Wenn Jesus kommt, will er nicht den Herrn Oberbürgermeister und Herrn Oberkirchenrat und Herrn Oberlehrer beehren. Jesus entdeckt vielmehr den Letzten und Kleinsten und Unbedeutendsten. So sagt er jedem von euch persönlich: Ich muss heute in deinem Hause einkehren. - Konfirmationspredigt aus der Stiftskirche Stuttgart


[Predigtmanuskript; nicht wortidentisch mit der Aufnahme]

Ich muss heute in deinem Haus einkehren. So könnte die Oma sagen, die wegen ihrem Ischiasnerv gar nicht mehr so reiselustig ist. Aber bei der Konfirmation ihres Enkels darf sie auf keinen Fall fehlen. Ein Familienfest ohne Großmutter wäre wie eine Festtags­torte ohne Zucker. “Ich weiß noch, wie du als süßer Tropf in dem Taufkissen lagst”, sagt sie. “Ich will doch sehen, wie groß dieser Bengel geworden ist. Ich bin wirklich gespannt, ob du nun dem Opa oder der Oma nachschlägst. Ich muss heute in deinem Haus einkehren.” So könnte auch der Onkel sagen, der wegen diesem Sonntag ein Schiwochenende schnappen ließ. Seit Wochen graste er einen Geschenkladen nach dem andern ab und konnte sich nicht entscheiden. Schließlich kaufte er einen Walkman, obwohl er nichts von diesen Ohrenbeleidigern hält. “Ich weiß noch, wie mich damals das Patengeschenk gefreut hat”, sagt er. “Ich will doch sehen, wie groß deine Augen werden beim Aufpacken. Ich bin wirklich gespannt, ob du nicht schon zwei solcher Walkdinger hast. Ich muss heute in deinem Haus einkehren.” So könnte auch der Kumpel sagen, der sich schon lange auf diesen Termin gefreut hat. Vor zwei Jahren feierte er selber Konfirmation und lud seine Freunde dazu ein. Jetzt wird die Retourkutsche gefahren. “Ich weiß noch, wie ich in dem Konfirmationsanzüglein gestanden bin. Ich will doch sehen, wie du mit Hemd und Krawatte ausschaust. Ich bin wirklich gespannt, wie deine Fete abläuft. Ich muss heute in deinem Haus einkehren.”

Aber dieser Satz stammt von keiner Oma, von keinem Onkel und von keinem Freund, sondern von Jesus Christus selber. Der war auf dem Weg durch Israel auf der Markung Jericho angekommen. Als er dort durchs Stadttor trat, ging es wie ein Lauffeuer durch Gassen und Häuser: Jesus kommt! Kinder warfen die Roller weg, Männer legten den Hammer beiseite und Mütter ließen die Milch anbrennen. Alle stürzten auf die Straße, um den berühmten Wanderprediger und Wunderheiler zu begucken. Jesus bahnte sich einen Weg durch die Menge. Aber auffallenderweise marschierte er nicht zum Bürgermeister und sagte: Ich muss heute in deinem Rathaus konferieren. Er marschierte auch nicht zum Priester und sagte: Ich muss heute in deinem Gotteshaus meditieren. Er marschierte erst recht nicht zum Lehrer und sagte: Ich muss heute in deinem Schulhaus diskutieren. Jesus blieb direkt unter einem Maulbeerbaum stehen, entdeckte dort zwischen den Blättern auf einem Ast den Zollsekretär Zachäus und rief: Ich muss heute in deinem Haus einkehren. Das ist nicht Jesu Stil, dass er nur den Herrn Oberbürgermeister und Herrn Oberkirchenrat und Herrn Oberlehrer beehren will. Jesu Art ist vielmehr, dass er den Letzten und Kleinsten und Unbedeutendsten auch entdeckt. So sagt er es dem, der sich hinter irgendwelchen Feigenblättern verstecken will. So sagt er es dem, der sich auf irgendwelchen Ästen zurückgezogen hat. So sagt er es dem, der mit 14 noch keinen Titel oder Kittel hat und nur hören muss: Konfirmand hat kein Verstand. So sagt er es jedem von euch persönlich: Ich muss heute in deinem Hause einkehren. Das bedeutet:

1. Du musst umkehren

So wie Zachäus. Ausnahmsweise saß er nicht am Schlagbaum und berappte die Eselstreiber ihrer Steuern. Für eine lineare Steuererhöhung war der Zollsekretär immer gut. Aber weil er [nicht] nur die Finger in allen Geldtaschen hatte, sondern auch die Hand am Puls der Zeit, wusste er, dass dieser Jesus durch Jericho kommt. Ein willkommenes Intermezzo, die alte Leier zu unterbrechen. Eine günstige Gelegenheit, den Laden dicht zu mach­en. Zachäus marschierte also in die City. Dass es bei diesem Straßenfest die Logen, Parketts und Ränge alle dicht besetzt waren, machte ihm überhaupt nichts aus. Das kann doch einen Zoll­mann nicht erschüttern. Schon immer wählte er die Vogelperspektive, auch wenn die andern den Vogel zeigten. Der Hochsitz auf dem Maulbeerbaum war echt spitze. Und Jesus sagt: Wenn ich heute bei dir einkehren muss, dann musst du umkehren. Nach oben geht es nicht mehr weiter. Nach oben geht es nie weiter. Da strampeln wir uns ab, damit wir den andern eine Nasenlänge voraus sind. Da hangeln wir durch die verschiedenen Arbeitszweige, damit wir den andern einen Kopf über sind. Da klettern wir auf der Gehaltsleiter, damit wir den andern finanziell in die Tasche stecken. Da steigen wir von Sprosse zu Sprosse, damit wir oben sind, spitze sind, top sind. Und Jesus sagt: Steig eilend herunter! Eure Bäume wachsen nicht in den Himmel. Klettere schnell herab. Eure ganze Lebensrichtung ist falsch. Kehre um! Das ist doch kein harter Befehl, sondern liebende Fürsorge. Wieviel haben sich schon verstiegen und sind irgendwie hängengeblieben? Wieviel haben sich schon übernommen und sind irgendwo sitzengeblieben? Wieviel haben sich schon verrechnet und sind dann irgendwann abgestürzt? Dem, der sich verklettert, hilft doch nicht, wenn er langsamer oder vorsichtiger oder sicherer klettert. Nein, er muss umkehren und die Route zurückgehen. Uns hilft nur eines, den Ruf zu hören, die Wende zu vollziehen und dem zu folgen, der uns meint. Jesus will uns Boden unter die Füße geben, ein sicheres Fundament für unser Leben, einen festen Grund in allen Beben der Zeit, deshalb sagt er: Du musst umkehren!

2. Du musst heimkehren

So wie Zachäus. Putzmunter saß er in luft­iger Höhe, als ihn der plötzliche Ruf traf: Ich muss heute in deinem Haus einkehren. Interessanterweise blockiert dieser Grünkittel nicht ab: “Aber Herr, ich muss unbedingt wieder ins Geschäft. Der Schlagbaum kann nicht den ganzen Nachmittag unten bleiben. Die Händler zünden mir die Bude an, wenn sie nicht auf den Markt kommen. Später vielleicht, später.” Interessanterweise wiegelt dieser Zollmensch nicht ab: “Aber Herr, ich muss unbedingt zu seiner Sitzung der Spar- und Darlehenskasse. Dort bin ich im Vorstand und verantworte die Bilanz. Der Bankdirektor geht hoch, wenn ich nicht pünktlich zur Stelle bin. Später vielleicht, später.” In­teressanterweise wehrt dieser Oberkassierer nicht ab: “Aber Herr, ich muss unbedingt zu einem Fortbildungskurs. Die römischen Steuergesetze sind ein einziger Dschungel. Da blickt doch kein Mensch mehr durch. Später vielleicht, später, am besten, wenn ich in den Ruhestand getreten bin, dann klappt’s bestimmt.” Aber so argumentiert Zachäus nicht. Der Mann kapiert: Geschäft ist wichtig, Sitzungen sind notwendig, Ausbildung und Fortbildung in aller Ehren, aber jetzt musst du heimkehren. Jesu Besuch ist Nr. 1, dann kommt alles andere.

Liebe Freunde, immer ist etwas wichtiger als Jesus. Immer ist etwas anderes vorrangiger als Glauben. Immer ist etwas anderes dran. Herr, ich muss unbedingt wieder in die Schule. Ohne ein ordentliches Zeugnis bin ich weg vom Fenster. Lernen muss ich, dass der Kopf raucht. Später, wenn ich 25 bin vielleicht! Und mit 25 heißt es: Herr, ich muss unbedingt einen Hausstand gründen. Dazu muss ich abends und am Wochenende ein paar Mark dazu­ verdienen. Hast du eine Ahnung, was das Zeug heute kostet! Später, wenn ich 40 bin vielleicht! Und mit 40 heißt es: Herr, ich muss unbedingt nach meinen Kindern schauen. Die machen grad, was sie wollen. Diese Gammelei muss abgestellt werden. Später wenn ich Rentner bin, dann klappt’s bestimmt. Einer hat gesagt: Die lange Bank ist der beste Sitzplatz des Teufels. Wer die Sache mit Jesus auf morgen verschiebt, verschifft sie bestimmt. Heute kommt dieser Herr an deinem Lebensbaum vorbei. Heute bleibt er direkt bei dir stehen. Heute schaut er dich an und kündigt seinen Besuch an. Du musst reagieren, so wie wir es vorhin gemeinsam gesagt haben: Herr Jesu, dir leb ich, dir leid ich, dir sterb ich. Das heißt: Du musst heimkehren.

3. Du musst wegkehren

So wie Zachäus. Im Eiltempo spurtet er durch die Straßen, nachdem er mit Jesus getafelt hatte. Jericho erlebt eine einmalige Steueraktion. Da klopft es bei denen, die einmal am Zollhaus betrogen und geprellt wurden. Als sie die Tür öffnen, steht dieser Mann draußen, der ihnen den letzten Pfennig abgepresst hat. Will dieser Blutsauger noch mehr? befürchten sie. Aber er öffnet seine Brieftasche und blättert hin: zu viel bezahlte Steuern, alles mal vier. Nicht möglich, fährt es den bass Erstaunten heraus, aber bevor sie ein vernünftiges Wort über die Lippen bringen, ist der Mann wieder weg und spurtet zu den Nachbarn. Zachäus verteilt die Hälfte seines Vermögens. Jesus hat ihm das beim festlichen Mahl nicht ins Ohr geflüstert. Dem Mann ist das selber aufgegangen, dass er sein einnehmendes Wesen wegkehren muss. Wer Jesus richtig in den Blick bekommt, der erkennt den Sohn Gottes, der zuerst seine Güte, seine Liebe, seine Barmherzigkeit und dann sogar sein ganzes Leben weggeschenkt hat. Am Holzkreuz auf dem Schinderbuckel Golgatha hängt das Ganzopfer für uns und unsere Schuld. Niemand kann ihm anders gehören, als dass er gehörig wegkehrt: Egoismus, Selbstliebe, Geiz. Wer Christ wird, blickt nicht mit frommem Augenaufschlag in den Himmel, sondern bekommt den andern in Blick. Wer Christ wird, kriegt kein warmes Gefühl in der Herzgegend, sondern bekommt ein Herz für die andern. Wer Christ wird, fährt nicht mehr Karussell um das eigene Ich. Friedrich von Bodelschwingh hatte schon recht, wenn er formulierte: Wer Jesus liebt, hat Zeit für den andern. Weil wir so viel Blockaden haben, deshalb hat Jesus recht: Du musst wegkehren!

Liebe junge Freunde, unser gemeinsamer Weg des Konfirmandenunterrichts endet mit diesem Tag. Ihr mögt erleichtert sein, dass alles überstanden ist. Ich jedoch bin beschwert. Be­schwert deshalb, weil ich nicht weiß, ob ich euch diesen Jesus groß und wichtig genug gemacht habe, der bei euch stehenbleibt und sagt: Ich muss heute in deinem Haus einkehren. Kehrst du um? Kehrst du heim? Kehrst du weg?

Amen