Eröffnung und Nachtrag zur Hexenverfolgung
Am Anfang möchte ich noch einmal mit euch beten. Vater im Himmel, wir möchten dich bitten, dass du diesen Abend gebrauchen kannst, dass du mir die richtigen Worte gibst und dass wir deine Geschichte mit uns als Menschen besser verstehen. Außerdem bitten wir, dass wir daraus für unser eigenes geistliches Leben heute Abend profitieren können. Amen.
Wenn ihr euch an den letzten Abend erinnert, an dem wir hier Kirchengeschichte behandelt haben, dann erinnert ihr euch sicherlich auch daran, dass ich am Ende etwas Stress hatte, rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb möchte ich noch eine kleine Ergänzung zur Hexenverfolgung geben. Mir ist im Nachhinein aufgefallen, dass ich eine Geschichte begonnen habe zu erzählen, sie aber im Kopf schon zu Ende erzählt hatte, ohne dass sie bei euch angekommen ist.
Wenn ihr euch noch erinnert: Ich hatte euch erzählt, dass es in Süddeutschland einen Fall gab, bei dem ein Mann seine eigene Frau der Hexerei angeklagt hat. Sie wurde daraufhin festgenommen. Das Ende der Geschichte habe ich euch aber nicht erzählt. Die Frau wurde verhört und auch gefoltert – wie man das damals üblichweise machte. Das geschah in verschiedenen Stufen. Zunächst sollte es genügen, die Folterinstrumente zu zeigen. Manche Frauen gaben daraufhin zu. Sie sagten: „Ich bin keine Hexe.“ Doch wenn man ihnen die Folterinstrumente zeigte, wie das Streckeisen und andere, sagten einige dann: „Ja, ich bin eine Hexe.“ Damit war das Verfahren für diese Frauen beendet. Andere wurden tatsächlich gefoltert.
Schließlich meldete sich eine Frau und sagte, sie sei die Freundin des Mannes. Dadurch fiel der Verdacht gegen die Angeklagte zusammen, und der Mann wurde eingesperrt. Es war einfach die Idee dieses Ehemannes, der wieder heiraten wollte. Damals war Scheidung verboten, also wollte er seine Frau loswerden und klagte sie der Hexerei an. Wenn alles glattgegangen wäre, hätte er damit gerechnet, dass sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird – und er wieder heiraten kann. Man muss sagen, das war ziemlich skrupellos.
Gerade in der späteren Phase der Hexenverfolgungen gab es solche Fälle häufiger. Leute klagten andere an, weil sie wirtschaftliche Konkurrenten waren. Zum Beispiel: Der Bäcker um die Ecke verkauft mehr Brötchen. Dann sagt man: „Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen, der muss zaubern.“ Zack, Zauberei, verbrannt – und dann kaufen alle bei dir, weil es keine Alternative mehr gibt. Solche Fälle gab es, aber das war Missbrauch.
Es ist jedoch wichtig zu sagen, dass man in der Anfangsphase der Hexenverfolgungen ehrlich nach Hexen und Zauberei suchte und die Leute verurteilte.
Eine weitere Ergänzung ist ebenfalls wichtig: Wenn euch jemand auf der Straße sagt, „die bösen Christen haben die Hexen verbrannt“, dann ist das sachlich nicht richtig. Die Kirche durfte im ganzen Mittelalter eigentlich keine Leute verbrennen. Das wäre so, als wenn heute jemand die Todesstrafe vollzieht – das geht nicht. Das Gewaltmonopol lag damals beim Staat. Hexen wurden also vom Staat verurteilt.
Allerdings gab es damals staatliche Gesetze, die Hexerei verboten. Das war seit Karl dem Großen so. Er sagte: „Hexerei ist nicht von Gott, sondern eine Verführung durch den Teufel.“ Deshalb wurde Hexerei ins Grundgesetz aufgenommen. Wer bei Hexerei erwischt wurde, sollte hingerichtet werden. Das war also im deutschen Recht festgeschrieben.
Die Kirche hatte meist nur die Funktion eines Sachverständigen. Man fragte: Wer kann bestimmen, ob jemand eine Hexe ist oder nicht? Dafür waren die Christenspezialisten, also die Kirche, zuständig. In den allermeisten Fällen lief es so ab: Jemand wurde angeklagt, ging dann zu einem Inquisitor. Der erklärte, ob jemand Hexe oder Hexer ist. Dann wurde die Person eingekerkert, meist im Stadtgefängnis.
Danach holte man einen Sachverständigen, der den gesamten Prozess begleitete und Fragen stellte, um herauszufinden, ob die Person wirklich eine Hexe war oder nicht. Am Ende sagte jemand: „Ja, das ist eine Hexe.“ Damit war das Urteil gesprochen: Verbrennen.
Man muss also sehen, dass damals Staat und Kirche stark ineinandergriffen, weil der Staat sich auch als religiöse Instanz begriff. Dies war noch in der Zeit des Hochmittelalters.
Scholastik und geistliche Bewegungen im Hochmittelalter
Im Hochmittelalter entwickelte sich die Scholastik. Zum ersten Mal versuchte man, ausführliche Dogmatiken systematisch zu beschreiben. Das ist eine sehr wertvolle Errungenschaft. Besonders lesenswert sind bis heute die Werke von Thomas von Aquin. Wenn man zum Beispiel mit Atheisten über Gott spricht, kann man auf seine Argumente zurückgreifen, um Gott zu beweisen.
In dieser Zeit machten sich Christen zum ersten Mal ernsthafte Gedanken darüber, wie man den Menschen einen plausiblen Gott erklären kann. Besonders bekannt sind die fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin. Nicht alle sind uns heute noch vollkommen überzeugend, aber sie sind bis heute Gegenstand von Diskussionen. Selbst in evangelikalen Büchern über Atheismus findet man diese Gottesbeweise wieder.
Ein weiterer bedeutender Denker war Anselm von Canterbury. Auch er beschäftigte sich mit der Frage, wie man den Menschen zeigen kann, dass es Gott gibt. Dabei stellte er sich die Frage, was zuerst kommt: der Glaube oder das Denken? Bis vor etwa zwanzig Jahren glaubten viele, dass zuerst das Denken kommt. Das, was sich beweisen lässt und was die Wissenschaft festgestellt hat, galt als sicher. Der Glaube hingegen wurde als unsicher, persönlich und als Meinung betrachtet.
Anselm von Canterbury brachte eine hochmoderne Sichtweise zum Ausdruck mit dem Satz: Credo ut intelligam – „Ich glaube, um verstehen zu können“. Die moderne Erkenntnistheorie bestätigt genau das. Sie besagt, dass selbst die Wissenschaft auf Annahmen und Paradigmen beruht, die nicht bewiesen werden können und die man als Denkvoraussetzung akzeptieren muss – also gewissermaßen glauben muss.
Das bedeutet, dass es wissenschaftliches Wissen, das eindeutig ist, eigentlich nicht gibt. Alles Wissen beruht immer schon auf Glauben. Diese Erkenntnis hatte Anselm von Canterbury bereits vor tausend Jahren. Das zeigt, wie wertvoll christliche Denker gerade in intellektuellen Auseinandersetzungen sein können.
Ich kann hier nur diese beiden Beispiele nennen. Würde ich ins Detail gehen, wären wir heute noch bei der Scholastik und kämen nicht zur Gegenwart.
Neben der Scholastik gab es auch bedeutende Armutsbewegungen, wie die von Franz von Assisi. Er war ein beeindruckender Mensch, der eine tiefgreifende und glaubwürdige Bekehrung erlebt hat. Ursprünglich war er ein Lebemann, der sich um nichts kümmerte. Er wurde in den Krieg gegen Perugia gezogen, eine Nachbarstadt. Dort geriet er in Gefangenschaft. Während dieser Zeit, in der er nur Wasser und Brot erhielt, begann er über Gott nachzudenken und erlebte seine innere Bekehrung.
Diese Erfahrung veränderte ihn völlig. Kurz nach seiner Rückkehr starb sein Vater. Franz von Assisi verschenkte daraufhin sein gesamtes Erbe an die Armen auf der Straße. Sein Vater war ein wohlhabender Tuchhändler gewesen. Franz sagte, Gott habe ihn reich gemacht, aber er wolle nun so leben wie Jesus – ohne Reichtum.
Er baute draußen vor der Stadt mit eigenen Händen kleine Kapellen. Dort lebte er mit den Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen: Leprakranke, völlig verarmte Menschen, die Geschwüre hatten. Er ging sogar so weit, ihre Wunden zu küssen, um seine Liebe zu zeigen. Das beeindruckte die Menschen sehr. Diese wurden sonst ausgegrenzt, durften die Stadt nicht betreten und wurden schlecht behandelt. Franz von Assisi zeigte ihnen die Liebe Jesu ganz praktisch und lebte mit ihnen zusammen. Er kehrte nicht in den Luxus der Stadt zurück, sondern blieb bei den Armen.
Einmal wurde er sogar vor den Papst zitiert. Der Papst war zunächst verärgert, weil er befürchtete, Franz von Assisi würde fordern, dass auch die Kirche arm sein müsse. Tatsächlich hatte Franz das gefordert. Der Papst hatte Berater, die ihm rieten, Franz zum Schweigen zu bringen, sonst drohe ihm der Scheiterhaufen. Der Papst selbst war reich und wollte das nicht aufgeben.
Franz von Assisi antwortete darauf, dass manche zur Armut berufen seien. Der Papst konnte darauf erwidern, dass er nicht zur Armut berufen sei und Franz arm bleiben solle, während er selbst reich bleibe. So konnten sie zusammenleben.
Einige Jahre zuvor gab es einen ähnlichen Ansatz, bei dem gefordert wurde, der gesamte Klerus solle arm sein wie Jesus. Diese Bewegung endete jedoch mit der Hinrichtung der Führer. Franz von Assisi hingegen wurde akzeptiert, weil er selbst arm lebte, aber anderen diese Lebensweise nicht vorschrieb.
Damals war das eine radikale Veränderung. Franz von Assisi versuchte, den Menschen wirklich nahe zu sein. Auch die späteren Orden wie die Dominikaner predigten bereits in der Volkssprache, noch bevor Luther dies tat. Sie wollten das Evangelium den Menschen verständlich machen.
In dieser Zeit wurden auch die ersten Teile der Bibel in die einheimischen Sprachen übersetzt. Das geschah zwar nur in Handschriften und nicht vollständig, aber es war ein Anfang. Diese Reformen innerhalb der Kirche veränderten zwar nicht die gesamte Kirche, aber doch Teile davon.
Sicherlich glaubten die Menschen damals manches, was wir heute nicht mehr so sehen. Aber das ist vergleichbar mit den Unterschieden zwischen Baptisten, Mennoniten, Methodisten und Lutheranern heute. Gläubig waren sie dennoch, soweit wir das beurteilen können.
Kirchenspaltung und politische Macht im Mittelalter
Eine ganz wichtige Sache, die in dieser Zeit entstand, ist das Jahr 1054. Ich weiß nicht, ob ihr wisst, was in diesem Jahr Wichtiges passiert ist. Also, es ist ja ganz klar und selbstverständlich: Im Jahr 1054 fand das große Schisma statt. Jetzt seid ihr klüger, oder? Ich kann es euch auch noch etwas anders erklären.
Im Jahr 1054 gab es die erste große Trennung in der Kirche. Dabei entstanden die orthodoxen Kirchen. Das war ein tiefer Einschnitt, denn vorher hatten sich alle Kirchen des römischen Reiches über tausend Jahre hinweg als eine Kirche verstanden. Jetzt war es das erste Mal, dass eine Gruppe auf die Idee kam, eine eigene Kirche zu gründen. Das war eigentlich vollkommen revolutionär.
Allerdings waren die Motive nicht ganz so rein, wie es manchmal bei Kirchenspaltungen der Fall ist. Bei Luther war es ja eher eine klare Sache, aber hier war es zunächst rein politisch. Natürlich wurden auch ein paar theologische Gründe gefunden, so wie das bei den meisten Gemeindespaltungen der Fall ist. Wenn man lange genug sucht, findet man immer irgendwelche theologischen Unterschiede, die man verteidigen kann, auch wenn sie eigentlich nicht grundlegend genug wären.
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Gemeindespaltung nicht weit von hier. Die hatten sich an der Frage gespalten, ob man beim Abendmahl Wein oder Traubensaft benutzt. Die einen sagten, nur Wein sei erlaubt, weil Jesus Wein genommen hat. Das führte zu einem Streit. So etwas gibt es also auch.
Ich will euch jetzt keine neue Idee geben, wie ihr eine neue Gemeinde gründen könnt. Versteht das nicht falsch. Ich will eher sagen, dass solche Konflikte oft sehr menschlich sind.
Wie kam es also zu dieser Spaltung? Der Papst zu der Zeit, der in Rom residierte, hatte mal wieder einen Anfall von Größenwahn. Er ging davon aus, er sei der absolute Führer. Das gefiel aber dem Metropoliten in Konstantinopel, also im Osten, nicht. Der sagte: Nein, das sehe ich nicht so. Ich bin mindestens genauso wichtig wie der Papst in Rom.
Daran sieht man auch, dass die Kirche damals noch nicht wirklich geeint war. Dann suchte man nach weiteren Streitpunkten. Zum Beispiel bei der Bekreuzigung: Die einen machen sie von rechts nach links, die anderen von links nach rechts. Das war ein wichtiger Punkt, denn man konnte nicht akzeptieren, dass die andere Seite es „falsch“ machte.
Ein weiterer Streitpunkt war das Glaubensbekenntnis. Ursprünglich stand dort, dass der Heilige Geist vom Vater ausgeht. Die westliche Kirche, also die heutige katholische, fügte hinzu: „und vom Sohn“. Die östliche Kirche sagte daraufhin, die Westkirche verfälsche das Glaubensbekenntnis. Deshalb seien sie Irrlehrer, und die östliche Kirche bleibe beim ursprünglichen, „reinen“ Glaubensbekenntnis. Das war der zweite Grund für die Spaltung.
Es gab noch einige weitere, eher unwichtigere Streitpunkte. Dabei ist eigentlich klar, dass bei der Dreifaltigkeit der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgeht – das macht eigentlich keinen großen Unterschied. Aber wie gesagt: Wenn man will, findet man immer etwas.
Rein äußerlich war es dann so, dass der Papst einen Gesandten nach Konstantinopel schickte, um die Streitpunkte zu klären. Dieser Gesandte hielt sich für so wichtig, dass er, obwohl er keine Legitimation dafür hatte, den Bischof von Konstantinopel exkommunizierte. Er berief sich dabei auf seine Vollmacht als Vertreter der katholischen Kirche.
Der Bischof von Konstantinopel fühlte sich natürlich auf den Schlips getreten. Er reagierte, indem er im selben Gottesdienst den Papst von Rom exkommunizierte. So exkommunizierten sie sich gegenseitig, und das blieb so bis vor etwa hundert Jahren.
Bis vor wenigen Jahrzehnten exkommunizierten sich die beiden Kirchen gegenseitig, und damit war die Trennung besiegelt.
Interessant ist, dass der Gesandte diese Exkommunikation sogar ohne Rücksprache mit dem Papst vornahm. Er hatte keine Telefonverbindung nach Rom und handelte aus eigener Vollmacht. Wahrscheinlich wäre es sonst nicht so weit gekommen, denn das war sicher nicht im Interesse des Papstes.
Nach dieser Spaltung nannten sich die katholischen Kirchen erst richtig katholisch. „Katholisch“ bedeutet so viel wie „allgemein“. Damit wollten sie ihren Anspruch unterstreichen: Wir sind die Allgemeine, die Ursprüngliche. Wir sind die umfassende Kirche, die auf der ganzen Welt vertreten ist. Wir haben die Vollzahl der Sakramente und die Fülle der Segnungen Gottes. So versteht sich die katholische Kirche bis heute.
Die orthodoxen Kirchen antworteten darauf, indem sie sich „orthodox“ nannten. „Orthodox“ bedeutet „rechtgläubig“ – also Gott richtig anbeten. Damit sagten sie: Wir sind die Rechtgläubigen, und die anderen sind falschgläubig.
Bis heute besteht dieser Anspruch in offiziellen Verlautbarungen. Zum Beispiel im Dokument Dominus I, das 2002 herausgegeben wurde. Damals war der heutige Papst Vorsteher der Glaubenskongregation. In diesem Dokument heißt es, es gibt nur eine Kirche, und das ist die katholische. Alles andere seien nur religiöse Gemeinschaften, die aufgrund der Machtvollkommenheit der katholischen Kirche auch ihre Gottesdienste feiern dürfen.
Damit waren vor allem die evangelischen und orthodoxen Kirchen gemeint. Die Orthodoxen ließen sich das nicht gefallen. Nur wenige Monate später gab der Patriarch von Moskau eine Erklärung heraus, in der er sagte, es gibt nur eine wahre Kirche – und das sind natürlich die Orthodoxen.
So bestätigten sich beide Seiten gegenseitig: „Wir sind die Wahren!“
Die evangelischen Kirchen sind in ihrem Auftreten meist weniger selbstbewusst. Sie haben vor einigen Jahren ein Abkommen mit der katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre geschlossen. Dabei haben sie einen Teil ihrer Rechtfertigungslehre fallen gelassen. Über das, wofür Luther gekämpft hat, sagt man nun: Ach, so wild ist das doch nicht. Kommen wir überein, um gemeinsam voranzukommen.
Eigentlich gab es vorher auch schon unabhängige Kirchen, nur keine Spaltungen. Ich habe euch ja gesagt, zum Beispiel die Kirchen in Äthiopien, China oder Indien. Diese waren nicht katholisch. Die katholische Kirche beziehungsweise ihre Vorläufer waren lediglich die Kirche im römischen Reich. Diese Kirche war bis zur Trennung 1054 einheitlich. Nach der Trennung entstanden zwei Teile, die bis heute bestehen.
Das hing auch damit zusammen, dass es damals keine einheitliche Regierung gab. Es gab zwar einen weströmischen Kaiser beziehungsweise die Germanen, und den oströmischen Kaiser in Byzanz. Dort residierte der Patriarch von Konstantinopel beziehungsweise Byzanz.
Der Papst hatte damals keine militärische Macht. Er war abhängig von den germanischen Stämmen und Königen. Diese hatten keine Lust, nach Byzanz zu ziehen, um für den Papst zu kämpfen. Sie hatten genug eigene Probleme.
Zur Zeit Luthers war die politische Situation anders. Der Kaiser, Karl V., war dem Papst verpflichtet. Er wurde auch vom Papst gewählt. Deshalb gab es auch militärische Auseinandersetzungen.
Hier war die politische Ausgangslage also eine andere. Und die politische Macht des Papstes war damals noch zu gering. Das war auch ein wichtiger Faktor in dieser Zeit.
Leben im Mittelalter und Vergleich zum 19. Jahrhundert
Es gäbe noch vieles über das Mittelalter zu berichten. Manche haben den Eindruck, das Mittelalter sei einfach eine etwa tausend Jahre lange Zeit irgendwo dazwischen gewesen, in der nicht viel passiert sei – außer dass es dunkel gewesen sei. Ich hoffe, man hat schon ein wenig gemerkt, dass es damals nicht dunkler war als heute. Man hat manche Dinge anders gesehen und andere wiederum anders gehandelt.
Wir müssen nur immer aufpassen, dass wir nicht mit falschen Maßstäben daran messen. Schnell denken wir: „Hier haben sie Menschen umgebracht“, und vergessen dann, dass es wahrscheinlich keine mörderischere Zeit gab als das zwanzigste Jahrhundert. Wenn es gerade um Morde wegen Nichtigkeiten geht, ist das 20. Jahrhundert bisher unübertroffen – nicht nur, weil es damals viel mehr Menschen gab, sondern auch, weil man noch viel brutaler war als in den meisten Jahren zuvor.
Was vergessen wir sehr schnell? Wir schauen auf das, was früher war, und übersehen, was gegenwärtig oder erst vor kurzer Zeit passiert ist. Ich werde allerdings nicht weiter darauf eingehen, weil die Zeit fehlt. Es ließe sich durchaus spannend und im Detail nachgehen und auch sehen, wie die Menschen damals gelebt haben.
Ich habe zwischendurch erwähnt, dass die Menschen zur Blütezeit des Hochmittelalters eine höhere Lebenserwartung hatten als im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland. Häufig hat man nicht den Eindruck davon. Man denkt ja, es müsse immer eine Aufwärtsentwicklung geben – doch das war nicht so. Im neunzehnten Jahrhundert war es für den Normalteil der Bevölkerung in Deutschland unvorstellbar gut.
Wenn man heute in ein Museum geht, sieht man dort die Möbel und Wohnungseinrichtungen des gehobenen Bürgertums, der Fabrikanten oder der Adligen. Diese geben natürlich ein völlig falsches Bild. Denn diese Gruppen machten maximal zehn Prozent der Bevölkerung aus. Die übrigen neunzig Prozent lebten in so großer Armut, dass sich manche wahrscheinlich eher nach dem Mittelalter gesehnt hätten – vorausgesetzt, sie hätten gewusst, dass es so etwas mal gab.
Denn in dieser Zeit gab es keine Schulbildung. Wir erinnern uns daran, dass Leute wie Bismarck – und auch schon vor ihm – die Schulbildung erst einführten. Damals wurde auch Kinderarbeit verboten. Vorher war Kinderarbeit üblich, vielleicht ab sechs Jahren, zum Beispiel im Bergwerk. Die Kinder waren mit zwölf Jahren oft körperlich kaputt. Auch Weberkinder mussten früh sehr lange arbeiten, oft zwölf Stunden am Tag. Natürlich starben sie früh. Sozial- und Rentenversicherung gab es nicht.
Vielleicht komme ich beim 19. Jahrhundert noch etwas näher darauf zurück. Ich wollte nur sagen: Im Vergleich zum Mittelalter gab es viele Zeiten, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte, in denen es den Menschen materiell und von der Lebenserwartung her besser ging als im 19. Jahrhundert.
Das lässt sich natürlich nie flächendeckend sagen, aber generell gab es im 19. Jahrhundert viele Infektionskrankheiten und sehr schlechte Lebensbedingungen. Man kann sagen, das 19. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich ähnelte dem heutigen Zustand mancher Entwicklungsländer, die gerade eine industrielle Revolution durchmachen.
Wenn man in manche Gegenden Chinas reist – ich kenne das nur aus der Ferne, aus Zahlen –, sieht man Arbeiter, die für etwa zwanzig Cent pro Stunde unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten müssen. Häufig ist das Sozialsystem dort besser ausgebaut als damals in Deutschland, aber viele Menschen leben in slumähnlichen Verhältnissen. Ähnliches gilt für Teile Südamerikas und Afrikas. Dort kommt es auch darauf an, in welchem Land man ist.
Gerade dort, wo wirtschaftlicher Aufbruch herrscht, partizipieren nicht alle daran. Dadurch geht es einem Teil der Bevölkerung sogar schlechter. Das nur am Rande. Wer mehr darüber lesen möchte, dem kann ich ein paar Bücher empfehlen, die detailliert beschreiben, wie die Menschen damals lebten.
Wenn ihr Romane mögt, empfehle ich zum Beispiel Charles Dickens, der das Leben im England des 19. Jahrhunderts beschreibt. Eines meiner Lieblingsbücher von ihm ist „Little Dorrit“. Vielleicht kennt ihr es, sonst lest es einmal. Es ist eine sehr schöne Geschichte, die auch moralisch geschrieben ist. Die Helden sind nicht einfach gut oder böse, sondern die Guten bleiben selbst in Armut treu zu den Ordnungen Gottes. Nebenbei beschreibt Dickens, wie die Leute wirklich lebten.
Oder ihr lest im Französischen Émile Zola. Er hat eine ganze Reihe von Büchern geschrieben, insgesamt über 10 Bände mit vielen kleinen Abschnitten. Vor kurzem habe ich gelesen, wie er das Leben der Fischer in der Bretagne beschreibt, die in Armut lebten. In einem anderen Buch, „La Bête Humaine“ („Das Tier im Menschen“), schildert er das Leben der Menschen in Paris im 19. Jahrhundert.
Bodelschwingh, der die Bielefelder Anstalten gründete, war vorher Armenprediger in Paris, bevor er hier berufen wurde. Er betreute deutsche Gastarbeiter, die in den Slums vor Paris lebten. Damals ging es in Deutschland schlecht, wie manchmal schon in der Vergangenheit. Viele Menschen wanderten aus, um lieber in Paris die Straßen zu fegen, als in Deutschland zu verhungern. Um diese kümmerte sich Bodelschwingh, weil sonst niemand da war.
Später kam er nach Bielefeld und kümmerte sich um Behinderte, die man auf der Straße liegen ließ, weil sich sonst niemand um sie kümmerte. Das war seine Aufgabe – und das alles unentgeltlich.
Das nur am Rande. Das Mittelalter war also nicht ganz so schlimm – zumindest nicht in allen Fällen.
Übergang zur Reformation und gesellschaftliche Umbrüche um 1500
Ich möchte nun langsam zur Reformation übergehen. Dafür ist es wichtig, zunächst einen kurzen Blick zurückzuwerfen: Was geschah im 15. Jahrhundert? Wir wissen, dass die Zeit des Mittelalters etwa von 500 bis 1500 reicht. Um das Jahr 1500 herum beginnt die Neuzeit – natürlich nicht genau in diesem Jahr, aber in dieser Zeit fanden in Europa bedeutende Veränderungen statt.
Eine dieser Veränderungen war die Reformation, die 1517 mit dem Thesenanschlag Luthers begann. Etwa 80 bis 90 Jahre zuvor begann eine andere wichtige Entwicklung: die Entdeckung der Welt. Durch die Berührung mit dem Islam und die Kreuzzüge entstand im 13. Jahrhundert der Eindruck, dass es noch mehr gibt als das bekannte Europa. Im 15. Jahrhundert wurde man mutiger und begann, Grenzen zu überschreiten. Die Entdeckung Amerikas war dabei nur ein kleines Detail. Eigentlich wusste man von Amerika zunächst nichts, sondern suchte einen Seeweg nach Indien. Schon Jahrzehnte zuvor war man an der afrikanischen Küste entlanggefahren, bis zum Süden, nach Kapstadt. Man kannte auch Landwege, zum Beispiel durch Russland bis nach Japan, um dort Seidenraupen zu besorgen.
Bekannte Reisende wie Marco Polo legten weite Strecken über Land bis nach China zurück und berichteten darüber in ihren Tagebüchern. Auch später entstanden Romane, wie „Seide“ von Barelio, die solche Reisen beschreiben. Die Entdeckungen führten zu der Erkenntnis, dass es nicht nur die katholische Kirche und Europa gibt, sondern viel mehr. Das erzeugte eine Aufbruchstimmung.
Die Reformation traf genau in diese Zeit des Aufbruchs. Ähnlich wie bei Jesus, dessen Kommen vorbereitet wurde – auch wenn man Jesus nicht mit Luther vergleichen kann – scheint Gott seine Handlungen in der Weltgeschichte vorzubereiten. Hier war die Kirche reif für eine grundlegende Veränderung. Die Ausweitung der Welt durch Seefahrt und Entdeckungen war eine Vorbereitung dafür.
Ein Höhepunkt dieser Zeit war die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492. Doch schon davor gab es viele andere Entdeckungen. Neben der Entdeckung gab es jedoch auch eine große Angst. Um 1500 herrschte bei den Menschen eine riesige Furcht, die verschiedene Ursachen hatte.
Ein Grund war die Angst vor dem Neuen, das mit den Entdeckungen verbunden war. Die Menschen wussten nicht, was sie erwartete. Es kursierten Bücher über sogenannte Anthropoden – menschenähnliche Wesen mit nur einem Fuß, die darauf hüpfen sollen. Man glaubte, dass solche Wesen dort lebten. Außerdem gab es Berichte über schreckliche Kreaturen, die irgendwo jenseits der Berge hausten. Diese fremden Welten lösten nicht nur Neugier, sondern auch Angst aus. Europa fühlte sich zwar sicher, doch dahinter lag eine bedrohliche Welt.
Ein weiterer Angstfaktor war der Islam. Lange Zeit hatte man mit dem Islam relativ friedlich gelebt, doch es gab große Auseinandersetzungen. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern war ein Beispiel dafür, als man gegen die Muslime kämpfte, die bis nach Südfrankreich vorgedrungen waren. Spanien war unter den Mauren muslimisch besetzt, doch im Zuge der Reconquista wurde das Land innerhalb von etwa 150 Jahren zurückerobert. Die christlichen Heere vertrieben die Mauren nach und nach, bis nur noch die Alhambra in Granada übrig blieb. Schließlich wurden auch sie vertrieben und nach Nordafrika zurückgedrängt.
Bis heute zeugen maurische, also arabische, Einflüsse in der Architektur Spaniens von dieser langen Besetzung. Während der Rückeroberung Spaniens stießen die Spanier auch nach Marokko vor und eroberten dort weiter. Diese Rückeroberung war eine Initialzündung für die Entdeckung der Welt. Der Drang, vorwärts zu stürmen und neues Land zu erobern, führte dazu, dass Schiffe ausgesandt wurden, um neue Gebiete zu entdecken – eine direkte Fortsetzung der Reconquista.
Trotz der Rückschläge in Spanien drangen die Muslime im 15. Jahrhundert über den Balkan wieder vor. Das Oströmische Reich, Byzanz, wurde 1450 von den türkischen Heeren erobert. Damit fiel die letzte Bastion. In den folgenden Jahrzehnten wurden Bulgarien, Albanien und das heutige Ungarn erobert. Ende des 15. Jahrhunderts standen die Türken vor Wien, das damals zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte.
Stellen wir uns vor, wir lebten damals in Deutschland, zu dem Wien gehörte. Die Türken standen im eigenen Land, und man hörte von ihnen, dass sie grausam seien, keine Gnade zeigten und Christen töteten. Das erzeugte große Angst: Die Türken könnten bald auch bei uns sein, unsere Häuser niederbrennen und uns umbringen. Diese Furcht war real und wurde durch die Geschichte immer wieder bestätigt.
Neben den Muslimen gab es auch Judenverfolgungen. Unter den Muslimen hatten Juden damals oft größere Freiheiten als unter den Christen. Doch in Spanien herrschte eine fanatische katholische Haltung. Isabella von Kastilien, die Königin jener Zeit, nannte sich die „Allerkatholischste“. Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien vereinten ihre Königreiche durch Heirat und schufen so das moderne Spanien.
In der Nähe von Madrid kann man heute den Escurial besuchen, einen Palast, den sie bauen ließen. Er drückt ihr Selbstverständnis aus: Der Escurial ist wie eine Festung – mit großen Mauern und einer Kirche in der Mitte. Anders als im späteren Absolutismus, wo der König sich als Staat verstand, war hier klar: Die Kirche, der Glaube, ist der Staat. Die Könige besuchten täglich die Messe und kleideten sich eher schlicht, um ihren Glauben zu betonen – allerdings mit einem gewissen Fanatismus.
Das führte dazu, dass man nicht nur gegen die Muslime, sondern auch gegen die Juden scharf vorging. Viele Juden gingen in den Untergrund, gaben äußerlich ihren Glauben auf, blieben aber innerlich Juden. Das war für die Zukunft problematisch.
Die Angst vor den Muslimen war groß. Die Türken standen vor Wien, und diese Bedrohung nutzte Gott auch. Karl V., der Herrscher, mit dem Luther zu tun hatte, war damals ein junger Mann. Er war spanischer König und wollte auch die deutsche Kaiserkrone. Diese erwarb er durch Bestechung der Kurfürsten, die den Kaiser wählten. Die Fugger, große Geldgeber, unterstützten ihn dabei.
In Deutschland gab es nämlich kein Erbkönigtum, sondern ein Wahlkönigtum. Die Kurfürsten hatten viel Macht und konnten sich gegen den Kaiser stellen. So konnte beispielsweise Friedrich der Weise Luther schützen.
Interessant ist auch, dass Karl V. kein Deutsch sprach und einen Dolmetscher brauchte, der Spanisch ins Deutsche übersetzte. Er war gleichzeitig Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, zu dem viele Gebiete gehörten: Teile Italiens, Österreich, Deutschland, die Niederlande und Spanien mit seinen Kolonien in der Neuen Welt. Das war eine enorme Machtfülle.
Vor einem Mann wie Karl V. stand Luther. Das war nicht irgendwer, sondern der mächtigste Herrscher der damaligen Welt. Ein Fingerschnipsen von Karl V. hätte Luther zu Fall bringen können. Umso beeindruckender ist es, wie Luther standhaft blieb.
Damals bedeutete Obrigkeit noch mehr als heute. Doch bevor ich weiter darauf eingehe, bleibe ich bei der Angst. Neben den Türken und Muslimen machte den Menschen noch etwas anderes große Angst: die Pest.
Die Pest hatte in den zwei Jahrhunderten zuvor immer wieder Europa heimgesucht. Regional starb ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung. Das war eine nie dagewesene Katastrophe. Selbst der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen forderten prozentual weniger Opfer.
Ohne moderne Medizin konnten die Menschen nichts gegen die Pest tun. Es gibt Berichte, wie unterschiedlich die Menschen darauf reagierten: Manche sagten, lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot. Andere wurden ultrareligiös, da sie die Pest als Strafe Gottes betrachteten. Priester forderten mehr Gebete und Opfer.
Es entstand eine Welle von Wallfahrten, eine Art Tourismus des Glaubens. Hunderttausende pilgerten zu Orten wie Köln, Trier zum Heiligen Rock, Rom, Mont Saint Michel oder Santiago de Compostela. Man hoffte auf Gottes Gnade.
Es gab auch die sogenannten Geißler, die 33 Tage umherzogen – so lange, wie Jesus gelitten hatte. Sie wollten sich vor Gott demütigen, damit er die Pest von ihnen nehme. Sie sangen Lieder, peitschten sich selbst, bis Blut floss, als Zeichen der Selbstdemütigung und des Opfers. Hunderte zogen von Stadt zu Stadt. Das war eine religiöse Übung, um Gnade zu erlangen.
So können wir vielleicht auch das Anliegen Luthers verstehen, der Gnade vor Gott suchte. Heute ist das für viele Menschen schwer nachvollziehbar. Der moderne Mensch muss erst überzeugt werden, dass er sündig ist. Damals war es selbstverständlich, dass Gott allmächtig ist, der Mensch vor ihm gerichtet wird und Gott zornig sein kann.
Die Pest wurde nicht nur als Krankheit, sondern als Strafe Gottes verstanden. Die Reaktion darauf war unterschiedlich. Man trug lange Schnäbel, in denen Weihrauch und Kräuter verbrannt wurden, weil man glaubte, die Pest werde durch die Luft übertragen. Das half natürlich nicht, denn die Pest wurde durch Flöhe auf Ratten übertragen.
Die hygienischen Verhältnisse waren schlecht, es gab keine Kanalisation in den Städten. Wenn die Pest ausbrach, wurden Städte wie Basel abgeriegelt. Niemand wurde mehr hineingelassen, was den Handel zum Erliegen brachte. Bauern flohen von ihren Feldern, bauten nichts mehr an, es entstanden Hungersnöte. Wegelagerer nutzten die Situation, überfielen Reisende. So brachen soziale Strukturen zusammen. Familien verließen ihre Angehörigen, sobald die Pest ausbrach, um nicht selbst zu sterben.
Es gab Totentänze, die in Friedhofsmauern großer Städte wie Basel gemalt wurden. Der Tod tanzt dort mit Bankier, Adligen, Tischlern und Lehrern. Das sollte verdeutlichen, dass vor dem Tod alle gleich sind.
Neben der Angst vor der Pest gab es auch Angst vor politischer Unsicherheit. Die Zahl der Wegelagerer nahm zu. Reisen war kaum möglich, denn Deutschland bestand aus vielen kleinen Fürstentümern. Man brauchte Genehmigungen, musste Zoll zahlen, einen Pass vorweisen. Viele waren Leibeigene und hatten keinen Pass.
Die meisten Menschen lebten als Selbstversorger. Wenn sie einen Löffel brauchten, schnitzten sie ihn selbst aus Holz. Schuhe waren Holzschuhe, Teller aus Holz. Nägel gab es kaum, stattdessen Holzzapfen. Überregionaler Handel war durch Pest und politische Unsicherheit stark eingeschränkt.
Die Menschen blieben lieber zu Hause, dort fühlten sie sich sicher. Die Reaktion war eine starke Orientierung an der Kirche, obwohl viele von der Kirche enttäuscht waren.
Im Mittelalter spricht man von der Pornokratie der Kirche. Das bedeutet, dass die Päpste jener Zeit zwar oft kunstsinnig waren, aber wenig Glauben hatten. Der Papst war eher eine Machtposition. Es gab Ämterkauf, die sogenannte Simonie, die an der Tagesordnung war. Man konnte durch Bestechung jeden Posten erhalten.
Ein bekannter Fall ist Johannes XXIII., der Seeräuber gewesen war. Er hatte sich so viel Hab und Gut erbeutet, dass er alle Kardinäle bestach und zum Papst gewählt wurde. Innerhalb eines Tages wurde er zum Priester, Bischof, Erzbischof und Papst geweiht – alles in einem Rutsch.
Während der Herrschaft von Alexander VI. kam es zu Straßenschlachten in Rom, bei denen Menschen starben. Anhänger verschiedener Päpste kämpften gewaltsam um den Papstthron. Das war ein Chaos, das den heutigen Päpsten unvorstellbar erscheint.
Der Vatikan war damals auch für sein Bordell bekannt. Es gibt Schriften, die sagen: Wer als junge Frau Karriere machen will, gehe ins Vatikan-Bordell, dann sei sie versorgt.
Die Ablassgelder wurden nicht für Kirchenbau oder Mission verwendet, sondern hauptsächlich für Kriegszüge und Hofhaltung. Die Borgias, die Ende des 15. Jahrhunderts an der Macht waren, galten als besonders korrupt. Es gibt das Sprichwort in Italien: „Der Papst gibt Versprechen, um sie zu brechen.“ Alexander VI. hatte mehrere Kinder, obwohl Zölibat herrschte. Diese Kinder setzte er als Bischöfe und Erzbischöfe ein, um seine Macht zu sichern, und verheiratete sie mit führenden Adligen. Caesar Borgia gilt als einer der rücksichtslosesten Politiker des 15. Jahrhunderts.
All das sickert mit der Zeit bei der Bevölkerung durch und erschüttert das Verhältnis zur Kirche. Weil es ein Machtkampf ist, gibt es manchmal zwei oder sogar drei Päpste gleichzeitig, die sich gegenseitig exkommunizieren.
Das verunsichert die Gläubigen. Sie wissen nicht, welchem Papst sie folgen sollen, aus Angst vor dem Fegefeuer. Das führte zu großer Verwirrung.
Um das Problem zu lösen, wurde das Konzil von Konstanz einberufen. Dort wurden die beiden konkurrierenden Päpste eingeladen. Sie kamen nicht, weil sie ahnten, was geschehen würde. Das Konzil setzte beide ab und wählte einen dritten Papst. Doch die beiden abgesetzten Päpste weigerten sich, abzutreten, und es gab somit drei Päpste gleichzeitig, die um die Macht kämpften.
Die Bevölkerung nahm das alles wahr und war frustriert. Die Menschen blieben zwar religiös, suchten aber oft außerhalb der offiziellen Kirche nach spiritueller Gemeinschaft.
So entstanden kleine Bruderschaften wie die Brüder vom gemeinsamen Leben, die in Zwolle in den Niederlanden begannen und sich in ganz Europa ausbreiteten. Diese Gruppen waren bewusst unabhängig von der Kirche. Sie organisierten sich als religiöse Gemeinschaften, trafen sich zum Bibellesen und Beten ohne Kirche.
Es gab auch andere Gebetsbruderschaften, die sich neben der Kirche trafen. Manche suchten jedoch weiterhin die Hilfe einfacher Pfarrer.
Deshalb wurden viele Kirchen gebaut, oft auf Privatinitiative, und viele Messen gefeiert. In Wittenberg, einem kleinen Ort mit etwa 2000 Einwohnern, wurden beispielsweise jährlich rund 20 Messen gehalten. Die Stadt hatte fünf Kirchen.
Damals war es selbstverständlich, dass jeder mindestens einmal pro Woche zur Kirche ging. Wer sich etwas auf sich hielt, ging täglich, manche sogar zwei- oder dreimal täglich, um zu beten. Es musste nicht immer ein Gottesdienst sein, oft reichte das persönliche Gebet.
Die Menschen verstanden nicht immer, was vor sich ging, fühlten sich aber Gott dadurch näher. Sie glaubten, durch den Besuch der Kirche ein Anrecht auf den Himmel erwerben zu können.
Das ist die Vorgeschichte der Reformation. Nun müssen wir eigentlich zur Reformation selbst kommen.
Martin Luther und der Beginn der Reformation
Ja, also wo fange ich denn am besten an? Um Martin Luther und seine Zeit zu verstehen, müssen wir den historischen Hintergrund kennen. Nur so können wir nachvollziehen, warum er so gehandelt hat.
Martin Luther war zunächst ein ganz normaler Jugendlicher. Er wuchs bei seinen Eltern auf, die zum Mittelstand gehörten. Sein Vater war zuerst einfacher Bauer und wurde später Bergwerksbesitzer. Damals bedeutete das nicht viel – er grub einfach einen Schacht in die Erde und stellte ein paar Leute ein, die weiter gruben. Es gab keine modernen Techniken, keine elektrischen Lampen oder ähnliches. Man ging nur 20 bis 30 Meter tief unter die Erde, weil die Technik nicht mehr hergab. So baute er Erz ab.
Sein Sohn wuchs heran, und aus Prestigegründen schickte ihn sein Vater zur Schule. Zuerst besuchte Luther die Schule in Mansfeld, später ging er nach Eisenach. Eisenach ist bekannt durch die Wartburg, die Luther später „meine liebe Stadt“ nannte. Als Jugendlicher war er dort, weil Verwandte dort lebten. Allerdings hatten diese wenig Geld, konnten ihn also nicht verköstigen. Er wohnte dort, ging umher und machte Korrendesingen. Das kennt ihr vielleicht noch vom Martinssingen. Dabei ziehen Kinder von Haus zu Haus, singen Lieder und bekommen als Gegenleistung etwas zu essen – nicht nur Süßigkeiten, sondern auch etwas, davon leben zu können.
Luther kam auch zur Familie Cotta, einer reichen Kaufmannsfamilie. Die Frau Cotta mochte ihn so sehr, dass sie ihn als Pflegesohn aufnahm. Im Gegenzug sollte er ihren Sohn unterrichten und begleiten. Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft. Einige Jahre später kam Luther an die Universität. Damals konnte man nur drei Studiengänge wählen: Theologie, Medizin und Jura.
Sein Vater wollte, dass er Jura studiert, weil man damit das meiste Geld verdienen konnte. Wer die meisten Bestechungsgelder zahlte, bekam Recht – so konnte man gut verdienen. Luther begann also mit Jura und genoss das Studentenleben. Es wird berichtet, dass er eifrig trank, abends feierte und gerne sang. Er hatte auch einige Freundinnen und führte ein lockeres Leben als Student.
Dann gibt es die bekannte Geschichte, dass Luther einmal auf dem Heimweg in ein Gewitter geriet. Er hatte große Angst um sein Leben und betete: „Heilige Anna, hilf mir!“ Damals war er noch Katholik, deshalb wandte er sich an die Heilige Anna, die Mutter Marias. Nach dem Gebet kam er heil nach Hause. Daraufhin entschied Luther, ins Kloster zu gehen und sein Leben Gott zu widmen. Sein Vater war darüber sehr wütend, denn er hatte ihn zum Studium geschickt, damit er Geld verdient. Stattdessen wollte Luther Mönch werden – für den Vater undenkbar.
Es gab zu Hause einen großen Streit. Der Vater warf ihm viele Argumente entgegen: „Was werden die Leute sagen? Du willst hoch hinaus und wirst nur Mönch. Was ist mit meinem Betrieb? Wer soll ihn weiterführen? Du kannst doch kein Zölibat leben, du magst Frauen zu sehr. Wer wird unser Erbe, wenn du keine Kinder bekommst?“ Doch Luther blieb standhaft: „Nein, ich werde Mönch.“
Er wählte das Augustinereremitenkloster in Erfurt, das radikalste Kloster, weil er es ernst meinte. Luther war immer radikal und emotional. Er nahm das Mönchsleben sehr ernst, lag nächtelang ausgebreitet auf dem Boden und entwickelte gesundheitliche Probleme. Immer wieder ging er zur Beichte. Sein Beichtvater Johannes von Staupitz riet ihm, von den kleinen Sünden abzusehen und sich auf die großen zu konzentrieren. Er sagte ihm auch, dass Jesus ein für alle Mal vergeben habe und er sich daran festhalten solle. So bekam Luther erste evangelische Gedanken.
Später wurde Luther nach Rom geschickt. Dort hatte er zunächst eine idealistische Vorstellung von der Kirche. Doch in Rom wurde er enttäuscht. Er sah, wie oberflächlich alles war. Manche Priester lasen die Messe so schnell, dass Luther kaum angefangen hatte, da waren sie schon fertig. Es ging nur ums Geld, jede Messe brachte Einnahmen, also wurden viele Messen schnell hintereinander gelesen. Das erzürnte ihn. Auch der Ablasshandel und der Vatikan empörten ihn.
Friedrich der Weise wollte eine neue Universität in Wittenberg gründen. Ironischerweise wurde das Geld dafür durch den Ablass eingenommen. Friedrich misstraute und zahlte das Geld erst aus, als wirklich mit dem Bau der Kirche begonnen wurde. Doch der Papst hatte andere Pläne und wollte das Geld für seine Privatschatulle nutzen. Nach über zehn Jahren, in denen die Kirche noch nicht gebaut war, gründete Friedrich die Universität.
Er brauchte Professoren und fragte den Orden der Eremiten. Die sagten, Luther müsse sein Studium beenden und könne dann kommen. Luther wollte zunächst nicht, weil er sich für den Demütigsten und Schlimmsten hielt. Erst auf Geheiß von Johannes von Staupitz ging er. Luther wurde Professor, hielt Vorlesungen in Exegese und Griechisch. Dort gelang ihm sein Durchbruch.
1517 kam es zum Streit mit Johann Tetzel, der Ablass verkaufte. Tetzel predigte nicht so, wie die Kirche es wollte. Die Kirche sagte: Man muss innerlich bereuen, dann kann man als Zeichen der Reue zahlen und bekommt Vergebung. Tetzel sagte: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Er verkaufte sogar Ablassscheine für Sünden, die man erst noch begehen wollte – ein Missbrauch.
Tetzel wurde später von der Kirche ins Gefängnis gesteckt, weil er zu weit gegangen war. Luther, der auch Pastor war, wetterte dagegen. Er schrieb seine 95 Thesen auf Latein, die von seinen Schülern ins Deutsche übersetzt wurden. Innerhalb weniger Monate verbreiteten sie sich als Flugschrift in ganz Europa und wurden in viele Sprachen übersetzt.
Luther bekam Widerspruch und führte verschiedene Diskussionen, unter anderem mit Professor Eck in Leipzig. Dort kamen Studenten aus dem Land, um Luther zu schützen. Melanchthon, sein junger Kollege, unterstützte ihn und schob ihm Bibelverse zu. Luther und Eck redeten oft aneinander vorbei, weil sie unterschiedliche Autoritäten anerkannten – Luther nur die Bibel, Eck auch die Kirchenväter.
Schließlich erhielt Luther eine Bannbulle: Wenn er nicht bereute, würde er exkommuniziert. Es gab eine öffentliche Verbrennung seiner Schriften vor der Stadt. Trotzdem wurde er zum Reichstag nach Worms geladen. Dort war er sehr beliebt, beliebter als der Kaiser. Er wurde als Volksheld gefeiert, weil er die Korruption der Kirche anprangerte. Die Menschen hatten die Nase voll von einem spanischen Kaiser, der kein Deutsch sprach.
Luther wurde exkommuniziert und vogelfrei erklärt. Man erwartete, dass er umgebracht würde. Stattdessen wurde er entführt und auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Dort übersetzte er innerhalb weniger Wochen das Neue Testament ins Deutsche.
Währenddessen setzte ein anderer Professor, Karlstadt, die Reformation radikal um: Deutsche Messe, Abendmahl in beiderlei Gestalt, alle Bilder aus den Kirchen. Luther erkannte, dass dies zu weit ging. Er kehrte zurück, predigte gegen Karlstadt, und die Leute entschieden sich für Luther. Karlstadt wurde in die Wüste geschickt, schloss sich später revolutionären Gruppen an, die den Bauernkrieg auslösten. Diese Gruppen, darunter die Zwickauer Propheten, glaubten an direkte Offenbarungen Gottes und forderten einen Weltumsturz.
Luther predigte weiter, hatte Auf und Abs und suchte die Unterstützung verschiedener Fürsten. Er stand auch im Austausch mit Reformatoren aus der Schweiz, insbesondere Zwingli und Calvin. Diese hatten eigene Vorstellungen von der Reformation, zum Beispiel beim Abendmahl, der Gemeindestruktur und dem Verhältnis von Staat und Kirche. Deshalb unterscheidet man bis heute zwischen evangelisch-lutherischen und reformierten Kirchen.
Die Reformierten sind stark in den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz, Ungarn und bei der presbyterianischen Kirche in England und Nordamerika. Die lutherische Kirche ist besonders in Skandinavien und Deutschland verbreitet.
Luthers Theologie lässt sich mit den sogenannten vier Soli zusammenfassen. Drei davon sind bekannt, doch das vierte ist ein wesentlicher Unterschied zur katholischen Kirche.
Erstens sola scriptura – allein die Schrift. Die katholische Kirche sagt, die Bibel und die Tradition seien wichtig. Luther sagt: Nur die Bibel.
Zweitens sola fide – allein der Glaube. Die katholische Kirche betont den Glauben, aber auch die Sakramente als notwendig.
Drittens sola gratia – allein durch Gnade. Alles ist Geschenk Gottes. Die Kirche sagt, Gnade und Werke sind nötig.
Viertens solus Christus – allein durch Christus. Jesus Christus ist das Zentrum der Kirche und der Bibel. Die Kirche sieht die Kirche selbst als Heilsinstrument. Ohne Kirche kein Heil – das war ein zentraler Streitpunkt.
Während Luthers Leben gab es in Deutschland keine Kriege. Erst nach seinem Tod brachen der Schmalkaldische Krieg und später der Dreißigjährige Krieg aus, einer der schlimmsten Religionskriege Europas, besonders in Deutschland. Darüber sprechen wir ein anderes Mal, wenn wir in die Neuzeit kommen.
Wir haben heute zumindest Luther etwas besprochen. Die anderen Reformatoren wie Calvin, Beza, Farel und andere können wir leider nicht so intensiv behandeln. Wenn ihr möchtet, erzähle ich euch gerne noch mehr über sie.
Jetzt möchte ich mit euch beten und euch dann gerne gehen lassen.