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02.03.19902. Petrus 1,16-21
"Wir haben das Wort" - aber was bringt es uns? Es ist das Wort, mit dem wir uns ein Bild machen können, mit dem wir uns ins Bild setzen können und mit dem wir immer im Bild sind. Das Wort ist das Packmaterial der Herrlichkeit. - Predigt aus der Stiftskirche Stuttgart

[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Wir haben das Wort, sagt der Apostel und stößt damit auf Widerstand. Herr X zum Beispiel sagt: Schon recht, alter Mann, früher hatten wir das auch. Wissen Sie früher, als unser Wohnzimmer noch vom Kruzifix im Herrgottswinkel oder vom Röhrenden Hirsch über der Kredenz oder von der Kuckucksuhr an der Blümchentapete bestimmt war. Bänke, Hocker und Stühle gruppierten sich um den bäuerlichen (oder bürgerlichen) Familientisch. Opa las im Almanach und Oma in vergilbten Briefen. Aber heute ist das anders, ganz anders. Der Apparat mit dem Bildschirm bildet die magische Mitte und den unbestreitbaren Blickfang des ganzen Raumes. Der Familienkreis hat sich geöffnet und ist zum Halbkreis geworden. Aller Augen warten auf dich, dass du Fernseher ihnen Bilder gibst zur Feierabendzeit. So münzte einer dieses bekannte Wort um. Wir haben das Bild. Aber der Apostel wiederholt es: Wir haben das Wort und stößt damit auf Unverständnis. Herr Y zum Beispiel sagt: Schon recht, guter Mann, früher war das verständlich. Wissen Sie früher, als wir noch auf Schlagzeilen des Landboten oder auf die Nachrichten aus dem Dampfradio oder auf die Sondermeldungen durch den Volksempfänger angewiesen waren. Die großen Reden wirkten wie Straßenfeger und trieben die Leute vor die krächzenden Lautsprecher. Keiner wollte sich diese Worte entgehen lassen. Aber heute sind die diese Röhrengeräte längst im Postmuseum und haben Televisions in Farbe, Videos mit Stereo Platz gemacht. Am Ort des Geschehens sind wir live dabei und lassen uns keine Einzelheiten entgehend. Der Bildtransport aus den entferntesten Winkeln der Erde klappt in Sekundenschnelle. Wir haben das Bild. Aber der Apostel sagt noch einmal: Wir haben das Wort und stößt damit auf überlegenes Lächeln. Herr Z zum Beispiel sagt: Schon recht, lieber Mann, früher konnten sie damit kommen. Wissen Sie früher, als uns die großen Politiker oder die bekannten Künstler oder die populären Stars nur vom Hörensagen her bekannt waren. Es gab nur wenige glückliche Besitzer eines aufziehbaren Grammophonkastens, in dem Schallplatten abgespielt werden konnten. Nach jeder Plattenseite war Nadelwechsel angesagt. Aber heute haben wir die Starparade direkt im Zimmer, die Schaubühne vor unserem Sessel, das Pantoffeltheater frei Haus. Wir haben das Bild. Aber Petrus bleibt dabei, auch wenn es gar nicht gegen diese moderne Bild- bzw. Bildungseinrichtung gesagt ist: Wir haben das Wort. Er zeigt auf die Propheten. Männer wie Jesaja und Jeremia wurden gegen ihren Willen dienstverpflichtet und zum Sprach­rohr Gottes bestellt. In gewaltigen Visionen und Auditionen erfuhr­en sie die Weisungen des Herrn. Noch heute sind ihre Papyrusrollen lesbar. Kein einziger Satz ist außer Kraft gesetzt worden. "So spricht der Herr" gehört zu den aktuellen Informationen. Wir haben das prophetische Wort. Er zeigt auf die Evangelisten. Männer wie Matthäus und Markus ließen alles liegen und stehen und folgten dies­em Jesus von Nazareth nach. In Lehrstunden und Jüngerreden lernten sie seine Tröstungen und Mahnungen. Noch heute sind ihre Aufzeich­nungen unersetzbar. Authentische Jesusreden gibt es nur durch sie. Ich-bin-Worte oder Seligpreisungen haben bleibende Bedeutung. Wir haben das evangelistische Wort. Er zeigt auf die Apostel. Männer wie Paulus wurden vom hohen Ross gestürzt und in neuen Dienst gestellt. In stillen Stunden diktierte ihnen der Geist. Noch heute sind ihre Briefe voll froher Botschaft, klarer Lehre und eindeutiger Weisung. Wir haben das apostolische Wort. Wir haben das biblische Wort. Wir haben das göttliche Wort. Augustin sagte auch so, als ihm nach einem verkommenen Leben eine geheimnisvolle Stimme aus dem Feigenbaum zurief: Nimm und lies! Ignatius von Loyola sagte auch so, als er im Lazarett als schwerverwundeter Offizier an das Neue Testament geriet und sein Leben radikal veränderte. Edith Stein sagte auch so, als sie durch eine Autobiographie auf die Bibel stieß und dann ihren Weg nach Ausschwitz getrost gehen konnte. Viele sagten so und jetzt sollen wir es nachsagen: Wir haben das Wort. Aber weil uns immer wieder Fragen kommen, was uns denn dieses Wort bringe, fügt er drei Sätze hinzu.

1. Wir haben das Wort, mit dem wir uns ein Bild machen können

... und zwar von dem Jesus Christus, der gestern gekommen ist. Unsere Kameras sind nämlich für das Gestern blind. Alle Objektive erfassen die Vergangenheit nicht. Fernsehen ist kein Zurücksehen. Wir können uns tatsächlich kein Bild von diesem Jesus machen, obwohl unser Glaube ausschließlich an dieser einzigen und einzigartigen Person hängt. Nur das Wort ist in der Lage, Geschehenes und Gesprochenes so zu transportieren, dass wir gebildet werden. Aber genau an dieser Stelle setzen unsere Zweifel ein. Mit dem Wort wurde schon so viel Schindluder getrieben. Vom Rattenfänger von Hameln zum Beispiel gibt es viele Worte, die ihn als mittelalterlichen Stadtpfeifer beschreiben. Mit Musik, ohne Gift, einfach umweltfreundlich beseitigt dieser ökologisch denkende Mensch die Rattenplage. Aber war das eine historische Gestalt? Lebte er wirklich um 1280? Oder haben wir es nur mit einer Märchenfigur zu tun? Oder von Till Eulenspiegel gibt es viele Worte, die ihn als derben Grobian beschreiben. Stets fielen ihm noch tollere Streiche ein. Mit derbem Mutterwitz wurde er zum bekannten Entertainer. Aber war das eine historische Gestalt? Lebte er wirklich um 1350? Oder haben wir es nur mit einer Sagenfigur zu tun? Oder von Don Quichotte gibt es viele Worte, die ihn als traurigen Ritter beschreiben. Seine forschen Unternehmungen waren immer ein Schlag ins Wasser. Überall profilierte er sich als tragischer Held. Aber war er eine historische Gestalt? Lebte er wirklich um 1450? Oder haben wir es mit einer Fabelfigur zu tun? Und Petrus sagt: Wir sind nicht klugen Fabeln gefolgt. Wir sind nicht schönen Sagen nachgegangen. Wir sind nicht schönen Märchen auf die Spur gekommen. Wir sind auf dem Berg Hermon angekommen, wo wir Augen- und Ohrenzeugen eines unvergesslichen Dreiergipfels wurden. Jesus erschien bei dieser Verklärung im Lichtglanz zwischen Mose und Elia und die Stimme Gottes war unüberhörbar: Dies ist mein lieber Sohn. Und wenn sie ihn als Rattenfänger anprangern, der die Leute verführt: Dies ist mein lieber Sohn. Und wenn sie ihn als Eulenspiegel verlachen, der nicht ernst genommen werden darf: Das ist mein lieber Sohn. Und wenn sie ihn als Don Quichotte verspotten, der nur eine tragische Figur abgibt: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. Petrus gibt es schriftlich: Jesus Christus ist eine historische Gestalt. In Bethlehem ist er zur Welt gekommen. In Nazareth hat er gelebt. In Jerusalem ist er gestorben und auferstanden. Das Wort war Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit. Wollen wir diesen Mann als Märchenschreiber abschreiben? Mit Jesus befinden wir uns auf gesichertem Boden. Wenn es also heißt: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost!", dann geht das auf diesen Herrn zurück. Wenn es also heißt: "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden", dann kommt das aus seinem Mund. Wenn es also heißt: "Ich bin der gute Hirte", dann steht er dafür gerade. Wir haben das Wort, mit dem wir uns ein Bild machen können.

2. Wir haben das Wort, mit dem wir uns ins Bild setzen können

... und zwar von dem Jesus Christus, der morgen kommen wird. Unsere Kameras sind nämlich auch für das Morgen blind. Alle Objektive erfassen die Zukunft nicht. Fernsehen ist kein Hellsehen. Wir können uns nicht ins Bild setzen über das Kommen unseres Herrn, obwohl wir uns im zweiten Glaubensartikel immer wieder dazu bekennen. Nur das Wort könnte uns wieder mit neuen Perspektiven ins Bild setzen über das, was uns blüht. Aber genau an dieser Stelle melden sich wieder unsere Zweifel zu Wort. Papier ist geduldig. Jules Verne zum Beispiel, der französische Schriftsteller, hat phantastische Geschichten über die technische Entwicklung der Zukunft zu Papier gebracht. Oder George Orwell, der englische Schriftsteller, hat seine pessimistischen Gedanken über die zukünftige Menschenwelt in Romanen niedergeschrieben. Oder Ernest Snyder, der amerikanische Schriftsteller, hat seine Erkenntnisse über den Todeskandidat Erde in düsteren Schriften publiziert. Haben die Apostel, und das ist die Zweifelsfrage, nicht nach ähnlichem Muster ihren Phantasien freien Lauf gelassen? Haben sie nicht nach gleicher Vorlage ihre Visionen aus den Fingern gesogen? Haben sie nicht mit demselben Dreh ihre Zukunftsprognosen aus dem Kaffeesatz gelesen? Petrus aber sagt: Wir sind vom Heiligen Geist angetrieben. Wir sind von himmlischer Energie umgetrieben. Wir sind von Gottes Kraft angetrieben. Biblische Schriftsteller griffen deshalb zu Papyrus und Tinte, weil Gott zu ihnen sprach, so wie es Rembrandt auf einem Gemälde über den schreibenden Matthäus eindrücklich dargestellt hat. Mit der Feder in der Hand denkt er nach, meditiert, formuliert, disponiert. Er benützt seinen Verstand, lässt seine Gefühle mit einfließen, ja sein ganzes Herz ist an dieser Arbeit beteiligt. Er schreibt die Sprache seiner Zeit und denkt in den Vorstellungen seiner Umwelt. Aber im Hintergrund, ganz nahe am Ohr des Evangelisten, hat Rembrandt einen Engel gemalt, der dem Menschen Matthäus seine göttlichen Worte zuraunt. Der lebendige Gott und sein Geist sind demnach die eigentlichen Autoren der Schrift. Niemand muss Angst haben, beim Bibellesen irgendwelchem Spinnern auf den Leim zu kriechen. Propheten sind keine Phantasten. Evangelisten sind keine Wahrsager. Apostel sind keine Romanschriftsteller. Alle biblischen Schreiber haben das weitergegeben, was ihnen eingegeben wurde, und dazu gehört die Hoffnung auf den wiederkommenden Herrn. Christen leben nicht nur von Erinnerungen, sondern auch von Erwartungen.

Was erwarten Sie? Ein bestandenes Examen, einen ordent­lichen Arbeitsplatz, einen treuen Freund, eine fröhliche Familie, eine stabile Gesundheit, einen geruhsamen Lebensabend, alles in Frieden und Freiheit und Freude? Diese Erwartungen sind nicht ver­werflich, aber viel zu bescheiden. Christen erwarten das Kommen ihres Herrn, weil nur er Friede stiften, Freiheit bringen, Freude in allem Leide schenken kann. Es wird nicht ewig geweint werden, es wird nicht ewig gelitten werden, es wird nicht ewig gestorben werden, aber es wird ewig die Herrlichkeit des Herrn gelobt und gepriesen werden. Dafür geben die Apostel ihr Wort. Dafür stehen sie im Wort. Dafür schreiben sie ihr Wort. Wir haben das Wort, mit dem wir uns ins Bild setzen können.

3. Wir haben das Wort, mit dem wir immer im Bild sind

... und zwar über den Jesus Christus, der nicht nur gestern gekommen ist und morgen kommen wird, sondern der heute kommt. Unsere Kameras sind nämlich auch für einen Teil des Heute blind. Alle Objektive erfassen nicht die ganze Wirklichkeit. Fernsehen ist kein Nahsehen und bekommt den nicht ins Bild, der gesagt hat: "Ich bin bei euch alle Tage". Nur das Wort kann uns den Star stechen und den gegenwärtigen Herrn vor Augen stellen. Aber genau an dieser Stelle melden sich noch einmal unsere Zweifel zur Stelle, die schon Faust formuliert hat: "Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen." Wenn es eine Gabe wäre, die mir geschenkt würde und meine bescheidene Begabung erweitert, dann könnte ich an Jesus glauben. Wenn es eine Kraft wäre, die mir gegeben würde und meinen kraftlosen Zustand aufbessert, dann könnte ich Jesus Christus sehen. Wenn es ein Gefühl wäre, das mich durchziehen würde und mich in meiner Depression hochstimmt, dann könnte ich Jesus Christus erblicken. Wenn es mehr wäre, etwas mehr, spürbar mehr, einfach mehr - aber nur das Wort, allein das Wort, ausschließlich das Wort, mehr nicht?

Liebe Freunde, mehr brauchen wir nicht. Auch wenn wir immer wieder von dieser Sehnsucht nach mehr sichtbarer und spürbarer Gotteswirklichkeit gepackt werd­en, mehr ist nicht nötig. Das Wort Gottes genügt zum Leben und zum Sterben. Es ist das Licht, das nicht wie ein Tiefstrahler die ganze Gegend erhellt, aber wie eine Taschenlampe die nächsten Meter unseres Weges deutlich zeigt. Es ist der Morgenstern, der nicht wie die Sonne die ganze Welt ins Tageslicht bringt, aber wie ein Himmelsge­stirn den neuen Tag ankündigt. Das Wort ist das Packmaterial der Herrlichkeit. Wer es lesend öffnet, wird sie in aller Dunkelheit und Traurigkeit nicht übersehen können. Der äthiopische Finanzminister aus der Apostelgeschichte gehört in die lange Reihe derer, die über diesem Buch bekannt haben: "Wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen." Dann war er im Bild und dann zog er seine Straße fröhlich.

Ihre Straße ist nicht steiler und heißer. Sie können fröhlich darauf heimgehen, denn Sie haben das Wort.

Amen