Einleitung und persönlicher Bezug zum Thema
Verehrte, liebe Schwestern und Brüder, es ist erstaunlich, wie fröhlich das Grüßen ist und dass, wenn Andreas Schäfer sagt: „So, wir wollen uns sammeln“, sofort wieder Ruhe einkehrt.
Ich durfte in meinem Leben immer wieder im Ulmer Münster sein, damals als Pfarrer. Eine ältere Dame sagte mir einmal: „Herr Chefbuch, könnten Sie dem Organisten sagen, er soll beim Vorspiel etwas leiser spielen? Man kann sich so schlecht unterhalten.“
Doch nun zum Thema: „Bei dir, Jesus, will ich bleiben“. Wir haben es eben wieder gemerkt, welch wohltuendes, schönes und erbauendes Lied das ist – im wahrsten Sinn des Wortes erbaulich.
Viel wichtiger ist, dass es auf das Zentrum zielt: „Bei dir, Jesus, will ich bleiben.“ Während so viele neben uns sagen: „Ich will am Leben bleiben“, „Ich will am Ball bleiben“, „Ich möchte in der Gesundheit bleiben“ oder wenn die Sektenanhänger an die Glastür kommen und sagen: „Ich bleibe evangelisch“, „Ich bleibe bei dem, was schon die Großmutter gehabt hat.“
Man bekommt die Sektenanhänger am ehesten los, wenn man sagt: „Ich möchte bei Jesus bleiben.“ Denn sie wollen einem von Joseph Schmidt oder Ähnlichem erzählen. Doch „Bei dir, Jesus, will ich bleiben.“ Er ist meines Lebens Leben, meiner Seele Trieb und Kraft.
Dass deine Allgegenwart mich wie die Luft erfülle – das ist das Geheimnis, dass wir mit Jesus sind, in Jesus sein können und hoffentlich auch bleiben können.
„Bei dir, Jesus, will ich bleiben.“ Wir haben es eben gesungen, wie es weitergeht: „Stets in deinem Dienste stehen.“ Glückwunsch allen, die das aus voller Kehle und frischer Brust mitsingen können.
Dies zu erleben: dass die Gesegneten Gottes sind wie ein Palmbaum, der frisch bleibt, auch im Alter – grün und fruchtbar. Dies zu erleben, dass unser Gott wahr macht: „Ich will euch tragen bis ins Alter, bis ihr grau werdet. Ich will es tun, heben, tragen und erretten.“
Die Erfahrung des Alters und geistliche Kraft
Es ist die Erfahrung meines Lebens, dass selbst Menschen, die mit Jesus verbunden sind, noch mitten im Leiden, wenn sie nur noch eine Viertelperson sind – dem Gewicht nach –, ausgezehrt etwas ausstrahlen können.
Dass selbst dann wahr wird, was im Buch Hiob steht: Auffahren mit Flügeln wie Adler und zur rechten Zeit eingebracht zu werden wie Garben.
Ich wundere mich immer wieder, weil ich erlebe, dass manche Menschen sagen: Den Chefbuch kannst du nicht mehr einladen, der ist zu alt. Dabei werde ich in die lange Steinbacher Höhe eingeladen.
Als meine Frau einmal zu Bruder Andreas Schäfer sagte, sie wundere sich, dass sie meinen Mann noch einladen, dass sie ihn auf die Menschheit loslassen, antwortete er so tröstlich und liebevoll: Wir brauchen auch die alten Brüder, weil wir etwas weitergeben können.
Nicht nur das, was unser Gott an uns getan hat, sondern auch das, was er uns in einem langen Leben erschlossen hat – in seinem Wort und in der Gemeinschaft der Geschwister.
Chancen des Alters und geistliches Wachstum
Nun heißt es bei uns zum Thema „Gefahren des Älterwerdens“: Ich hatte mein Referat vorbereitet, als ein Hamburger Pfarrer, den ich gar nicht kenne, es in die Hand bekam und sagte: „Sie vergessen, von den Chancen und Möglichkeiten des Alters zu sprechen.“
Daraufhin habe ich mein Referat noch einmal umgeschrieben. Denn einerseits wird es bei mir natürlich immer weniger mit dem Gehör. Heute habe ich nur aus Eitelkeit mein Hörgerät etwas versenkt hier in der Tasche. Auch die Herzfrequenz nimmt ab, ebenso das Gedächtnis. Wir sagen aus Eitelkeit nur vom Kurzzeitgedächtnis, aber bei mir wird auch das Langzeitgedächtnis weniger.
Das gehört natürlich dazu, c’est la vie – das Leben. Aber schlimm wäre es, wenn ich in meiner Gottesgewissheit, in meiner Jesusnähe Rückschritte machen würde, wenn das abblättern würde. Deshalb habe ich mich gern einladen lassen, hierher zu euch Geschwistern zu kommen, um auch etwas aus meinem Leben zu sagen, was Gott wirken kann: Chancen des Alters.
Ein Mensch, der mir sehr nahesteht – meine Frau – hat mir verboten, von ihr zu reden. Sie sagte: „Warum trägst du immer dein Herz auf der Zunge? Warum redest du so viel von dir?“ Ja, weil ein Freund zu mir gesagt hat: „Rolf, sag doch, wie es uns Alten zumute ist. Du verstehst uns Alte, du hast ein Herz für uns Alte.“
Nein, ich bin alt, nicht bloß ein Herz, sondern ein alter Mensch. Ich möchte Ihnen, den Jüngeren, sagen, was auf Sie zukommen kann und soll und was wir als ältere Menschen von der Gemeinschaft der Mitchristen brauchen. Chancen des alten Menschen sind doch viel zu wenig bedacht, wenn wir sagen: „Bei dir, Jesus, will ich bleiben.“
Am Ende vom zweiten Petrusbrief – und Petrus war sicher auch ein alter Apostel – heißt es: „Wachset aber in der Gnade und in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus.“ Das ist doch klar: Im Alter blättert manches ab, das uns wehtut.
Zum Beispiel, wenn wir nicht mehr gebraucht zu werden scheinen mit unserer Erfahrung und unserem Wissen, wenn wir selbst merken, dass wir den Herausforderungen nicht mehr so gut gewachsen sind, wenn der Freundeskreis kleiner wird. Wenn wir bitter erleben, wie Lebensgefährten – nicht nur in der Ehe, sondern wirkliche Gefährten des Lebens – wegsterben und fehlen.
Wenn Krankheit und Schwachheit über uns kommen, wäre es eigentlich doch normal, dass bei älteren Menschen gilt, was manch schöner Blumenstrauß erlebt: Man sagt: „Ach, es ist nicht mehr das, was er einst war. Sollen wir ihn noch einen Tag lassen? Er war mal so schön. Oder sollen wir ihn gleich wegwerfen?“
Und in dieser Stimmung, schwäbisch gesagt, „sich neme des, es ist nicht mehr das, wie es einst war“, vergessen wir darüber, dass unser Gott mit uns vorhat, dass wir in der Gnade und in der Erkenntnis Gottes wachsen können.
Geistliche Erkenntnis im Alter als besondere Gnade
Der jüdische Weise Maimonides, der um das Jahr 1200 gelebt hat, sagte einmal in seiner jüdischen Weisheit, dass es eine besondere Gnade Gottes sei, wenn Gott im Alter noch eine Zeitspanne gewährt, eine besondere Zulage gibt.
Doch diese Zeitspanne ist nicht das Besondere. Das Besondere ist vielmehr, dass Gott uns in dieser Zeit tiefgreifende Erkenntnis schenken will – Erkenntnis seines Wortes, der biblischen Zusammenhänge und der geistlichen Verbundenheit. Maimonides verglich es sogar damit, dass Gott dem älteren Menschen einen Kuss gewährt, der ihm Erkenntnis erschließt.
Das Alter kann wie ein offenes Fenster werden, durch das die Atmosphäre der Ewigkeit schon in unser Leben hereinströmt.
Ich habe das persönlich erlebt. Als Theologe, der durch die theologischen Schulen gegangen ist, habe ich bei aller Liebe zum Wort Gottes manchmal das Gefühl gehabt, als wären Bremsen angezogen. Man denkt: „Na ja, meine theologischen Lehrer würden die Stirn runzeln, wenn ich das jetzt sagen würde.“ Doch plötzlich fällt im Alter all das weg. Man erkennt biblische Zusammenhänge auf eine neue Weise.
Neulich schrieb ich meiner Schwester von einer Klarheit und Lucidität, wie ich sie in den vorangegangenen sieben Jahrzehnten nicht erlebt habe. Es ist die Schönheit dessen, was Gott dem alten Menschen zuteilwerden lässt.
Doch das ist nicht umsonst. Der alte Mose zum Beispiel hat nach seiner Berufung im Alter von achtzig Jahren das Volk Israel herausgeführt. Danach ging es vierzig Jahre durch die Wüste. Am Ende erhielt er von Gott den Blick für die Segenströme, die Gott für die Stämme Israels bereithält – im Lied Moses.
Im Lukasevangelium wird ebenfalls berichtet, dass es der Greis Simeon war, dem die Augen geöffnet wurden. Ganz anders als den jungen Leuten im Tempel von Jerusalem, die es nicht begriffen. Simeon sagte: „Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, denn ich habe den Heiland gesehen.“
Auch die alte Hanna, die ein beschwertes Leben geführt hatte, erhielt einen Durchblick dafür, was Gott mit Jesus zu tun bereit war.
Die Bedeutung der geistlichen Reife im Alter
Das, was ich weitergeben möchte, hat nichts mit der Weisheit des Alters zu tun. Diese kann zwar faszinierend sein, zum Beispiel wenn unser ehemaliger Bundeskanzler Helmut Schmidt das Wort ergreift. Toll, die Weisheit des Alters!
Auch die Erfahrung, die man im Laufe des Lebens sammeln kann, ist wichtig. In Afrika und Asien werden alte Menschen oft mehr geachtet als die jungen, die manchmal ungestüm sind. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass man meint, die jungen Leute hätten immer Recht. Ein Beispiel aus der Bibel ist König Rehabeam, der leider mehr auf die Jungen hörte als auf die Alten mit ihrem klaren Rat.
Die Erfahrung des Alters ist etwas Schönes und Wichtiges. Im Altertum gab es die Gerousia, den Rat der Alten. In afrikanischen und asiatischen Gesellschaften spielen die Alten als die Weisen eine große Rolle. Doch darum geht es mir hier nicht, auch wenn ich das sehr respektiere.
Vielmehr meine ich, dass es im Alter ein Wachstum in der Erkenntnis Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus gibt – ein Wachstum im Geist. Man kann von Gottes Gegenwart erfüllt werden und von seiner Nähe geprägt sein. So sagt auch der Apostel Petrus: „Wachset aber in der Erkenntnis.“ Gleich zu Beginn seines ersten Briefes schreibt er, dass wir „erleuchtete Augen des Herzens“ erhalten sollen (1. Petrus 1,13).
Mein Brillenarzt kann mir höchstens andere Dioptrien verschreiben. Der ewige Gott aber will mir die Augen des Herzens erleuchten. Dadurch wird mir plötzlich klar, was wir in Jesus haben, was uns in der Bibel geschenkt ist und wie wir in der Gemeinschaft des Volkes Gottes generationenübergreifend verbunden sind.
Die Bedeutung des Singens und geistlicher Gemeinschaft im Alter
Ich möchte gerade älter werdende Menschen unter Ihnen ermutigen, auch altbekannte Gesangbuchstrophen wieder zu singen und den Schatz der Gesangbuchlieder zu erweitern. Nebenbei gesagt: Wir neiden den jungen Menschen ihre neuen Lieder doch nicht.
Ach, wie haben wir einst gleich in der Nachkriegszeit eine Fülle von neuen Liedern gesungen! Aber ich als alter Mensch brauche im Gottesdienst auch die alten, vertrauten Choräle. Zu Hause stimme ich mit meiner brüchigen Stimme selten mehr die Lieder an. Dieser Erfahrungsschatz bringt die Seiten meiner Seele zum Schwingen – ich brauche das, nebenbei gesagt.
Wenn wir die geistlichen Lieder singen oder sie uns vorsagen, ist das wie ein Aufwärmen, ein Warmlaufen. So kann der Geist Gottes uns seine Zuteilungen geben.
Mein Arzt, der mich begleitet, sagt immer wieder: „Sie müssen sich mit Ihrem Körper mehr fordern.“ Jetzt jogge ich wieder dreimal die Woche durch den Wald. Aber das gilt auch geistlich: Wir müssen uns geistlich mehr fordern.
Auf, auf, mein Geist, ermüde nicht! Reiß dich durch alle Schwierigkeiten hindurch. Was sagst du, wenn dir Kraft gebricht? Bedenke, welche Kraft uns Gott verheißen hat.
Persönliche Erfahrungen mit geistlichem Singen und Ermutigung
Zu den Gesangbuchliedern
Meine Mutter hat gerne gesungen. Als ihre Stimme etwas spröder wurde, ließ sie eigentlich keinen Besuch aus, ohne zu fragen: „Können wir nicht ein Lied singen?“ Sie sagte oft: „Sie tun mir etwas Gutes, wenn Sie laut singen, und ich darf ein bisschen mitbrummen.“
Eines Tages kam ein hochwürdiger Vorsitzender eines Gemeinschaftsverbandes zu Besuch. Da sagte meine Mutter: „Wir singen!“ Er antwortete: „Gut, dann singen wir.“ Sie setzte sich ans Klavier und begann zu singen: „Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr meines Herzens Lust.“ Nach sechs Strophen hörte er auf.
Meine Mutter forderte ihn auf: „Weiter!“ Er antwortete: „Ich kann nicht weiter, der Vorrat der Verse, die ich kenne, ist erschöpft.“ Darauf sagte sie: „Und Sie wollen Christ sein und kennen nicht die Strophe:
‚Was kränkst du dich in deinem Sinn
und krämst dich Tag und Nacht,
nimm deine Sorg und wirf sie hin
auf den, der dich gemacht?
Du strafst uns Sünder mit Geduld
und strafst nicht allzu sehr,
und endlich nimmst du unsere Schuld
und wirfst sie in das Meer.
Wenn unser Herz seufzt und schreit,
wirst du gar rasch erweicht
und gibst uns, was das Herz begehrt
und dir zum Segen dient.‘“
Der Gemeinschaftsvorsitzende sagte daraufhin, er sei schnell nach Hause gefahren und habe versucht, diese Verse auswendig zu lernen. Heute kann er sie.
So heißt es in der neuen Ideaspektrum-Ausgabe, in der ein Artikel über das Alter erscheint. Darin wird Graf Zinzendorf zitiert: „Biblische Wahrheiten, Wahrheiten des Glaubens gehören durchgesungen.“
Ich möchte dies als Chance des Alters verstehen. Wir fangen wieder an zu singen, und plötzlich merken wir, die Stimme ist gar nicht so spröde. Es geht wieder.
Ein Lied beginnt so: „Oh Ewigkeit, so schöne, mein Herz an dich gewöhne.“ Im Singen gewöhnen wir unser Herz an Gott. Aber auch so, als würden wir uns im Radio auf die Wellenlänge einstellen: „Herr, lass mich dein Heil schauen.“ Auch im Singen.
Es ist, als wäre das Singen eine ausgefahrene Antenne, mit der wir bitten, dass der Herr uns seine Zuteilungen gibt.
Natürlich ist es so, dass mich in Gottesdiensten manchmal die Nachbarn etwas skeptisch ansehen, wenn ich einen Notizzettel herausziehe und anfange zu schreiben. Es scheint, als würde ich nicht aufpassen, was der Pfarrer sagt.
Doch in der Gemeinschaft des Volkes Gottes bekomme ich plötzlich geistliche Zuteilungen, die ich festhalten möchte.
Ein alter hanischer Bruder in Württemberg hat gesagt: Selbst wenn die Brüder am Brüdertisch manchmal langweilig verkündigen – was ja manchmal vorkommen kann –, ist dort, wo fromme Menschen zusammenkommen, der lebendige Gott da, der seine Zuteilungen gibt.
Rechnen Sie damit, dass Gott Ihnen Durchblicke gibt! Gehen Sie nicht sofort mit Kritik heran: „Heute war es lang, schwer verständlich und zu dogmatisch.“ Gott möchte, wo sein Volk zusammenkommt, uns Zuteilungen geben.
Es ist schade um jedes Jahr, das wir nicht mehr erleben. Jeder Tag ist schade, wenn Gott Zuteilungen für uns bereitgehalten hätte und wir sie nicht mehr erleben.
Freuen Sie sich am Altwerden – nicht nur, weil Sie nicht sterben müssen, sondern weil Zuteilungen bereitstehen. Das sind Chancen des Älterwerdens.
Gefährdungen des Alters im Glauben
So hat es der Herr Jesus gesagt: Das ewige Leben ist der Anbruch der ewigen Welt Gottes. Denn sie erkennen dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus. Es gibt Aha-Erlebnisse, bei denen dir noch gar nicht alles aufgegangen ist, eine Zuteilung findet statt.
Aber nun zu den Gefährdungen des Alters. Was ist mit den vielen, die eigentlich beten: „Nichts soll mich von dir vertreiben“? Die Angst haben, ob sie bei Jesus bleiben können. Die nicht mehr aus voller Kehle und frischer Brust singen können, stets in deinem Dienste stehen wollen. Sie würden gerne mithelfen bei der Vorbereitung und Durchführung der Gottesdienste, beim Einladedienst mitmachen. Doch sie spüren, dass im Besuchsdienst gesagt wird: „Die ist zu alt.“
Wir wissen nicht, was das bewirkt, wenn ein Achtzigjähriger, wie im Schriftbuch beschrieben, an die Glastür kommt. „Wir brauchen junge Leute.“ Das tut oft elend weh, wenn gesagt wird: „Ach, in der Kirchgemeinschaft sind eben so viele alte Leute.“ Sie ahnen nicht, welche Würde Gott uns gibt. Das muss ich mal in der Gemeinde durchsprechen. Wenn er uns bis ins Alter, bis wir grau werden oder überhaupt nichts mehr auf dem Kopf haben, heben, tragen und erretten will, dann, weil wir seine bevorzugten Leute sind.
Wir haben doch die entscheidende Probe unseres Glaubens vor uns. Dafür müssen wir gerüstet werden, damit wir im Sterben wissen: Mein Heiland ist auch noch da. Diesen Adel sollte man uns in der Gemeinschaft der Christenheit gewähren. Das sind die wichtigsten Leute. Aber wir wissen, wie viele von denen, die einst das auch mitgesungen haben: „Bei dir, Jesus, will ich bleiben, stets in deinem Dienste stehen, nichts soll mich von dir vertreiben“, plötzlich nicht mehr da sind.
Sie waren Mitarbeiter in der Jugendarbeit, spielten im Posaunenchor mit, waren im Jugendchor dabei, im Besuchsdienst, sogar im Ältestenrat oder im Kirchengemeinderat. Und doch sind sie irgendwie abgehängt. Weil es schon bei Jesus so war, dass plötzlich viele weggegangen waren. Jesus lässt die Freiheit, selbst seinen engsten Freunden wollte er auch weggehen.
Es kann viel dazwischenkommen, obwohl der Herr Jesus sich für eine konzertierte Aktion so viel Mühe gegeben hat – mit Ihnen und mit mir, mit Menschen, Seelsorgern, Bibelworten, Freizeiten und Eindrücken, die er uns gewährt hat. Nach dieser konzertierten Aktion, dass wir Christen geworden sind, ist es gar nicht mehr selbstverständlich, dass wir Christen bleiben.
Bei vielen ist statt dem Motto „Ich möchte bei Jesus bleiben“ ein ganz anderes Bleiben getreten: „Ich möchte, dass meine finanziellen Rücklagen bleiben, ich möchte wissen, dass mein Leben bleibt, meine Gesundheit bleibt.“ Das Bleiben bei Jesus ist plötzlich zweitrangig geworden.
Ich möchte jetzt gar nicht alle Gefährdungen aufzählen, die es im Glauben gibt. Nur meine Erfahrung aus der Seelsorge bis hin zu ganz konkreten Fällen bei uns in Württemberg, mit dem, was in Winnenden geschehen ist. Offenbar ist bei uns in der Verkündigung der Christenheit der Eindruck entstanden, die Hauptsache sei, dass Jesus gesund macht, Wunder tut, heilt und bewahrt.
Und wenn dann ein liebgewonnener Mensch stirbt – wie das Furchtbare geschieht, dass in einer Ehe der eine Lebensgefährte durch den Tod weggerissen wird – man hat vorher gebetet: „Lieber Gott, erhalt mir meine Frau, erhalt mir mein Kind.“ Dann kommt der Tod. Und dann springt uns die Frage an: Was hat das für einen Wert mit dem Gott? Ich habe erwartet, dass er Gebete erhört. Es ist doch ein Gott der Liebe.
In Winnenden wurde immer gesagt: „Wo ist der Gott der Liebe?“ Der Gott der Liebe sorgt dafür, dass wir nicht zum Teufel gehen müssen. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden.“ Schweres gibt es auch im Leben der Christen. Alle, die Jesus nachfolgen wollen und fromm leben wollen, müssen mit Anfechtung und Leiden rechnen.
Die, die ihm nachfolgen, tragen ihr Kreuz Jesus nach. Aber eine Gefährdung im Glauben ist die Frage, die uns vorgehalten wird: „Wo ist nun dein Gott?“ So wie die Frau des Hiob zu ihrem Mann sagte: „Wo ist nun Gott? Schwör doch ab, das hat doch keinen Sinn.“ Gerade ältere Menschen sind gefährdet, stecken zu bleiben oder Rückschritte zu machen. Die Treue im Gottesdienstbesuch wird weniger. „Was soll das denn bringen?“
Viele Gottesworte sind uns in einem langen Christenleben so bekannt, dass sie an uns vorbeigehen. Wir kennen sie schon. Bis hin zu unseren Gebetsgemeinschaften – das ist ja bei uns oft üblich geworden wie ein Bienenkorb. Ich muss Ihnen bekennen: Drei Viertel der hingehauchten Gebete, die jungen Geschwister beten so leise vor sich hin, dass ich nicht Amen sagen kann, weil ich nichts verstanden habe.
Haben Sie mitbekommen, was die Losung heute Morgen war? Die lesen wir, freuen uns daran, und schon nach fünf Minuten würden Sie sich kaum mehr fertigbringen, zu sagen, was die Losung war. Und wenn einer uns fragen würde: „Wie war der Gottesdienst heute Morgen?“ würde er sagen: „Großartig.“ – „Ja, um was ging es denn?“ – „Es ging, glaube ich, um Gott oder so, gell.“
Das wird im Alter noch schwieriger, dass wir über die vielen Eindrücke, die wir gehabt haben, nichts mehr aufnehmen wollen. Es ist wie bei den großen Mülleimern mit der Mülltrennung. Das Schlimmste ist, wenn unsere Hausgenossen alles schon so voll gemacht haben, dass der Deckel nach oben steht und nichts mehr reinpasst.
So ist es in meinem Leben oft, als wollten keine neuen Eindrücke mehr hineingehen. Das Christbleiben ist eine Gefährdung: Ob man bleiben kann. Eine besondere Anfechtung, die ich bei meinen Freunden aus der Jugendzeit erlebe, ist die Frage: „Ich frage mich immer wieder, ob mein Glauben echt ist. Bin ich eigentlich zu Jesus und dem Glauben hineingewachsen, nur weil Freunde mich mitgenommen haben? Bin ich im Schleppseil anderer Christen geworden, im Schleppnetz der Familie, das mir ganz gut gefallen hat? Habe ich mich von Jesus wirklich rufen lassen? War das bisher mein echter Glaube oder nur Gewohnheit?“
Und nicht nur das: Nicht nur wir selbst stellen uns diese Frage, sondern auch der große Versucher. Der Feind versucht uns immer dort, wo er uns entführen will. Er fragt: „Es ist doch nicht echt, so wie beim Hiob, der Frommheit ist doch nicht echt. Nimm doch mal die Gesundheit weg, dann wirst du sehen, was echt ist.“
Eine Gefährdung des Alters ist die Frage des Versuchers: „Komm, wir kratzen mal ein bisschen den frommen Lack ab, was ist denn echt?“ Es ist nicht selbstverständlich, bei Christus, bei Jesus zu bleiben. Aber es heißt in einem Glaubenslied: „Bis zum Schwören will ich es wissen, dass der Schuldbrief ist zerrissen.“
Und um diese Gewissheit dürfen Sie bitten: „Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr!“ Für mich ist oft diese eine Liedzeile mein Gebet: „Lass mich dein sein und bleiben, du treuer Gott und Herr!“
Wir dürfen so beten und brauchen uns nicht zu genieren, wenn der Herr Jesus am Kreuz gebetet hat: „In deine Hände, Vater, befehle ich meinen Geist.“ Das heißt: Die Schmerzen waren sicher so groß, die Not der Schuld der Welt, die auf ihm lastete, dass er gar nichts mehr denken konnte. Jetzt gibt er seinen Geist ab und sagt: „Ich möchte dir gehören.“
So dürfen Sie beten in der Gemeinschaft mit Jesus.
Die Verantwortung der Gemeinde für ältere Christen
Aber es ist auch eine Aufgabe für die Christengemeinde, eine Hausaufgabe. Wenn wir einen Herrn haben, der uns bis ins Alter heben, tragen und erretten will, dann will dieser treue Herr Jesus auch, dass seine Leute Mithelfer sind. Sie sollen dazu beitragen, dass Ältere nicht abhängen müssen und sich bei Jesus nicht ausklinken.
Ich brauche Glaubensstärkung. Versucht das immer unseren jungen Freunden, die durchs Spengelhaus gegangen sind, zu sagen. Ich erwarte doch nicht von euch eine exegetische Arbeit am Sonntagmorgen, sondern dass ihr meinen schwachen Glauben stärkt. Ich bin doch am Ende.
Stattdessen wird mir oft angeboten, erste Schritte im Glauben zu machen. Es wird gesagt, wie sich die Christenheit bewähren muss und was sie in dieser Welt tun soll, wenn sie glaubwürdig sein will. Nein, ich bin doch in Gefahr! Da wäre es aber arg egoistisch, wenn du den Glauben gestärkt haben willst.
Lest doch mal den Römerbrief und die gesamten Briefe des Neuen Testaments. Dort geht es um nichts anderes als: Stärkt die wankenden Knie. Jeder Christ, nicht nur wir Alten, ist in Gefahr, den Löffel wegzuwerfen und zu sagen, es lohne sich nicht. Stärkt in mir den schwachen Glauben!
Die regelmäßige Teilnahme am Gemeindegottesdienst, an der Versammlung der Gemeinde, müssen wir Älteren uns sagen lassen. Wir dürfen die Gemeinde nicht verhindern. Die Gemeinschaft des Volkes Gottes ist doch viel wichtiger, als dass ich jeden Morgen meine sechseinhalb Pillen nehme. Die sind ganz genau abgezählt, da achte ich drauf. Das darf ich nicht vergessen. Und abends noch eine Portion.
So müssen wir auch die Gemeinschaft des Volkes Gottes pflegen. Da gehöre ich hin, sonst gehe ich kaputt. Wenn das fehlt, nicht erst wenn sich Bedrängnisse erheben oder Verfolgungen kommen, sondern die Bedrängnisse kommen sehr früh, wenn man älter wird.
Die Sorge um die Enkel, die Sorge um die eigenen Kinder, ob sie die Enkel richtig erziehen – zu streng oder zu lasch. Die Sorge um die Ehe. Unser Personalreferent in Württemberg, Oberkirchenrat, hat zu jedem, der in Ruhestand gegangen ist, gesagt: „Wissen Sie, dass Sie jetzt Ihre Ehe noch einmal ganz neu beginnen müssen?“ Die Sorge, ob das einfach so weiterläuft mit unserer Ehe oder ob wir noch einmal neu anfangen, miteinander in großer Freude daran, dass Gott uns das geschenkt hat.
Bedrängnisse: Ob unser Erspartes reicht. Wir haben noch einiges auf die Seite gelegt, und jetzt kommt das bloße große finanzielle Chaos. Diese Sorge kann einen bedrängen. Die Sorge um die tägliche Nahrung.
Christen sollen doch wach dafür werden. So steht es im Galaterbrief: Einer trage des anderen Last. Wir sollen wach dafür werden, dass neben uns Christen sind. Die alte Frau da oben ist vielleicht gar nicht so im Glauben sicher. Der alte Mann, der immer zum Gottesdienst kommt, ist vielleicht gar nicht so sicher, sondern in dem bröckelt es. Und wer sagt ihm das richtige Wort?
Lassen wir uns anfangen, unsere Kondolenz-, Trauer- und Geburtstagsbriefe anders zu formulieren. Wirklich voll Zuspruch. Der Herr ist noch da und niemals von seinem Volk gewichen. Ein Satz dazu, gar nicht viele Worte, sondern ein Glaubenstrost und Zuspruch.
Wir Ältere brauchen Glaubensstärkung. Der Herr Jesus hat so zu seinem Vater gebetet: „Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen und bewahre sie vor dem Bösen.“ Und er hat gesagt: „Das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, dass ich keines von denen verliere, die mir der Vater gegeben hat.“
Das ist der Wille des Herrn Jesus. Es darf doch keiner verloren gehen. Man darf sich nicht damit abfinden, dass manche abblättern und auf der Strecke bleiben. „Ich möchte keinen verlieren“, sagt Jesus von denen, die mir der Vater anvertraut hat. Dabei dürfen wir mithelfen.
Wir sind ja auch deshalb zusammengekommen: um „Stärkt in mir den schwachen Glauben“ zu leben. Aber auch, indem wir das mitnehmen in unsere Gemeinschaften, Hauskreise und Gemeinden. Wir wollen das ganz neu als Aufgabe sehen: dass ältere Menschen uns als Glaubensaufgabe anvertraut sind. Dass wir Helfer des Jesus werden, der keinen der Seinen verlieren will.
Was für ein Vorrecht für uns, dass wir in der Kraft des Herrn Jesus mithelfen dürfen, zu heben, zu tragen und zu erretten – ewig zu retten! Dass einmal in der Ewigkeit Menschen da sind, die sagen: „Ich danke dir, dass du mir in einer Stunde, in der bei mir im Glauben das letzte Lichtlein ausgeblasen worden wäre, ein Wort gesagt hast, das mich ganz neu gehalten hat.“
Heben, tragen, erretten.
Schlussgebet und Bitte um Wachheit und Weisheit
Ich darf mit Ihnen beten und betend zu diesem Herrn sprechen.
Herr Jesus, lass uns ganz neu im Bewusstsein sein, dass du keines von uns verlieren willst. Gib uns geöffnete Augen für die Schwester und den Bruder neben uns – oft sind es ältere, merkwürdige Menschen, die es brauchen, im Glauben gestärkt zu werden. Gerade wenn so vieles in ihrem Leben seltsam geworden ist.
Wenn die ganzen Bremsen des Anstands und der guten Gewohnheiten gelockert scheinen und viele Eigenarten sichtbar werden, soll das Bestehen bleiben. Sie sollen dein Eigentum bleiben. Und diese Würde soll über ihrem Leben bleiben, dir gehörig, ewig.
Mach uns wach dafür und gib uns die Weisheit und die Kraft, sie zu begleiten. Gib auch uns die Wachheit, zu erkennen, dass jeder neue Tag und jedes neue Jahr voll von Chancen ist. Das ist das ewige Leben, der Einbruch der ewigen Welt Gottes. Dass wir den Gott, den Vater Jesu Christi, und dich, der du vom Vater gesandt bist, erkennen.
Amen.