, sogar mich, gerecht.“
Das ist es: Wer will denn gerecht werden? Liebe Schwestern und Brüder, das Unmögliche soll bei uns möglich werden.
Die Einladung zur Annahme der göttlichen Gerechtigkeit
Unmöglich – was für eine Bilanz zeigt dieses Gleichnis? Der Pharisäer steht vor Gott, braucht aber keinen Gott, der ihn gerecht macht. Demgegenüber steht ein Zöllner, den es in Wirklichkeit gar nicht gegeben hat, den Jesus jedoch in seiner Erzählung erfunden hat.
Jetzt sind wir eingeladen, uns vom Heiligen Gott entdecken zu lassen. Er zeigt uns, wo und warum er traurig über uns ist. Dabei sagt er nicht: „Auf los, jetzt müssen wir von einer Vollkommenheit zur anderen.“ Stattdessen möchte er uns gerecht sprechen.
Ein großes Bild, das bei den Propheten zu finden ist und vom Apostel Paulus übernommen wurde, ist das des Überkleidens wie mit einem Brautschmuck oder einem Brautkleid – dem weißen Kleid der Gerechtigkeit. Dieses Kleid deckt alles zu, was unvollkommen ist.
In manchen Gemeinden tragen die Pfarrer einen Talar. Das ist manchmal ganz praktisch, denn im Sommer brauchen sie kein Jackett anzuziehen, sondern können das Hemd anlassen. Der Talar deckt alles zu. Hier, unter Brüdern, ist eher gemeint, dass man anständig gekleidet sein muss.
Mit dem Bild des Überkleidens möchte ich sagen: Unter diesem Kleid kann viel Unvollkommenheit verborgen sein. Andere Menschen fragen sich vielleicht: „Wie kommt der denn dazu?“ Doch mit dem weißen Kleid seiner Gerechtigkeit will Jesus uns überkleiden.
Das soll keine erfundene oder unwirkliche Geschichte bleiben. Jesus hat das ein für allemal geklärt – es ist in Kraft. Nun soll es so sein wie beim Privileg des Königs Wilhelm: Darauf kann man bauen, darauf wollen wir bauen.
Auch wenn wir uns bemühen, vor Gott gefälliger zu sein und ihm keinen Schmerz zu bereiten, auch wenn wir uns aus Liebe zu ihm und zum Nächsten hilfreich zeigen wollen – wir sollen darauf bauen, dass wer sich selbst erniedrigt, erhöht wird.
Wer bereit ist zuzugeben, dass vor dem heiligen Gott niemand gerecht ist, auch ich nicht, wird das Himmelreich erben. Der Herr Jesus hat dieses Wort „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht“ dreimal oder viermal im Evangelium erwähnt.
Und dann wurde dieser Rahmen auch für Jesus selbst Wirklichkeit: Er erniedrigte sich selbst bis zum Tod am Kreuz, und deshalb hat ihn Gott erhöht.
Das letzte Wort: Demut führt zur Erhöhung
Bei der Beerdigung von Winston Churchill wurde nach der anglikanischen Sterbeliturgie gebetet. Diese Worte haben mich damals tief beeindruckt:
"Heiliger, ewiger Gott, vor Dich kommt nun der arme Sünder Winston Churchill. Nicht der Staatsmann, nicht der, der uns durch den Krieg gebracht hat, der uns Mut gemacht hat, sondern der arme Sünder."
Wer sich selbst erniedrigt und das gelten lassen kann, wird erhöht. Das ist geklärt und darauf kann man bauen. Amen.