Herzlich willkommen zum Podcast der EFH Stuttgart mit Jörg Lackmann und Thomas Powileit.
Unser Podcast möchte zum praktischen Christsein herausfordern und zugleich zum theologischen Denken anregen. Das christliche Weltbild prägt unsere Kulturen noch immer, auch wenn wir mittlerweile in einer nachchristlichen Zeit leben.
Wie hat der Einfluss des Evangeliums unsere Kultur verändert? Und durch welches Denken wurde dieser Einfluss des Evangeliums im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zurückgedrängt?
Diese Fragen wollen wir heute gemeinsam betrachten.
Thomas, wenn wir darüber sprechen, welchen Einfluss die Bibel auf unsere Kultur gehabt hat, ist es zunächst wichtig zu klären, was Kultur überhaupt ist.
Ein Lehrer von mir hat Kultur einmal sehr treffend zusammengefasst: Kultur ist die Strategie zur Daseinsbewältigung. Das bedeutet, ich habe eine bestimmte Herausforderung im Alltag und folge einem bestimmten Muster, wie ich damit umgehe. Dieses Muster ist in der Gesellschaft, in der ich lebe, üblich und wird von mir erwartet. Es wird nicht hinterfragt, sondern einfach vorausgesetzt. Dabei können unterschiedliche Kulturen mit der gleichen Herausforderung ganz verschieden umgehen.
Hast du dafür Beispiele?
Ja, zum Beispiel: Wenn ich in eine Kirche gehe, nehme ich meine Kopfbedeckung ab. Wenn ich hingegen in eine Synagoge gehe, setze ich meine Kopfbedeckung auf. Im Westen ist das so, im Osten, etwa in der orthodoxen Kirche, trägt man eine Kopfdeckung, wenn ich mich richtig erinnere.
Genau, das ist kulturell bedingt.
Oder in China ist es beispielsweise als unanständig angesehen, ein Geschenk sofort auszupacken. Das macht man erst im privaten Rahmen, wenn der Schenkende nicht mehr da ist. Bei uns ist das anders – hier erwartet man eher, dass man das Geschenk sofort öffnet.
Ein weiteres Beispiel aus China: Dort ist es wichtig, dass das Preisschild am Geschenk bleibt. So vermeidet man, dass der Beschenkte denkt, das Geschenk sei zu billig. Bei uns wirkt es hingegen oft unhöflich, wenn das Preisschild am Geschenk klebt. Dann denkt man eher: Was für ein unachtsamer Mensch, der das Preisschild nicht entfernt.
Das zeigt, dass Kultur aus anerkannten Handlungsmustern besteht, die meist unausgesprochen sind und gesellschaftlich erwartet werden. Natürlich kann sich eine Kultur im Laufe der Zeit auch verändern.
Genau das wollen wir uns jetzt anschauen, denn das ist das Thema von heute.
Als die Jünger in Jerusalem mit dem Evangelium begannen, trafen sie auf die Kultur der Antike, also etwa die Zeit von 800 v. Chr. bis 500 n. Chr.
Kannst du uns etwas über diese Kultur erzählen und wo alles seinen Anfang nahm? Wenn wir darüber nachdenken, was das Evangelium verändert hat, dann müssen wir uns, wie du richtig sagst, die Antike anschauen.
Das war die Kultur, in der die Jünger lebten, die Kultur, auf die das Evangelium traf – abgesehen vom jüdischen Kontext, der in Israel oder in den Gemeinden der Diaspora vorhanden war. Die Antike war geprägt von einem Götterglauben. Für alles gab es irgendeinen Gott.
Mir ist das einmal in Rom bewusst geworden: Wenn man auf dem Palatin unterwegs ist, sieht man dort einige ausgegrabene Tempel, in denen Götter verehrt wurden. Riesentempel, die das gesellschaftliche Leben damals maßgeblich bestimmten.
Die ersten Christen kamen sozusagen mit der kleinen Kerze des Evangeliums in diese massive Finsternis. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Kerze einen Flächenbrand auslösen und die festen Fundamente der damaligen Kultur verändern könnte.
Das Evangelium war in der Antike eine von vielen Nachrichten. Aber es war eine Nachricht, die tatsächlich die damalige Welt massiv beeinflusst hat. Das können wir heute im Nachhinein sagen.
Ich fand es sehr spannend, wie der Philosoph Charles Taylor in seinem Buch „A Secular Age“ fünf Bereiche herausgegriffen hat, in denen er zeigt, wie das Evangelium die Antike beeinflusst hat.
Man muss allerdings sagen, dass ich selbst nur eine kurze Zusammenfassung gelesen habe und nicht das Buch selbst. Es ist ziemlich kompliziert geschrieben und umfasst viele Seiten. Wenn man es nicht versteht, können manche Zusammenfassungen sogar besser sein als das, was man selbst aus dem Buch zieht.
Fünfte Reiche hast du gesagt – welche wären denn das? Er greift dabei die Bereiche der Rationalität, der Geschichte, der Gesellschaft, der Moral und der Identität heraus. Das klingt schon sehr kompliziert.
An diesen Bereichen kann man erkennen, welche Kraft das Wort Gottes besitzt, um die Kultur nachhaltig zu verändern. Für mich war das sehr anschaulich, was Paulus im Römerbrief 1 sagt: Das Evangelium ist Gottes Kraft zum Heil für jeden Glaubenden, sowohl für die Juden zuerst als auch für die Griechen.
Man kann auch ganz praktisch sehen, dass das Evangelium die Kultur der Antike wirklich nachhaltig beeinflusst hat.
Wie wirkt Gottes Kraft nun im Hinblick auf den ersten Bereich, die Rationalität in der Antike?
Für die Griechen war die Ratio – also der Verstand, das Denken und der Geist – sehr wichtig. Der Geist war für sie viel bedeutender als der Körper. Ich erinnere mich, einmal gehört zu haben, dass ein Philosoph seinen Körper so unwichtig fand, dass er ihn kaum gewaschen hat. Ich dachte damals, na ja, der konnte seine Vorlesungen wahrscheinlich nur aus der Distanz halten. Das ist jetzt wieder ein Trend, habe ich diese Woche gelesen.
Worum es also ging, war vor allem der Geist. Wer sich mit griechischer Philosophie beschäftigt, weiß, dass auch die Ideenwelt eine große Rolle spielte. In dieses Denken hinein kommt das Evangelium. Es betont auch den Körper als gute Schöpfung Gottes.
Paulus sagt das zum Beispiel in Römer 1: Wenn ich die Schöpfung anschaue, entdecke ich dahinter Gottes Handschrift – sinnbildlich gesprochen. Mit dem Evangelium wird die Schöpfung interessant, und die Botschaft lautet: Es lohnt sich, die Schöpfung genauer zu betrachten und darüber zu staunen.
Menschen begannen, ihren Verstand zu nutzen, um mehr von Gottes Schöpfung zu entdecken. Durch dieses Denken wurde Wissenschaft auf breiter Front möglich. Wissenschaft und Glaube sind kein Widerspruch, sondern der Glaube hat die Tür zur Wissenschaft weit aufgestoßen. Menschen benutzten ihren Verstand, um zu verstehen, wie Gott die Dinge geschaffen hat.
Immer wieder haben Wissenschaftler ihre Arbeiten mit „Soli Deo Gloria“ unterschrieben – das heißt: „Allein zur Ehre Gottes“. Das Evangelium hat also eine Veränderung im Denken bewirkt. Weg von der ausschließlichen Betonung des Geistes hin zu einem Interesse an der geschaffenen Welt – nach dem Motto: Wer glaubt, soll auch denken und sich mit Gottes Schöpfung beschäftigen.
Natürlich hat das eine Weile gedauert. Erst im Mittelalter entwickelte sich die Wissenschaftlichkeit stärker. Zuvor waren Christen oft Verfolgungen ausgesetzt, und der Einfluss des Christentums auf die Gesellschaft war in diesem Bereich nicht so groß. Damals lag der Fokus eher auf dem Körper und dem Denken.
Du hast gesagt, Verstand wird heute oft als Gegenspieler zum Glauben gesehen – nach dem Motto: „Wer denkt, kann nicht glauben.“ Das stimmt. Wir leben ja auch im nachchristlichen Zeitalter. Wir schauen uns jetzt an, wie das Evangelium die Kultur der Antike verändert hat. Es ist aber auch interessant zu sehen, was eigentlich passiert ist, sodass das Evangelium als prägende Kraft in unserer Kultur verdrängt wurde.
Welche Glaubensüberzeugungen und welche narrative Erzählungen prägen heute unsere Gesellschaft? Warum spielt das Evangelium für uns kaum noch eine Rolle?
Eine Veränderung weg von einer Kultur, die vom Evangelium geprägt ist, hin zu einer Kultur ohne Gott, begann damit, dass man den Verstand als eigenständige Größe betrachtete. Der Verstand wurde zur letzten Instanz und an die Stelle Gottes gesetzt. Er entscheidet also, wie Gott ist.
Das ist die Wurzel aller bibelkritischen Theologie. Anstatt sich auf Gottes Offenbarung, also den Glauben an die Bibel, zu verlassen, vertraut man auf den eigenen Verstand. Der klügste Mensch aller Zeiten, König Salomo, warnte einmal im Auftrag Gottes: Stütze dich nicht auf deinen Verstand, sondern vertraue auf den Herrn von ganzem Herzen.
Als Christ darf ich meinen Verstand zwar gebrauchen, aber ich mache ihn nicht zur letzten Stütze. Mit meinem Verstand werde ich niemals Gott erfassen können. Ich bin herausgefordert, Gott zu vertrauen und zu glauben, dass das, was Gott sagt, wahr ist – egal, ob ich es erklären kann oder nicht.
Wenn ich von „niemals erfassen“ spreche, meine ich letztlich das vollständige Erfassen Gottes. Die Haltung gegenüber der Schöpfung und der Rationalität war bisher so, dass man versucht hat, alles zu entdecken. Dafür braucht man den Verstand. Die Frage ist: Ist der Verstand das Letztendliche, oder ist er untergeordnet und dient dazu, Gott, die Schöpfung und alles andere zu erkennen?
Ich kann mit meinem Verstand sehr viel tun. Das sehen wir heute: Ich kann bis zum Mond fliegen und das auch vorbereiten. Aber Gott in seiner Größe erfassen kann ich mit meinem Verstand nicht. Wenn ich den Verstand als letzte Instanz setze, müsste ich ihn als Gegenüber zu Gott sehen. Doch mein Verstand ist eben nicht Gott.
Das war auch in der Aufklärung so, was übrigens ein sehr gelungener Marketing-Titel war. Das war ein richtiger Marketing-Coup. Die Aufklärer nannten sich selbst „Aufklärung“ und erklärten sich zum Licht. Alles davor sei das dunkle Zeitalter gewesen – das haben sie erfunden. Das dunkle Mittelalter gab es erst in der Aufklärungszeit. Davor wurde alles als schlecht dargestellt. Das nur als Nebenbemerkung.
Wenn sich die Gesellschaft verändert, verändern sich auch die Werte und die Beurteilung der Vergangenheit. Plötzlich wird das Schlechte gut oder umgekehrt. So entstehen neue Werte, in diesem Fall der absolut gesetzte Verstand.
Ich glaube, das ist auch heute ein Stück weit unser Problem. Wir meinen, das Einzige, was zählt, sei die materielle Welt. Damit reduzieren wir Gottes Wirklichkeit. Gott zeigt uns immer wieder, dass es nicht nur die materielle Welt gibt. Es gibt auch eine unsichtbare Welt um uns herum und sogar eine jenseitige Welt.
Diese unsichtbare Welt kann ich mit meinem Verstand nicht erfassen. Hier muss ich mich auf Gottes Offenbarung verlassen. Wenn ich Gott aus dem Blick verliere, drehe ich mich nur noch um das Materielle. Das sehen wir heute: Diese Welt wird zum Ein und Alles, und über das Grab hinaus gibt es dann logischerweise keine Hoffnung mehr.
Diese Lüge glauben wir als Gesellschaft: Wir glauben, unser Verstand sei tatsächlich die letzte Instanz und Wirklichkeit sei nur das, was ich mit meinem Verstand wahrnehmen und erklären kann.
Als ich darüber nachdachte, fiel mir Paulus in Römer 1 ein. Er sagt, wir seien in unserem Verstand verfinstert und geben dem Geschöpf Ehre statt dem Schöpfer. Genau das tun wir heute.
Wir haben einen Körperkult. Ich werde akzeptiert, wenn ich den Körper habe, den Hollywood als Ideal verkauft. Oder ich muss bei Instagram meine Bilder aufpeppen, damit ich gut aussehe. So reduziert sich alles auf das Körperliche.
Doch ich entdecke meinen Schöpfer nicht dahinter, ich bete ihn nicht an. Das war eigentlich Gottes Plan. Das Evangelium fordert uns heraus, mit unserem Verstand Gott zu ehren. Am Ende ehren wir aber uns selbst, weil wir uns von Gott entfernt haben.
Dabei gibt es verschiedene Strömungen. Wenn ich an die Antike denke, hielten die Spartaner den Körper sehr hoch, während Athen und andere Staaten eher den Geist betonten. Heute haben wir ebenfalls verschiedene Bewegungen. Im Esoterischen ist der Verstand vielleicht nicht mehr so entscheidend.
Aber ich glaube, Taylor meint immer die Hauptbereiche einer Gesellschaft. Er meint die Hauptentwicklung, den Hauptstrang. Was hat das Evangelium hier tatsächlich in der Denkweise verändert?
Der zweite Bereich, wenn ich mich recht entsinne, war die Geschichte. Geschichtsverständnis kann man ja ganz verschieden haben. Wie man Geschichte beobachtet und was man dokumentiert, hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt.
Wie war das denn in der Antike? Was hat das Evangelium in diesem Bereich verändert? Warum nimmt es das überhaupt als wichtigen Bereich wahr? Heutzutage würde man vielleicht sagen: Geschichte ist so ein Nebenfach, das interessiert kaum jemanden. Doch er sieht Geschichte scheinbar als einen zentralen Bereich an.
Mein Sohn würde mir wahrscheinlich widersprechen, wenn ich sage, dass Geschichte keinen interessiert. Ich selbst bin geschichtsinteressiert, das weißt du ja. Aber die Menschheit allgemein? Da hast du natürlich Recht, das interessiert die meisten nicht. Vielleicht liegt darin auch das Problem, dass man aus der Geschichte nichts lernt – weil man sie nicht kennt. Das ist, glaube ich, menschlich. Man muss die Fehler immer selbst machen.
Mir ist die Sünde im Menschen bewusst. Da kannst du noch so viel schauen, aber wir schweifen ab. Zurück zum antiken Geschichtsverständnis: Die Menschen in der Antike verstanden Geschichte zyklisch. Sie dachten, die Geschichte wiederholt sich immer wieder und hat kein wirkliches Ziel, auf das wir zusteuern.
Das ändert sich grundlegend mit dem Evangelium, denn Gottes Geschichte mit dieser Welt hat ein Ziel. Dieses Ziel ist das Kreuz, und vom Kreuz aus führt das Ziel in die Ewigkeit, wo ich eine tiefe Gemeinschaft mit Gott habe – eben wenn ich zu ihm gehöre. Diese Überzeugung nimmt mir natürlich auch Stress, weil ich weiß, mein Leben hat ein Happy End.
Ich gehe auf ein Ziel zu, dort werde ich Jesus sehen und ewig mit ihm leben. Das gibt mir Hoffnung. Die Bibel betont außerdem, dass Gott diese Geschichte lenkt. Er hat die Kontrolle über all das, was passiert. Er reagiert nicht nur, nein, Gott ist es, der regiert.
Das hilft mir auch persönlich, mich nicht von irgendwelchen Verschwörungstheorien schocken zu lassen. Es gibt keine Verschwörung, von der Gott nichts weiß. Und es gibt auch keine Verschwörung, die irgendetwas tun kann, was Gott nicht will. Mir gefällt das sehr gut. Im Englischen gibt es ein tolles Wortspiel: „history“ – also Geschichte – wird aufgesplittet in „his story“, also seine Geschichte, also zielgerichtete Geschichte.
Jahrhundertelang hat dieses zielgerichtete Geschichtsverständnis unser Denken und unsere Kultur beeinflusst. Den Leuten war klar: Das Jüngste Gericht kommt. Man hat sich bewusst gemacht, dass wir für unser Leben und für das, was wir tun, Verantwortung vor Gott tragen. So hat man es sogar in Gesetze geschrieben – Verantwortung vor Gott.
Du kannst heute noch im Bundestag, wenn du Abgeordneter bist, im Blick auf Gott schwören. Andererseits wussten die Menschen auch, wie es in Psalm 46,9 heißt: „Gott beschwichtigt die Kriege bis an das Ende der Erde, er zerbricht Bögen und zerschlägt Speere.“ Das war ein tiefes Wissen: Gott steht über allem.
Das hat die Menschen damals vielleicht weniger panisch gemacht als uns heute. Heute denken wir, wir müssen alles alleine regeln und sind allein gelassen auf dieser Welt. Wir betonen heute die menschliche Geschichte – und nicht die Geschichte Gottes mit uns Menschen.
Das war aber das, was das Evangelium stärker in die Antike hineingebracht hat: Gott hat eine Geschichte mit uns. Und das mit dem zyklischen Geschichtsverständnis ist heute noch im Osten zu finden, zum Beispiel in Indien. Dort lebt man nach dem Gedanken des Lebensrades, das immer wieder von Neuem beginnt.
Damals war es ähnlich: Die Welt baut sich auf, wird wieder zerstört und dann neu geschaffen. Die Menschen damals glaubten daran. Heute würde das kaum jemand so glauben – oder vielleicht doch wieder. Es spiegelt auf jeden Fall oft das Leben im Alltag wider. Man fühlt sich in einem Trott gefangen, immer dasselbe, nie ein Ziel.
Das ist schon eine gewaltige Veränderung, die das Christentum bewirkt hat. Ja, auf jeden Fall.
Der dritte Bereich war die Gesellschaft. Und da gibt es sicherlich vieles zu sagen. Auf was konzentriert sich Taylor in der Zusammenfassung?
Er macht deutlich, dass das Evangelium die Gesellschaft massiv verändert hat. Man muss sich vorstellen: Im antiken Rom wurden ungewollte Kinder ausgesetzt, damit sie von Hunden gefressen wurden. Alte Menschen stieß man in den Tiber, weil man sich nicht um sie kümmern wollte. Sicherlich nicht jeder, aber das war die allgemein anerkannte Situation. Der einzelne Mensch war nicht wichtig. Das Volk zählte, also Rom als Ganzes, nicht der einzelne Römer.
Christen hingegen haben, genauso wie Gott, den einzelnen Menschen gesehen. Sie holten diese Kinder nachts ab und nahmen sie unter hohem finanziellen Aufwand in ihre Familien auf. Warum nachts? Weil es tagsüber gesellschaftlich nicht akzeptiert war. Es war klar, dass Christen diejenigen sind, die diese Kinder holen. Es kann auch sein, dass die Kinder nachts ausgesetzt wurden – so habe ich es gelesen und im Kopf behalten – und dass die Christen relativ zeitnah da waren.
Diese ganze Bewegung – zum Beispiel Krankenhäuser, Waisenhäuser und ähnliche soziale Einrichtungen – wurde im Wesentlichen gegründet, weil Menschen vom Evangelium erfasst waren. Die theologische Grundlage dafür war: Jeder einzelne Mensch ist Bild Gottes. Das verleiht uns eine Würde, unabhängig von Hautfarbe oder anderen Merkmalen.
Die Menschenwürde, von der heute so oft gesprochen wird, ist ein zutiefst christliches Denken. Sie hat unsere Gesellschaft geprägt. Das Evangelium war verantwortlich für viele soziale Errungenschaften. Wenn ich meinen Nächsten als Ebenbild Gottes begreife, hat das große Auswirkungen darauf, wie ich mit ihm umgehe.
Ist unsere Gesellschaft heute noch sozial? Ich glaube, wir haben noch viele Restbestände, die auf dieser Überzeugung beruhen: Der Mensch ist Gottes Ebenbild. Aber an dieser Überzeugung wird stark gerüttelt. Wer Gott ausblendet, verliert die Achtung vor dem einzelnen Leben. Das sieht man zum Beispiel bei der Abtreibung. In Deutschland werden jedes Jahr so viele Kinder abgetrieben, dass man von einer Großstadt voller Kinder sprechen kann, wenn man es überträgt. Weltweit sind es mehr als alle Kriege zusammen. Das ist Wahnsinn.
Und es soll noch weiter legalisiert werden. Der gefährlichste Ort ist mittlerweile der Mutterleib – oder die Unterstützung beim selbstgewählten Sterben. Es gibt zum Beispiel den sogenannten „Sarko“, einen Sarg, in den man sich legen kann, um dann unter einer Scheibe mit Stickstoff selbstbestimmt zu sterben – unter den Augen der Familie. Das zeigt: Wenn wir Gott aus unserem Leben hinausschieben, gehen auch die Dinge verloren, die zum Evangelium gehören. Zum Beispiel die Überzeugung, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist.
Damit ich jetzt nicht beim Negativen stehen bleibe: Ein Gegenentwurf zu dieser kälter werdenden Gesellschaft ist die Gemeinde. Gott hat die Gemeinde geschaffen, damit ich merke, dass ich den anderen brauche. Ich brauche ihn zum Trost, zur Ermutigung und zur Ergänzung. Und die Gemeinde braucht auch mich.
Gemeinsam achten wir darauf, dass auch der Schwächste seinen Platz findet und durchgetragen wird. Das ist Gemeinschaft, wie Gott sie sich vorstellt. Das ist die Botschaft des Evangeliums, die auch in der Kultur verankert war. Eine Gemeinde hilft mir außerdem, meinen Blick auf Jesus ausgerichtet zu halten. Sie hält mich im Training, Gottes Liebe weiterzugeben.
Vielleicht bin ich nicht derjenige, den alle so lieben, oder ich liebe nicht alle. Dann darf ich einfach wissen: Gott hat mich geliebt, und ich darf diese Liebe weitergeben und verschenken.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist das christliche Menschenbild, das im Gegensatz zur antiken Moral steht. Heute denken viele oft, das Evangelium sei ein Vorschriftenkatalog: „Das sollst du tun, das sollst du lassen.“ Wie war das aber in der Antike? Wie sah es dort aus, und welchen Einfluss hatte das Evangelium auf diesen Bereich?
Die Vorstellung vom Evangelium als Vorschriftenkatalog ist eine weit verbreitete Meinung. Gott wird oft als großer Spaßverderber dargestellt. Es ist schade, dass Christen dieses Vorurteil leider oft noch verstärken, anstatt durch ihr Leben zu zeigen, dass Gott der große Freudengeber ist. Persönlich erlebe ich, dass ich von Gott geliebt bin. In Dekern Paolo, Sankalatta 22 heißt es: „Jesus hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben.“ Durch diese Worte hindurch spürt man die Freude und Begeisterung.
Die antike Welt war dagegen nicht besonders moralisch. Die Moral damals war an die Götter gebunden. Diese Götter konnte man wie Menschen auch täuschen. Wichtig ist auch zu verstehen, dass die Menschen damals Schicksal erlebten. Sie glaubten, dass man daran sowieso nichts ändern konnte. Wenn ich in der Antike gelebt hätte, hätte ich mich bemüht, den Göttern wohlgesonnen zu sein oder zumindest, dass sie mir wohlgesonnen sind. Im Großen und Ganzen lag mein Schicksal aber in den Händen eines unpersönlichen Universums. So habe ich mich verstanden.
Jetzt kommt das Evangelium ins Spiel. Es sagt mir: „Du, es gibt einen Gott, der dich liebt.“ Es ist also nicht nur ein unpersönliches Universum. Dieser Gott hat einen Plan für dein Leben. Es ist nicht einfach ein blindes Schicksal, sondern Gott will dein Leben führen. Das bedeutet aber auch, dass ich Verantwortung für meinen Weg habe. Meine Entscheidungen machen einen Unterschied. Die Grundlage dieser Entscheidungen soll sein: „Was will Gott?“
Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Moral ist nicht eigenständig. Ich tue bestimmte Dinge nicht nur, weil man sie von mir erwartet, sondern weil ich dadurch Gott ehren möchte. Gott möchte, dass ich ihm aus Liebe nachfolge. Ein klassisches Beispiel dafür ist Römer 13: „Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ Es geht also nicht um einen Verhaltenskatalog, sondern darum, durch mein Handeln meine Liebe zu Gott und zum Nächsten auszudrücken.
Dabei ist nicht nur das Verhalten entscheidend, sondern auch die Motivation. Gott sagt sogar, dass Dinge, die ich nicht aus Liebe zu ihm tue, nichts wert sind. Wenn ich ohne Gott lebe, sehe ich Moral nur als Einschränkung und erkenne nicht, dass ich durch mein Leben Gott ehren kann.
Das ist die großartige Botschaft, die das Evangelium bringt: Gott liebt mich persönlich. Leider wird diese Botschaft heute oft verzerrt. Man hört: „Kümmere dich nur um dich selbst“ – ein extremer Individualismus. Das Evangelium sagt aber: Es geht um Gott, und dieser Gott liebt dich. Daraus wurde dann: Es geht nur um mich, um mein persönliches Wohl. Individualismus als Lebenskonzept ist das Gegenteil von der Liebe, von der das Evangelium spricht.
Diese Fehlentwicklung ist aus Gottes Sicht problematisch. Wir sprechen darüber, wie das Evangelium die Gesellschaft geprägt hat und wo wir heute stehen. Die Fehlentwicklung besteht darin, dass der von Gott persönlich geliebte Mensch sich selbst zum Mittelpunkt macht und dabei Gott vergisst. Das beschreibt auch Römer 1: Wenn du Gott nicht mehr anbetest, fällst du auf dich selbst zurück.
In der Antike gab es zwar viele Götter, doch diese waren oft unmoralisch, kämpften untereinander und interessierten sich letztlich nicht für die Menschen – nur, wenn sie bestochen wurden. Jeder machte am Ende, was er wollte. Der Gott wurde nur gelegentlich befriedigt, hatte aber mit dem Alltag wenig zu tun.
Heute haben wir einen persönlichen Gott mit einer linearen Geschichte, die auf ein Ziel hinführt. Dieser Gott geht auf den Einzelnen zu, liebt ihn und fordert dazu auf, auch andere zu lieben. Es ist nicht nur eine Masse von Menschen, die nebeneinander herlebt. Das ist ein großes Paket an Veränderungen, die durch das Evangelium bewirkt wurden.
Abschließend war ja noch der Bereich Identität dran: Was macht mich aus, und welchen Einfluss hat das Evangelium auf das Denken?
Wir haben bereits gesehen, dass in der Antike mehr die Familie oder das Volk im Vordergrund standen als das Individuum. Du hast richtig gesagt, dass meine Identität das ist, womit ich mich identifiziere. In der Regel war das dann die Gruppe, zu der ich gehörte, oder auch meine Erfolge. Es ging stark um Ehre und Ansehen als Lohn für das, was ich geleistet habe.
Das Evangelium setzt dem oft etwas entgegen, besonders in der Gesellschaft. Es sagt: Ich bin von Gott geliebt, egal was ich leiste. An dieser Liebe kann ich mich freuen. Identität in der Bibel entsteht nicht zuerst dadurch, was andere über mich sagen, sondern dadurch, was Gott über mich sagt.
Das ist ganz typisch zum Beispiel bei Johannes dem Täufer. Da kommen die Leute und fragen ihn: „Wer bist du?“ Sie geben ihm gleich einen Zettel zum Ankreuzen – etwa Elija, der Prophet oder sonst jemand. Johannes antwortet: „Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste.“ Er sagt also genau das über sein Leben, was Gott über ihn sagt.
Darf ich da kurz etwas einwerfen? Mir kommt gerade ein Gedankenblitz: Ist es nicht oft so, dass andere Leute mit so einem Zettel auf uns zukommen und sagen, wer wir sind? „Hier, Kreuzmann, du bist das oder das.“ Aber Johannes hat eine Identität, die in Gott ruht. Diese Identität entwickelt eine viel stärkere Kraft als alles andere, was letztlich nur von anderen hinzugefügt wird und sehr temporär ist und sich ständig ändern kann. Das war nur so ein Gedanke zwischendurch.
Diese grundsätzlichen Gedanken, über die wir gerade gesprochen haben, finden wir auch in unserer Kultur wieder. Wir sollten Menschen eben nicht nur nach ihrer Leistung beurteilen, sondern sie als Geschöpfe Gottes sehen. Das hängt eng mit dem Bereich Gesellschaft zusammen.
Es geht um die Frage: Woran mache ich meinen Wert fest? Nicht an dem Zettel, von dem du eben gesprochen hast. Ich glaube, es gab früher, als unsere Gesellschaft noch christlich geprägt war, immer den Kampf: Mache ich meinen Wert an meinem Ansehen, meinem Aussehen, Geld oder Erfolg fest? Oder mache ich ihn an Gott fest?
Je mehr das Evangelium aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verschwindet, desto stärker machen wir unseren Wert an Dingen fest, von denen Gott einmal sagen wird: „In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Was hast du bereitet, und für wen wird es sein?“
Wir haben uns jetzt einige Gedanken darüber gemacht, wie stark das Evangelium früher unsere Kultur geprägt hat. Dabei haben wir auch gesehen, dass dieser Einfluss inzwischen teilweise abgenommen hat. Immer wieder konnten wir erleben, dass Gottes Wort Kraft besitzt und den einzelnen Menschen persönlich verändert.
Zum Abschluss möchte ich noch etwas dazu sagen, was diese Erkenntnisse für uns persönlich bedeuten – also diese großen Zusammenhänge heruntergebrochen auf das einzelne Leben.
Zunächst hoffe ich, dass wir ein kleines bisschen klüger geworden sind. Ich selbst bin es jedenfalls nach den Ausführungen von Taylor Lars. Außerdem wünsche ich mir, dass wir uns von der Kraft Gottes Wortes beeindrucken lassen, wie es eine ganze Kultur zum Positiven prägen kann. Wenn Gottes Wort das mit einer ganzen Kultur bewirken kann, dann kann es auch mein Leben verändern und prägen.
Wenn bei uns so wenig von Gottes Handschrift sichtbar ist, dann liegt das ganz sicher nicht am Wort Gottes. Deshalb, wenn wir uns darüber Gedanken gemacht haben, sollten wir uns neu auf Gottes Wort einlassen. Wir dürfen damit rechnen, dass Gott uns durch sein Wort und seine Kraft verändert – so, wie er es mit der ganzen Kultur getan hat.
Dazu gehört auch, mich zu fragen, warum Gottes Prägung abgenommen hat. Das, was wir im Großen gesehen haben, gilt es jetzt auch für mich persönlich zu hinterfragen: Habe ich vielleicht meinen Verstand über Gottes Möglichkeiten gestellt? Nach dem Motto: Das kann Gott gar nicht tun, weil ich es mir nicht vorstellen kann? Oft sind wir ja auch praktisch in solchen Gedanken gefangen.
Oder ist mein Christsein vielleicht nur noch Pflicht und nicht mehr von Liebe geprägt? Dann kann ich nur bitten und sagen: Gott, verändere mich! Und wenn ich dieses Gebet ernst meine, dann muss ich auch konkrete Schritte in meinem Alltag gehen. Aber dann werde ich auch erleben, wie Gott mein Leben verändert.
Mit dem Gedanken, dass Gottes Wort sogar eine Kultur prägen kann, verabschieden wir uns heute wieder von euch, unseren treuen Hörern. Wir hoffen, wir konnten euch motivieren, euch auf Gottes Wort einzulassen und daran zu glauben, dass es diese Kraft und Veränderung hat. Rechnet also damit, dass Gott durch sein Wort auch euer Leben prägt.
Wenn ihr Fragen habt, über die wir sprechen sollen, oder Anmerkungen zum Podcast, schreibt uns gern unter podcast@efa-stuttgart.de. Wir wünschen euch Gottes Segen und dass ihr seine Kraft immer wieder ganz praktisch erlebt.