Einführung und Predigtanlass
Ich bin heute vom Predigttext abgewichen, da der Petrusbrief, aus dem der Predigttext nach der Ordnung unserer Kirche entnommen ist, ja vor kurzem in unserem Bibeltraining behandelt wurde. Ich möchte immer mehr aus der Schrift entdecken.
Dabei habe ich festgestellt, dass der Psalm 23, den wir sicher alle auswendig können, nie die Grundlage unserer Predigten bildet. Deshalb habe ich ihn heute gewählt, an diesem Sonntag Misericordias Domini.
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele, er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Herr, mach uns dieses so bekannte Wort noch bekannter. Amen.
Der Hirtenbegriff in der modernen Welt
Wir sind zu Problemmenschen geworden, und am Sonntag, dem Tag des guten Hirten, wird viel geschrieben und gesprochen. In der modernen Großstadt kennt man kaum noch Hirten – vielleicht Zubringer oder Parkwächter. Doch es ist heute oft schwierig, den Begriff „Hirte“ zu erklären.
Wenn wir an diesem Sonntag den Hirtenbegriff einführen, denken wir sicherlich nicht an einen Trachtenjodler auf der Alm, der seine Kühe hütet. Vielmehr ist uns das Wort „Hirte“ nicht wegen dieser kümmerlichen menschlichen Abbilder lieb, sondern weil Jesus sich selbst als das Urbild des Hirten bezeichnet hat.
Er unterscheidet sich von allen anderen Hirten dieser Welt, indem er sagt: „Ich bin der wahre, der wirkliche, der gute Hirte.“ Für uns heute bedeutet das in unserer Predigt: Wir kennen Hirten, und vor allem kennen wir den einen Hirten, Jesus. Gerade in unseren modernen Großstädten wird uns Jesus in seinem Hirtenamt immer größer und wunderbarer.
Wir können die ersten Christen verstehen, die sich verängstigt in die Katakomben Roms flüchteten. Aus Angst um ihr Leben ritzen sie dort in den Stein Bilder vom Hirten, vom guten Hirten. Dieses Bild des guten Hirten war auch ein Erkennungszeichen der französischen Hugenotten.
In einem Museum der reformierten Kirche in Vilna wird eine Altartafel aus der Verfolgungszeit der Gemeinde im 16. Jahrhundert aufbewahrt. Darauf sind die Worte eingestickt: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“
Dabei geht es nicht um meine privaten Feinde, sondern darum, dass Menschen erkennen, dass wir manchmal in einem Kampf leben. Es ist ein Ringen, bei dem uns hier die Luft abgedrückt wird – ein Kampf um das Leben, ein Existenzkampf.
Persönliche Erfahrungen mit dem Hirtenbild
Und da, mittendrin, tritt der Hirte zu uns. Ich habe Ihnen oft die Geschichte erzählt, wie ich als Kind den Bombenangriff 1943 erlebt habe. Unsere Mutter hat mit uns damals diesen Psalm gedichtet.
Wie viele persönliche Erinnerungen haben Sie, bei denen Ihnen das Hirtenbild Jesu groß geworden ist? Wir brauchen keine Schafhirten, um dieses Bild richtig zu begreifen und zu verstehen, was uns heute durch dieses große Wort gesagt wird, wenn Jesus zu uns spricht: „Ich bin der gute Hirte.“
Ich habe nur eine Bitte an Sie: Bauen Sie sich kein süßliches Hirtenbild auf. Dazu möchte ich Ihnen drei Ratschläge geben.
Erster Ratschlag: Das Gehorchen nicht verschweigen
Verschweigt das Gehorchen nicht! Gehorchen ist uns heute oft unangenehm, und es wirkt unsympathisch. In der Erziehung soll alles freiwillig geschehen, das ist doch klar.
Im Glauben gibt es jedoch zwei Teile, die zusammengehören. Zum Glauben gehört einerseits das Vertrauen und andererseits das Gehorchen. Wir betonen immer wieder, dass man seine Ängste in die Hand Jesu legen kann. Dabei besteht die Gefahr, dass andere verschweigen, dass die Freude des Glaubens im Gehorchen liegt.
Darum muss man genau auf das Wort vom Hirten hören und verstehen, was David uns sagen will. Er sagt, dass für ihn die Freude seines Glaubens darin ruht, dass er Gehorchen gelernt hat. Er kennt eine Autorität, die über ihn bestimmt. Er hat gelernt, sich in allen Entscheidungen seines Lebens einem allerhöchsten Chef unterzuordnen und ihm die Entscheidungen zu überlassen.
Warum ist das für David eine große Freude? Weil er entdeckt hat – und das ist der Grund, warum er ein glaubender Mensch geworden ist – dass die größte Unsicherheit von unserem wackeligen Ich ausgeht. Ich werde hin und her getrieben von Ängsten und Sehnsüchten, von Wünschen und Launen. Deshalb gibt es so viele Fragen, so viel Zweifel und Unsicherheit. Daraus entsteht die Bangigkeit: Kann ich diesem Gott, den ich nicht kenne, mein Leben so einfach anvertrauen? Kann ich in meinen Entscheidungen einfach auf sein Wort vertrauen?
David sagt: Ja, im Leben kommt es erst zur großen Freude, zum Durchbruch der Freude, wenn man sich entschließt und sagt: Er soll mein Herr und mein Hirte sein. Ich will mich ihm ganz überlassen – dein Wille geschehe.
Wenn Sie heute Morgen hier im Gottesdienst sitzen, denke ich, dass auch Sie vor kniffligen Entscheidungen stehen. Vielleicht waren Sie lange unruhig und wussten nicht, wie Sie sich entscheiden sollen. Das gilt für uns alle: Erst wenn wir anfangen zu begreifen, dass Gehorchen auf die Stimme unseres Herrn uns ruhig macht und Frieden gibt, entsteht echte Freude.
Erst dann, wenn ich sagen kann: Ja, das ist nicht nach meinem Kopf entschieden, sondern nach seinem Willen – ich will ihm folgen, ich will ihn machen lassen. David fühlt sich deshalb so frei, weil er sagen kann: Ich werde mit meinem Leben nicht mehr hin und her geworfen. Ich bin nicht mehr tagtäglich meiner eigenen Entscheidung ausgeliefert, sondern ich stehe fest mit einer Kette an meinen Herrn gebunden.
Noch einmal: Das ist die Freude des Glaubens – mit einer Kette an den Herrn gebunden zu sein. Beim Hirtenbild wollen wir nicht nur das Süßliche herauslesen, sondern erkennen, dass das Tröstliche gerade an der Autorität unseres Herrn liegt, der über unser Leben die Richtung vorgibt.
Wir werden später das Lied singen: „Ich will mich nicht mehr selber führen, du sollst als Hirte mich regieren.“ Man kann lange mit Zweifeln und Fragen ringen, was man von Gott halten soll. Klarheit kommt erst, wenn man den Schritt wagt: Ich will ihm jetzt gehorchen und seinem Wort vertrauen.
Für diejenigen, die den Herrn als autoritäre und letztverbindliche Autorität über ihr Leben anerkennen, gilt: Mir wird nichts mangeln.
Zweiter Ratschlag: Das Hinterherlaufen nicht verschweigen
Das ist ja unfassbar! Gibt es denn auf der Welt ein Leben ohne Sorgen und ohne Entbehrungen? Schon die reichen Leute bei uns klagen darüber, wie schlecht die Zeiten sind. Was sollen dann erst wir sagen?
Uns wird zwar nichts mangeln, aber da ist dieser David, ein Zeuge des Glaubens, der viele Jahre seines Lebens nicht wusste, wie der morgige Tag aussehen würde. Verfolgt in der Wüste, lief er um sein Leben, während die Armee Sauls ihn jagte und aufspüren wollte. Dort in der Wüste hatte er nichts mehr: kein Wasser, kein Bett, keine Heimat mehr.
Und dann wurde ihm das groß: „Der Herr, mein Herr, ist da, und darum mangelt mir nichts.“ Er lernte, für die kleinen Gaben des täglichen Lebens zu danken, die er unverdient zugewiesen bekam. Manchmal ist unsere Sorge um die täglichen Dinge ja so ähnlich wie wenn wir nachts die Bettdecke hochziehen, weil uns oben um die Schulter kalt wird. Wir ziehen sie richtig hoch, aber dann gucken unten die Zehen unter der Decke raus und frieren. Es reicht nie – entweder oben oder unten. Irgendwo ist immer Mangel.
Man kann im Leben sorgen, und man möchte doch ohne Schwierigkeiten leben, aber mit allen Dingen treu versorgt sein. Doch wir haben immer irgendwo Mangel, irgendwo fehlt etwas. Und dann erzählt uns David aus seiner kargen Wüstenzeit: Als ich anfing, mein Leben unter diesem Herrn so ausschließlich auf sein Wort hin zu leben, hatte ich alles und konnte weitergeben.
Mose hat uns am Ende seines Lebens genauso bescheinigt, als ihm der Herr sagte: „An nichts hast du Mangel gehabt, selbst in 42 Jahren Wüstenwanderung.“ Und es haben Jünger Jesu ausgesprochen, als sie von Jesus gefragt wurden: Habt ihr je Mangel gehabt? Sie hatten doch alles verlassen, sie haben viel zurückgelassen, und da fehlte ihnen doch viel. Doch sie sagten: Nein, wir hatten alles in dir.
Das ist die große, frohe Botschaft, die ich Ihnen heute mitgeben will: die Botschaft des Evangeliums, dass unser Herr sagt, er gibt alles, was wir brauchen, denen, die ganz ihm trauen. Und manchmal denkt man, ist das nicht eine Vertröstung? Es ist nicht nur ein solches Wort, das da einer leichtfertig von der Kanzel sagt.
Paulus hat, wenn er dieses Wort seiner Gemeinde erklärt hat, immerhin noch hinzugefügt: Dieser Herr, der uns dies zuspricht, dass wir ihm auch die kleinen Dinge des täglichen Lebens getrost zum Sorgen überlassen können, hat ja sein eigenes Leben nicht verschont. Der Vater hat diesen Sohn hingegeben für uns. Wie sollte er uns nun in Jesus nicht alles schenken?
Und wenn unser Leben durch Dürrezeiten hindurchgeht und wenn er uns Dinge aus der Hand schlägt, dann will er in diesen Tagen der Entbehrung umso mehr diese Lücke ausfüllen und uns immer größer werden lassen. Es liegt alles daran, dass wir das merken: mit dem Gehorchen. Das war das Erste. Verschweigt das unbequeme Gehorchen nicht – darin liegt die große Freude.
Das andere ist jetzt: Verschweigt nicht, dass hinterherzulaufen auch dazugehört. Auch das passt uns ja gar nicht, hinterherzulaufen. Wir sind alle bestrebt, Nonkonformisten zu sein, also Leute, die sich nicht immer an die anderen so unterordnen, sondern jeder für sich sein Leben ganz nach eigenen Gesichtspunkten prägt.
Es ist uns auch wichtig, damit wir nicht einfach den Glauben unserer Eltern haben. Dann lehnen sich Kinder gegen ihre Eltern auf. Wir wollen immer das Selbstständige haben. Wir wollen erwachsen werden, auch in diesen Dingen. Aber nun sagt uns David: Er ist so dankbar, dass es im Glauben ums Hinterherlaufen geht.
David war nicht der Meinung, dass man sein Leben nach seinem Gutdünken gestalten kann, wie wir so selbstverständlich annehmen. David wusste um ein großes Ringen und Kämpfen. Warum eigentlich war er in dieses schwere Leben hineingeworfen worden? Er konnte doch nichts dazu, dass andere hinter ihm her waren. Er konnte das nicht von sich abschütteln.
Und ähnelt unser Leben nicht vielmehr dem Leben Davids? Was können wir denn schon gestalten? Wir werden doch geschoben, wir werden doch gezogen. Es ist doch, als ob man von anderen weitergetrieben wird. Wer hat denn das bestimmt? Und wer schreibt denn das für uns, wie morgen unser Leben aussieht?
Sind wir nicht oft bloß wie ein launisch hin- und hergeworfener Ball, hierhin und dorthin, Zufälle des Lebens? Was ist das, wenn einer sagt: Ich will mein Leben selbst gestalten? Und ich meine, es gibt in diesem Leben sehr viele grausame Zufälle, schwere Zufälle. Es gibt unverständliche Unglücksfälle. Warum treffen die uns? Wieso? Es gibt keine Erklärung dafür.
Menschen setzen uns zu. Warum? Wieso? Ich weiß es nicht. Darum war es David so wichtig, dass er die Spur seines Herrn in dieser wirren Welt finden wollte. Er hat nicht gemeint, dass überall in der Welt alles nach der Zulassung Gottes geschieht. In dieser Welt geschieht viel nach der Willkür der Finsternis.
Aber darum wollte er, dass in seinem Leben der Wille Gottes herrscht. Und ihm war wichtig: Wenn Menschen so mit mir spielen und ihre Laune an mir auslassen, dann möchte ich, dass das nicht mehr die Laune bleibt, sondern dass du darüber bestimmst. Und ich lege das in deine Hand hinein.
Darum war das bei David wichtig, wenn er spricht: „Du führst mich.“ Er sprach von der Führung nicht süßlich, so wie wir das manchmal tun, rückwirkend, wenn es uns passt, sagen wir: Das war vom Herrn, und wenn es uns nicht passt, sagen wir: Das war nicht vom Herrn.
David hat einfach täglich gefragt: Herr, hilf mir doch, deine Wege besser zu begreifen. Es wird so gefährlich, wenn ich nach meiner Laune meine Wege lenke. Ich möchte von dir geführt sein.
Und das war ihm dann wichtig, wenn er durch seine dürre Wüstenstrecke zog: „Du führst mich, Herr, und ich erkenne deine Wegführungen an, an den Wasserquellen, an denen du mir immer wieder Stärkungen bereitest.“
Das einzige Kennzeichen der Wege des Herrn ist nicht, dass wir sagen, es war schön gelaufen. Dafür ging manches auch schwer. Sondern dass von Stunde zu Stunde der Herr uns immer näherkommt und uns das ist jetzt ein Bild: Wasser gibt, das uns erquickt, erfrischt, aufrichtet, stark macht und ermutigt.
So liegen wir nicht am Boden, sondern können uns immer wieder aufrichten. Dann sind das die Wege des Herrn: Er führt uns an Gräber oder in Krankheitszeiten hinein, aber er gibt uns auch die Quellen, an denen wir uns wieder stärken und aufrichten können.
Zeugnis russischer Christen und der Trost im Glauben
Das bewegendste Zeugnis, das meiner Meinung nach von russischen Christen in ihrer schweren Leidenszeit verfasst wurde, ist der Brief, den vier Mädchen aus der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer geschrieben haben. Diesen Brief habe ich ihnen bereits vorgelesen. Darin drücken sie ihre Dankbarkeit für die schweren Zeiten und Stürme aus, die sie durchstehen müssen.
Es raubt einem den Atem, wie Menschen das sagen können – junge Menschen, denen die Freiheit genommen wurde und deren Leben zerstört ist, nur weil sie sich um das Wort Gottes versammelt haben. Dennoch schreiben sie voll Zuversicht.
Dann folgt die Erklärung: Sie verweisen auf das Wort im Psalm 84 und schreiben: „Wohl denen, die dich, Gott, für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln.“ Darin liegt die Freude unseres Glaubens, dass wir hinterherlaufen, wo er schon ging. Wenn diese Menschen durchs dürre Tal wandern, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen.
Plötzlich wird aus diesem ärgerlichen Wüstenland, an dem wir uns so den Durst geholt haben und wo wir schon verzweifeln wollten, ein Quellboden. Dort finden wir auf einmal Brunnen, von denen wir vorher nichts wussten.
Dann kommt etwas Unverständliches vor: Menschen sagen, selbst diese schwere Krankheitszeit möchten sie nicht missen, denn in ihr ist ihnen ihr Herr noch viel nähergekommen. Sie haben Brunnen gefunden, von denen sie vorher nichts wussten.
Nur auf den Wegen, die er uns führt, erleben wir das. „Er führt mich auf rechter Straße.“ Seine Führungen sind andere Führungen, als wir sie uns oft wünschen. Sie tragen oft das Zeichen des Kreuzes Jesu.
So führt er uns zu den Wasserquellen, zum frischen Wasser, und er erquickt meine Seele.
Dritter Ratschlag: Das Leiden nicht verschweigen
Noch ein letztes: Ich wollte, dass wir kein süßliches Hirtenbild haben. Dabei sollen wir das Gehorchen nicht verschweigen, auch nicht das Hintertreinlaufen. Und das Letzte, das eigentlich schon drin war, ist das Leiden. Auch das soll nicht verschwiegen werden.
In meinem Leben habe ich schon so viele große Gebetserhöhungen erlebt, besonders in äußeren Nöten. Man weiß manchmal nicht, ob man das richtig betont – auch jetzt so in einer Predigt. Aber es werden noch andere Predigten folgen. Lassen Sie mich heute einseitig sagen: Es ist so, dass unser Herr uns nicht aus allen Nöten herausführt. Es gehört zur Reifung unseres Glaubens, dass er uns in schwere Leiden hineinführen kann.
Es geht uns nicht anders als unserem Meister selbst. Denn unser Herr will uns auch aus dieser Welt wieder herauslösen. Er will uns entwöhnen, so wie eine Mutter ihr Kind beim Stillen entwöhnt. So will unser Herr uns von manchem entwöhnen, das uns zum Leben unentbehrlich erscheint.
Und so war es auch bei David. Er war ein Mann, der schwer durchmusste, und das verschweigt er in diesem Psalm nicht. Vielleicht hat dieser Psalm deshalb schon so viele Menschen aufgerichtet und getröstet. David spricht von Feinden, die nach seinem Leben trachten. Er spricht von einer Wanderung durchs finstere Tal.
Man weiß nicht, wo man den nächsten Schritt hinsetzt, ob da nicht eine Felsspalte ist, in die man stürzt. Oder man hält die Hand vor den Kopf, damit man nicht gegen einen Felsvorsprung läuft. Man sieht nichts – und das erzählt ein Glaubender.
Wir hatten eigentlich dieses Märchen erfunden, als ob Christen immer alles klar vor sich sehen würden. Es gibt aber viel, was in unserem Leben dunkel ist und was wir nicht begreifen. Und solange wir leben, begreifen wir nicht alles.
Nun kommt das Wichtigste: David sagt bei diesem Leben, bei diesem Gehen durchs finstere Tal, diesem gefährlichen Marschieren ohne Blick auf den nächsten Tritt, und obschon – und obschon, das sage ich, wenn ich zehn Pfennig verloren habe, sage ich: „Und obschon, es ist ja nichts Wichtiges. Ich werde den Tag nicht nach zehn Pfennig absuchen. Lass doch, daran hängt nicht das Leben.“
Das sagt David bei dem schweren Gehen durchs Dunkle, durch die Nacht – und obschon.
Was macht das schon? Das ist so ungeheuer. Wenn ich das einem Menschen zusprechen wollte, der verzweifelt ist, weil er nicht mehr weiß, wie sein Leben weitergeht, und obschon.
Warum denn, David, kannst du so sprechen? Du, Herr, bist ja bei mir. Ich habe seine Nähe.
Und dann überschlägt David es hier fast, wenn er davon erzählt, wie ihm angesichts der Feinde ein Tisch gedeckt wird. Wie der Herr, wie ein Wirt, zu uns kommt und die Gaben auf den Tisch stellt.
Ich meine manchmal, dass wir von solch einer Predigt, von solch einem Wort Gottes weggehen und dann zu diesen Menschen laufen, die wir ja kennen. Mit ihnen teilen wir noch einmal das, was der Herr uns selbst heute Morgen ausgeteilt hat: diese Gaben, diesen Trunk der Erquickung, dieses Erleben.
Und obschon – daran hängt es doch nicht. Du bist ja bei mir.
Das Sterben im Licht des guten Hirten
Ich suche immer Beispiele, an denen ich Ihnen verdeutlichen kann, wie das aussieht. Dies möchte ich Ihnen am Sterben erklären.
Ich kenne kein Lied in unserem Gesangbuch, das mir so ans Herz gewachsen ist, wenn es um das Grauen des Todes geht, wie das Lied von Philipp Friedrich Hiller. Es setzt auch bei Jesus, dem guten Hirten, an. Es ist ein sehr unbekanntes Sterbelied.
Es gibt Menschen, die leben so unbekümmert, fast wie im Rausch. Sie können ihr Bett verkaufen und haben danach vielleicht noch einen Kater. Im Großen und Ganzen tut ihnen das nicht weh. Sie gehen über die Dinge des Lebens hinweg. Das meine ich nicht. Es gibt Menschen, die das Grauen des Todes noch nie erfahren haben und nicht wissen, was dieses finstere, dunkle Tal letztlich bedeutet.
Doch Philipp Friedrich Hiller hat gedichtet, dass auch hier der gute Hirte uns das Sterben erleichtert. Der Hirte hat durch das Kreuz Gestorbenheit überwunden und Frieden sowie Heil erworben. Bei seinen Schafen bedeutet Sterben ein Entschlafen. Das berührt sie nicht mehr, es tut ihnen nicht mehr weh und trifft sie nicht mehr.
Er sagt: Die sterben ja eigentlich gar nicht, sie gehen nur hin und liegen wie Streiter nach den Kriegen, ohne Angst vor ewigem Jammer.
Gehen Sie in Ihre Kammer und begeben Sie sich ruhig auf das frohe Wiederleben. Das ist die Veränderung, die wir in der Welt schaffen können: dass wir die Nacht nicht mehr als Nacht empfinden, nicht einmal das Sterben mehr als Sterben bezeichnen können – dort, wo der Hirte da ist.
Auf göttliches Erbarmen, sagt Hiller, in des Erlösers Armen erwählt zu Gottes Erben, lässt er sie sanft hinsterben. O Jesu, deine Gnade, mach, dass kein Sterben schade!
Nun nehmen sie, was ihnen als dunkle Nacht so schwer erscheint, und suchen dort, wo sie in der Nacht die Stimme des Hirten hören. Dann verstehen sie, was es bedeutet, einer zu sein, der gehorchen kann, und einer, der ihm hinterherlaufen will.
Wie tröstlich ist es, dass dieser Herr sagt: "Mir nach, mir nach, ich bin voran, da ist der Weg schon gebahnt, und dir kann nichts mehr geschehen."
Sie haben ein frohes, reiches Christenleben nur, wenn sie das Gehorchen lernen, wenn sie das Hinterherlaufen lernen und wenn sie das mit dem Leiden begriffen haben.
Amen.
Schlussgebet und Segen
Und beten: Du, treuer Hirte, wir danken dir, dass du alle Leiden dieser Welt selbst durchlitten hast und alles kennst, was uns jetzt bewegt – Schmerzen und Angst, ja selbst die Todesnot, Verlassenheit durch Menschen, Einsamkeit und Enttäuschung.
Herr, du bist der, der uns vorangeht, und wir danken dir, dass wir das jetzt auch so in unser Leben übertragen dürfen. Wir wissen, dass du uns überall ganz nahekommst. Deshalb bitten wir dich: Nimm alles weg, was uns von dir trennt.
Oft können wir gar nicht zu dir treten, weil so viel Schuld zwischen uns und dir liegt. Doch dann bist du der gute Hirte mit den Nägelmalen, mit dem Zeichen, dass du dein Leben für uns gegeben hast. So finden wir jetzt und heute Vergebung und können uns ganz an deiner Nähe freuen.
Wir wollen auch für alle bitten, die in unserer Nähe leben und so schwer leiden. Du kannst ihnen nahekommen. Gebrauche unser Zeugnis und unser Reden, wenn wir zu diesen Menschen kommen. Dann bekräftige du unser Wort, so dass Menschen an dich glauben, dir gehorsam werden, dir nachfolgen und auch diesen großen Trost erfahren.
Herr, unser Wort ist nichts, wenn du nicht durch dein Wort an Menschen wirkst und zu ihnen redest.
Lasst uns gemeinsam beten:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name,
dein Reich komme,
dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Herr, segne uns und behüte uns.
Herr, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig.
Herr, erhebe dein Angesicht auf uns und gib uns deinen Frieden.