Einführung in Psalm 103 und das Thema des Lobes
Psalm 103 zählt zu den bekanntesten Versen der Bibel. Wir lesen die ersten fünf Verse und werden uns dann an einem Vers besonders festhalten.
Psalm 103 von David: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Das war die Lutherübersetzung. Die Elberfelder Version sagt: „Preise den Herrn, meine Seele, vergiss nicht alle seine Wohltaten.“
„Der da vergibt alle deine Sünde, der da heilt alle deine Krankheiten, der dein Leben erlöst aus der Grube, der dich krönt mit Gnade und Erbarmen oder Barmherzigkeit, der mit Gutem sättigt dein Leben, deine Jugend.“
„Erneuert sich wie bei einem Adler“ sagt die Elberfelder. Luther übersetzt: „Und du wirst wieder jung wie ein Adler.“
Vor einem Jahr an Pfingsten haben wir uns mit einem Vogel beschäftigt – mit der Taube in Siegwinden. Heute Morgen wollen wir mal beim Adler ein bisschen stehenbleiben.
Wir haben schon viel vom Loben gehört. Loben ist wichtig. Aber es gibt Situationen in unserem Leben, in denen wir vielleicht nicht mehr loben können oder das Loben uns sehr schwerfällt. In denen unsere Seele nicht mehr singt und der Lobpreis auf den Lippen zu ersticken droht.
Es ist nicht eindeutig, aber viele Ausleger sind der Ansicht, dass Psalm 103 geschrieben wurde, als David von seinem eigenen Sohn Absalom verfolgt wurde. Absalom hatte sich erhoben und gegen David eine Palastrevolte gemacht – einen Putschversuch. Nun war David auf der Flucht vor seinem eigenen Sohn.
Kann man in einer solchen Situation Gott noch loben? Menschlich gesehen: nein. David saß vielleicht auf einem Stein in der Wüste Juda, und ihm war gar nicht nach Loben zumute. Doch er gab seiner Seele einen Befehl und sagte: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“
Die Gegenwart Gottes im Lobpreis erfahren
So könnte man erwarten, dass David die Wohltaten Gottes aus der Vergangenheit aufzählt: den Gott, der dir alle deine Sünden vergeben hat und der alle deine Gebrechen geheilt hat. Doch wie betet David?
Er wechselt plötzlich in die Gegenwart und spricht von dem Gott, der dir alle deine Sünden vergibt und der alle deine Gebrechen heilt. Er erkennt, dass derselbe Gott, den er so oft und so mächtig erlebt hatte, auch jetzt in dieser Situation da ist, dass er gegenwärtig ist.
Wir merken: Loben zieht nach oben. Als David Gott lobte, erfuhr er auch in der aktuellen Situation seine Nähe und seine Gegenwart.
Dann beschreibt David das, was er erlebte, mit einem Bild aus der Tierwelt: „Deine Jugend erneuert sich wie bei einem Adler.“
Das Bild des Adlers als Symbol der Erneuerung
Was meint David mit diesem Vergleich? Ich habe mich ein wenig mit dem Adler beschäftigt. Dabei muss ich sagen, dass es hier keine gibt, die man so in der Natur beobachten kann. Trotzdem habe ich mich erkundigt, telefoniert, gelesen, mich umgehört, ein Vogelbuch angeschafft und so weiter, um der Sache ein bisschen auf den Grund zu gehen und zu verstehen, was es damit auf sich hat.
Warum sagt David: „Du wirst wieder jung wie ein Adler“? Ich war fasziniert von diesem Bild. Der Adler gehört eigentlich zur Familie der Greifvögel, die Biologen nennen ihn Vulpes montanus. Dieser Vogel, der im Vorderen Orient heute noch vorkommt, hat einige Eigenarten, die ihn von anderen Federn tragenden Tieren unterscheiden.
Es gibt natürlich verschiedene Adlerarten. Der Steinadler ist jedoch der einzige Greifvogel, der im Gebirge Sinai brütet. Dort hielt sich Mose damals auf, und auch David könnte von dort aus gewusst haben, was in den Mosebüchern steht. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit können wir davon ausgehen, dass Mose vom Steinadler sprach, als er in 5. Mose 32,11 sagte: „Wie ein Adler sein Nest aufstört, über seinen Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet und sie aufnimmt – das heißt, er nimmt seine Jungen auf die Flügel und trägt sie auf seinen Schwingen – so leitete er Jakob, das Volk Israel. Der Herr allein war ihr Führer, kein fremder Gott war mit ihnen.“
Das Erste, was wir daraus lernen, ist: Der Adler nimmt seine Jungen auf die Schwingen und trägt sie. Eigentlich wollte ich hier einen Tageslichtprojektor benutzen, aber jetzt machen wir es mal so. Vielleicht habt ihr den Adler auch schon irgendwo in einem Vogelgehege oder einer Ausstellung gesehen. So ungefähr sieht er aus.
Junge Adler werden also buchstäblich auf Adlerflügeln getragen. Das gibt es kaum bei anderen Vögeln. Wann macht der Adler das? Wann nimmt er eines seiner Jungen auf die Schwingen? Die Antwort ist ganz einfach: beim Fliegenlernen.
Stellt euch vor: Die Adler bauen ihr Nest, ihren Horst, in bis zu 2600 Metern Höhe, zum Beispiel im Sinai-Gebirge. Dann legen sie Eier, brüten sie aus und dann sitzen kleine Adler darin. Wenn sie zum ersten Mal fliegen sollen, krabbeln sie über den Rand des Nests. Wenn sie nicht aufpassen und nicht geschickt sind bei ihrem ersten Flug, ist dieser oft zugleich ihr letzter.
Denn wenn sie die Flügel nicht richtig stellen – sie haben ja noch nie geflogen, sind gerade erst aus dem Ei gekrabbelt – stürzen sie ab wie ein Fallschirm, der sich nicht geöffnet hat. Wenn die Adlereltern das sehen, vor allem die Mutter, die genau aufpasst, kommt sie blitzschnell mit großer Geschwindigkeit geflogen, fliegt unter das kleine Adlerkind, das abstürzt, und fängt es auf.
Könnt ihr euch das vorstellen? Meistens ist es die Adlermutter, die noch etwas größer als der Adlervater ist, die die Kleinen auffängt, wenn sie abstürzen. Das ist Flugschule.
Die meisten schaffen es schon beim ersten Versuch. Aber es gibt immer Schwächere – sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Manche stürzen ab und werden auf den Schwingen aufgefangen. Dann trägt die Adlermutter sie zurück in den Horst, und sie machen einen zweiten Versuch. Meistens klappt es spätestens beim dritten Mal, dass sie fliegen lernen.
Ist das nicht ein wunderbares Bild? Mose sagt damit von Gott, dass er Israel in der Wüste so getragen hat – sein Volk. Immer wenn sie abstürzen wollten, was mehrfach der Fall war, hat Gott sie aufgefangen und getragen.
So trägt Gott auch heute seine Kinder, besonders die jungen Adler. Ich würde gerne mal fragen, wer innerhalb der letzten drei Jahre zum Glauben gekommen ist – aber da meldet sich schon jemand ganz freiwillig. Ich glaube, es sind noch mehr hier, oder auch innerhalb der letzten fünf Jahre. Das sind die jungen Adler, bildlich gesprochen.
Gerade wenn man jung im Glauben ist, gibt es viele Gelegenheiten, bei denen man abstürzen kann. Da trägt Gott seine Kinder auf ganz besondere Weise. Aber nicht nur die jungen Adler – Gott trägt auch die älteren seiner Kinder bis zum Ziel.
Die besondere Mauser des Adlers und geistliche Erneuerung
Dann lernen wir ein zweites über den Adler in der Bibel, und das hat hier mit unserem Text zu tun im Psalm 103, den wir eben gelesen haben. Ich möchte es so ausdrücken: Der Adler hat keine regelmäßige Mauser.
Jetzt wissen manche vielleicht nicht, was Mauser ist. Die meisten Vögel verlieren jedes Jahr ihre Federn und bekommen neue. Diesen Vorgang nennt man Mauser. Wenn der Vogel seine Federn verliert und wieder neue bekommt – andere Tiere verlieren ihr Fell und bekommen neues –, so geschieht das nach und nach bei den Vögeln eben mit den Federn. Man sagt dann auch: „Er mausert sich.“ Das haben wir ja übernommen, zum Beispiel: „Guck mal, wie der sich mausert“ oder „Guck mal, wie die sich gemausert hat.“ Dieser Ausdruck kommt aus der Vogelwelt.
Der Adler mausert sich nicht jedes Jahr, sondern er hat diesen Zustand nur sehr selten. Manchmal nur einmal im Leben oder zweimal, wenn er in die Mauser kommt. Dieser Zustand ist für den Adler ungeheuer kritisch. Es ist ein gefährlicher, kritischer, aber wenn er überwunden ist, ein herrlicher Zustand.
Der Adler gilt als alt, wenn er in diese Mauser hineinkommt. Bis dahin sind die Federn immer länger gewachsen, die Röhren sind immer dicker geworden, und schließlich wird sein Federkleid so schwer, dass sich der Adler nicht mehr in die Lüfte erheben kann. Erst fliegt er nur noch selten, er wird träge im Fliegen, und dann gibt er irgendwann ganz auf. Er geht nicht mehr auf die Jagd, er geht nicht mehr auf Beute aus, und dann wird er immer schwächer. Es kommt ein Problem nach dem anderen hinzu.
Wollen wir da mal kurz innehalten? Das gibt es auch im geistlichen Leben: alt werden. Das hat nichts mit den Jahren zu tun, in denen man gläubig ist. Ich glaube, es gibt geistlich gesehen siebzehnjährige Mümmelkreise und aber auch achtzigjährige Jugendliche, geistlich gesehen.
Wollen wir uns an der Stelle mal fragen: Sind wir welche, die noch fliegen, die noch auf Beute aus sind, die sich noch etwas holen können und daran nähren können? Es ist ein Kennzeichen des Altwerdens, wenn man nicht mehr auf Beute aus ist – des geistlichen Altwerdens.
Wenn man aber in der geistlichen Jugendkraft steht, dann ringt man im Gebet mit dem Herrn, bis man Beute gemacht hat. Man sagt wie Jakob: „Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Man hört nicht auf zu beten, bis man hier Antwort bekommen hat. Dann liest man seine Bibel, forscht im Wort und freut sich, wenn man etwas entdeckt hat – wie einer, der große Beute macht.
Dann kämpft man um geliebte Menschen, die noch nicht errettet sind. Man möchte Beute machen, im Bild gesprochen.
Darf ich mal ganz persönlich fragen: Wann bist du das letzte Mal auf Beute ausgewesen? Wann hast du das letzte Mal persönlich mit Gott um etwas gerungen? Nicht nur mal ein Gebetsanliegen gesagt im Gebet – das machen wir alle, wenn wir fürs Essen danken oder dies oder jenes –, sondern wirklich mit Gott etwas errungen im Gebet.
Wann hast du das letzte Mal Nahrung gefunden in der Bibel, wo du persönlich etwas entdeckt hast, was dich angesprochen hat?
Weißt du, der Adler ist alt, wenn er nur noch vom Vergangenen lebt, wenn er sich nicht mehr ausstreckt, dem lebendigen Herrn im Alltag zu begegnen. Dieser stolze Vogel, der sonst dort oben seine Kreise zieht, vor dem dort unten die Tiere zittern, er ist alt geworden, wenn er nicht mehr fliegt.
Ja, wovon lebt er dann eigentlich noch, der Adler? Nun, in der ersten Zeit lebt er von den Resten und Knochen, die andere Adler auf seinem Horst zurücklassen. Die Adler haben ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl, die Starken sorgen für die Schwächeren, und das soll ja überall so sein.
Aber weil er selber nicht mehr fliegt, passiert ein zweites: Es läuft ihm ein gelbes Harz aus dem Schnabel, ein Hornharz, und bildet eine Art Überschnabel. Weil er nicht mehr durch Arbeit den Schnabel abwetzt, verschließt es ihm am Ende den Schnabel.
Das ist unglaublich, aber es ist so: Dieses Harz wächst da oben über den Schnabel drüber, und der Schnabel wird immer größer und immer dicker. Es verschließt ihm buchstäblich den Schnabel. Er kann nicht mehr fressen, dann. Das ist eine kritische Situation.
Es beginnt mit den schweren Federn: Man kommt nicht mehr hoch, man hat keine Lust mehr, alles wird einem zu viel. Nach einer Weile wächst der Schnabel zu, und dann kommt die große Krise.
Zunächst ernährt er sich noch von den Brocken der anderen, dann lebt er von seinen eigenen Fettreserven, das heißt buchstäblich von der Substanz. Aber er verliert dabei so viel Kraft, dass er ein ganz trauriges Bild abgibt.
Die Flügel hängen runter und schleifen am Boden. Statt dass etwas von der Größe und Majestät dieses herrlichen Vogels aufstrahlt, sieht er ganz erbärmlich aus.
Und es gibt manche Christen, die genau dasselbe Bild abgeben. Zuerst waren sie flugunwillig, und dann irgendwann sind sie flugunfähig. Aber damit noch nicht genug: Ein Ornithologe, ein Professor für Vogelkunde in Hannover, hat beobachtet, wie dann kleine Vögel – die kleiner sind als unsere Spatzen –, die sonst vor dem Adler einen großen Bogen machen und Angst vor ihm haben, über ihn fliegen und ihren Kot auf ihn fallen lassen, so als Spott.
Ja, weil sie wissen, der kann ihnen nichts mehr anhaben. Sie fliegen über ihn und lassen da etwas fallen, weil er jetzt wehrlos und schwach ist.
Ihr Lieben, kennen wir das nicht manchmal auch? Zunächst machen wir keine Beute mehr, damit fängt alles an. Dann leben wir nur noch von Erfahrungen von früher oder von den Brocken anderer. Am Ende werden die Gläubigen, die einmal ein Überwinderleben geführt haben, beschmutzt von den kleinsten Kleinigkeiten. Sie haben keine Kraft mehr zu überwinden, keine Kraft mehr da.
Ist das vielleicht die Situation von jemand unter uns? Dann darf es auf keinen Fall so bleiben.
Wisst ihr, einige Adler überleben nämlich diese Mauser nicht. In einem Vogelfachbuch las ich, die Mauserperiode ist eine Zeit gesteigerter Sterblichkeit. Es kommt sehr darauf an, dass sie unter günstigen Bedingungen verläuft, ist aber nicht immer der Fall.
Man weiß bis heute nicht, warum das so ist. Einige Adler schleppen sich in dieser kritischen Phase bis an den Rand ihres Horstes und stürzen vom Felsen herab.
Ich weiß auch von Christen, von wirklichen Jüngern Jesu, die in schwere Krisen hineingekommen sind.
Wenn das vielleicht gerade bei uns so ist oder vielleicht ist es eine Situation, die noch in der Zukunft steht – vor uns, vor mir oder vor dir –, wollen wir hier gleich hören, dass wir nicht aufgeben dürfen.
Krisen sind zwar immer eine ganz gefährliche Sache, aber es gibt Krisen zum Leben. Krisen, wenn sie überwunden werden, führen meistens zu einem Zustand, einer Phase, die besser ist als vorher.
Der Weg der Erneuerung durch das Kahlmachen
Höre, wie es beim Adler weitergeht. Wie kann er in einer solchen Situation wieder jung werden? Wie wird er wieder jung?
Der Adler bekommt plötzlich einen rätselhaften Impuls. Weißt du, was er dann macht? Er beginnt, wie verrückt mit den Flügeln zu schlagen. Auf einmal schlagen seine Flügel, und die schweren Federn, die nur noch lose in den Hüllen saßen, fallen von ihm ab. Der Adler wird kahl – völlig kahl. Er sieht aus wie ein gerupftes Huhn, nachdem er seine Federn abgeschlagen hat.
So sitzt er da oben auf seinem Horst. Er schlägt sich selbst kahl und wetzt dann seinen Über-Schnabel, der ihm gewachsen ist, am Felsen ab. Es dauert Stunden, bis er den Schnabel wieder gewetzt hat, sodass er wieder die Reste von den anderen Adlern fressen kann, die diese auf dem Horst zurückgelassen oder fallen gelassen haben. So langsam päppelt er sich wieder ein bisschen auf.
Das Wichtigste aber ist: Es wachsen ihm neue Federn. Natürlich nicht über Nacht. Es dauert ein paar Wochen, manchmal bis zu drei Monaten, bis die Federn wieder vollständig gewachsen sind. Aber es wachsen neue Federn.
Nach einiger Zeit sieht man einen ausgehungerten Adler, wie er sich mit neuen Federn aufschwingt, auf seinem Horst sitzt und sich auf Beute stürzt. Kein Kaninchen, unter Umständen kein Reh in der Gegend ist vor ihm sicher. Das holt er sich, denn er ist ausgehungert. Er macht wieder Beute für sich, jagt erneut und wird zum Versorger für andere.
Ich habe hier auch noch einen Adler, der sich gerade auf Beute stürzt. Das sieht dann ungefähr so aus: Die Krallen sind ausgefahren, und er stürzt sich auf die erstbeste Beute, die er findet.
Doch etwas ist jetzt anders bei dem Adler nach der Mauser als früher. Dieser Adler ist für Jäger und Fallensteller fast nicht mehr zu kriegen. Warum? Er hat die Erfahrung und Reife des Alters mit der Flugkraft und Dynamik eines jungen Adlers kombiniert. Solche Tiere sind für Fallensteller fast unfangbar. Er kann mit ungeheurer Schwungkraft auffahren – mit Flügeln wie ein Adler.
Ist das nicht eine wunderbare Botschaft vom Herrn? Vielleicht ist der eine oder andere gerade in einer Situation, in der er Gott nicht mehr loben kann – oder nur noch sehr schwer, nur noch formal mit den Lippen, aber nicht wirklich mit dem Herzen.
Wenn wir gesundheitlich in eine Krise geraten sind, die Ärzte nicht mehr weiterwissen, die Medikamente nicht richtig anschlagen und mehr Nebenwirkungen als Wirkungen produzieren, dann können wir auf den Herrn vertrauen. Er kann uns körperlich, seelisch und nervlich berühren, sodass wir wieder jung werden wie ein Adler.
Vielleicht geht beruflich nichts mehr weiter, oder die Vorgesetzten verlangen immer mehr von uns. Auch dann können wir auf den Herrn vertrauen. Er ist der Herr über unseren Chef. Und wenn wir selbst Chef sind, sollten wir ihn auch Herr sein lassen über uns und über die Chefs.
Wenn junge Leute gerade in einer Phase sind, in der sich alles verändert – körperlich, seelisch, vielleicht auch im Glauben –, wenn der alte Kinderglaube zerbricht und die Beziehung zu Jesus auf ein ganz neues Fundament gestellt werden muss, dann steht diese Krise durch! Ihr jungen Leute, das ist auch eine Art Mauser. Vertraut euch ganz neu und fest dem Herrn an, vielleicht auf eine tiefere Weise als bei eurer Kinderbekehrung mit sechs oder sieben Jahren. Ihr werdet sehen, dass Christus wirklich das Leben ist.
Oder Eheleute unter uns: Wenn die Ehe mehr dem flugunfähigen Adler auf dem Nest gleicht, wenn es scheinbar zu viele Enttäuschungen, zu viele Verletzungen gibt und keine Hoffnung mehr auf eine wirkliche Veränderung, dann ist und bleibt dennoch Jesus Christus der Einzige, der helfen kann. Er kann eine Ehe neu machen, sodass sie wieder jung wird wie ein Adler.
Wenn man sich in der Familie auseinandergelebt hat – die heranwachsenden Kinder von den Eltern und umgekehrt –, wenn der Faden der Offenheit im Gespräch abgerissen ist, wenn unsichtbare, aber dennoch spürbare Mauern da sind, wenn Kälte und Bitterkeit eingezogen sind, dann setzt eure Hoffnung ganz auf den Herrn. Er kann bewirken, dass auch die Familienbeziehungen wieder jung werden wie ein Adler.
Oder noch ein letztes Beispiel: Wenn du im Dienst für den Herrn Enttäuschungen erlebt hast, vielleicht in der Gemeinde, wenn Menschen über deinen Kopf hinweg entschieden haben und du am liebsten alles hinschmeißen würdest, dann wirf dein Vertrauen nicht weg. Sage: Herr, ich diene doch dir – nicht den Menschen, auch nicht der Gemeinde, nicht dem Missionswerk. Ich diene dir, und ich will mich weiter dir weihen, mich für dich verzehren und dich loben.
Die Notwendigkeit des Kahlmachens im geistlichen Leben
Aber eines muss ich noch einmal betonen: Wenn der Adler alt geworden ist, gibt es nur einen Weg der Erneuerung. Er muss sich selbst kahl machen, anders geht es nicht. Sonst käme er nie mehr in die Lüfte. Er muss das Alte abschütteln, er muss sich selbst kahl machen.
Ihr lieben Brüder und Schwestern, die Schrift zeigt uns doch auch in geistlicher Hinsicht keinen anderen Weg. In Micha steht ein Vers, der zu unserem Thema etwas zu sagen hat, nämlich Micha 1,16. Dort heißt es: „Mache dich kahl wie ein Adler.“ Mache dich kahl wie ein Adler – das ist der Weg. Mache dich kahl heißt: Leg einmal alles ab. Deine groben und deine feinen Sünden, auch Hochmut und Stolz – leg mal alles ab.
Vielleicht sind auch unter uns einige, die haben sich in dieser Weise noch nie kahl gemacht oder schon lange nicht mehr. Nicht mehr gebeugt vor Gott, nicht mehr wirklich Schuld und Sünde bekannt ausgeräumt, wie uns Nikolai zu Beginn aus dem ersten Johannesbrief vorgelesen hat.
Woran erkennt man Menschen, die sich schon lange nicht mehr kahl gemacht haben oder denen das sehr schwerfällt? Ganz einfach: Die haben immer Recht und können sich nie oder nur im äußersten Notfall mal entschuldigen. Ob es in der Ehe ist, in der Familie, in der Gemeinde – es gibt Menschen, bei denen es unglaublich schwer ist, sich mal zu entschuldigen. Sie können sich einfach nicht kahl machen.
Aber manchmal muss das sein, dass wir uns kahl machen, dass wir uns entschuldigen – vor Frauen, vor Kindern, vor anderen. Und wir sollten dabei keine Angst haben, unser Gesicht zu verlieren. Wir verlieren ja immer nur eine Maske. Das wahre Gesicht ist angewachsen, das können wir nicht verlieren.
Schaut, David hatte auch in den genannten Bereichen versagt, vor allem in Ehe und Familie, in der Kindererziehung. Als Absalom gegen ihn aufstand, verließ er Jerusalem im Bußgewand, barfuß, mit Asche auf dem Haupt (2. Samuel 15). Das heißt, er machte sich kahl, stieg herunter von seinem Thron und legte seinen Stolz ab.
Der Adler, der sich nicht kahl macht, wird an seiner Mauser kaputtgehen. Aber der Adler, der dieses Wort ernst nimmt – „Mache dich kahl wie ein Adler“ –, der ist bereit, sich zu demütigen, so dass alle sehen können, wie mager er ist. Der wird wieder jung werden, ganz gewiss.
Also, das ist der Weg: Mache dich selbst kahl, zeige dich, wie du bist. Geh mit deiner Schuld, mit deinem Versagen unter das Kreuz von Golgatha. Geh, wenn es sein muss, auch in die Seelsorge. Rede offen über deine Nöte, sei nicht stolz, mache dich kahl wie ein Adler. Wenn wir bereit dazu sind, wird uns geholfen.
Aber ich glaube, das größte Problem von uns Christen ist manchmal, dass wir uns scheuen, uns so zu zeigen, wie wir sind. Wenn wir das nicht tun, heucheln wir. Aber wenn wir es tun, gibt Gott Gnade zu einem neuen Anfang. Wir dürfen das Wunder erleben, dass neue Federn wachsen und wir wieder fliegen können, jung werden wie ein Adler.
Dann fangen wir auch wieder an, den Herrn wirklich zu suchen im Gebet. Dann rechnen wir wieder mit ihm. Dann können wir wieder auf seine Verheißungen bauen. Dann lesen wir unsere Bibel wieder, um Beute zu machen. Dann kommen wir auch wieder in die Versammlungen, um ihm zu begegnen und auch um anderen zu dienen.
Dann kommt unsere frühere Zeugniskraft wieder zurück und die alte Opfergesinnung – kurz: die erste Liebe – brennt wieder bei einem, der jung geworden ist wie ein Adler. Und er erlebt buchstäblich das herrliche Jesaja-Wort: Die auf den Herrn hoffen, gewinnen neue Kraft. Sie heben die Schwingen empor wie die Adler, sie laufen und ermatten nicht, sie gehen und ermüden nicht (Jesaja 40,31).
Wenn der Adler sich wieder erhebt und wenn er wieder in den Lüften schwebt, wenn er wieder seine Kreise zieht, wenn er wieder der Vogel ist, der König der Lüfte, vor dem alle anderen Tiere zittern und Respekt haben – das möchte Gott. Er möchte, dass wir wieder fliegen können, schweben können wie ein Adler.
Schlussgedanken und Einladung zur Erneuerung
Ich muss zum Schluss kommen. Wir haben darüber nachgedacht, ausgehend vom Psalm 103, dass es Situationen in unserem Leben geben kann, in denen wir Gott scheinbar nicht mehr loben können. Doch bei David haben wir gesehen, wie er es dennoch tat und dabei in die Gegenwart des Herrn durchbrach. Er erfuhr, wie er wieder jung wurde wie ein Adler.
Vielleicht gibt es auch jemanden unter uns, der Gott überhaupt noch nicht loben kann, weil er noch nicht erfahren hat, was es heißt, dass er dir alle deine Sünden vergibt.
Lass mich noch ein letztes Bild verwenden: In Stuttgart gibt es einen Stadtzoo, die Wilhelma. Dort kann man unter anderem Steinadler beobachten, die Könige der Lüfte. In Amerika nennt man sie Goldadler, sage ich für unsere Amerikaner unter uns. Im Moment sind dort aber keine zu sehen. Die Steinadler haben eine Flügelspannweite von etwa zwei Metern zwanzig. In Stuttgart sitzen sie jedoch in einem Käfig, der vier Meter breit ist. Sie können gerade mal mit ihren Flügeln ein bisschen wackeln, aber sie können nicht fliegen. Es sind Vögel mit den besten Flugeigenschaften, die es gibt, doch sie sind gefangen im Käfig.
Da wurde mir klar: Sünde ist keine Eigenschaft, Sünde ist Gefangenschaft. Man kann mit den besten Eigenschaften in der Sünde gefangen sein. Man kann ein Mensch sein, der sehr großzügig, freigebig und mitmenschlich gesinnt ist und alle möglichen guten Eigenschaften haben – und doch in der Sünde gefangen sein. Man ist wie in einem Käfig, denn Stolz, Hochmut, Unreinheit und Gebundenheit an vieles halten einen gefangen. Man kann nicht fliegen.
Wenn das deine Situation ist, möchte ich dir am Ende noch zurufen: Mach dich kahl wie ein Adler. Das heißt, komm mit deinem ganzen gelebten Leben und allem, was du bist, vor Christus und sein Kreuz. Bekenne deine Sünden und nimm ihn an. Denn schau, er ist der Einzige, der uns freimachen kann.
Er kam vom Himmel auf diese Erde. Im Bild gesprochen legte er sein göttliches Gefieder ab und ging an das furchtbare Kreuz. Auch er machte sich dort kahl wie ein Adler. Als er dort hing, wie wir vorhin im Philipperbrief gehört haben, völlig erniedrigt, nahm er Knechtsgestalt und sogar Todesgestalt an. Das war sein Weg. Dort hatte er sich auch kahl gemacht wie ein Adler. Und dann ist er auferstanden.
Wenn du deine Autonomie aufgibst und Christus Herr sein lässt in deinem Leben, dann erfährst du diese Freiheit.
Wir, die wir das getan haben und ihn kennen, wollen das vielleicht immer wieder praktizieren und besser verstehen, was es heißt: Deine Jugend erneuert sich wie bei einem Adler. Christen sollten diese Erfahrung nicht nur einmal in ihrem Leben machen, sondern oft, immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn wir uns vor Gott beugen.
Jede neue Segnung Gottes beginnt mit einer Beugung. Es geht nicht anders. Immer wenn wir uns kahl machen vor Gott und manchmal auch vor Menschen, gibt Gott neuen Segen. Dann dürfen wir wieder auffahren mit Flügeln wie Adler.
Wollen wir zusammen aufstehen und beten?
Herr, unser Gott, wir danken dir, dass du uns auch heute an diesem Pfingsttag neu daran erinnerst, dass du deinen Heiligen Geist gegeben hast. Er ist eine Kraft in unserem Leben, die uns immer wieder erneuern will. Auch dort, wo wir uns verstrickt haben in Schuld, Sünde, Lauheit oder Trägheit, gibt es einen Weg, da wieder herauszukommen. Wir dürfen dasselbe tun, was der Adler macht: uns kahl machen und dann neu auffahren mit Flügeln.
O Herr, ich bitte dich, dass jeder von uns diese Erfahrung machen darf. Besonders die, die es jetzt besonders brauchen – die Niedergeschlagenen, die in Krankheit, Enttäuschung oder Lasten gefangen sind. Erquicke sie neu, damit sie auffahren dürfen mit Flügeln wie ein Adler.
Herr, wir danken dir, dass dein Wort so bildhaft und lehrreich ist. Wir durften darüber nachdenken und bitten dich, dass wir solche sind, die dich mit fröhlichem Munde loben können – heute und alle Zeit. Amen.